Einverständnis mit der Schöpfung
Anhang: 3. Kennzeichnung neuartiger Lebensmittel (Novel Food)
3.1 Warum ist Kennzeichnung ein ethisches Problem?
In den vergangenen Jahren hat sich die Diskussion um die Verantwortbarkeit gentechnischer Eingriffe von der Ebene der Grundsatzdebatten stärker auf diejenige konkreter Einzelfragen verlagert. Zu diesen gehört die Kennzeichnung genetisch veränderter Lebensmittel. Warum aber wird diese eigentlich zu einem ethischen Problem?
Bei der Beantwortung dieser Frage lassen sich drei Aspekte unterscheiden: die potentielle Gefährdung der Verbraucherinnen und Verbraucher, deren Selbstbestimmungsrecht (Autonomie) und die rechtliche Regelung (Novel Food-Verordnung) im Verhältnis zu den an sie anzulegenden ethischen Maßstäben.
a) Seit ihrer Entstehung in den sechziger Jahren beabsichtigt die Verbraucherbewegung mit ihren Forderungen nach Kennzeichnung von Lebensmitteln hinsichtlich der Inhalts- und Zusatzstoffe eine Verbesserung des Schutzes der Verbraucherinnen und Verbraucher vor möglichen gesundheitlichen Schädigungen. Wie in allen anderen Bereichen menschlichen Handelns und zumal in denjenigen der Anwendung neuer Technologien gilt auch für genetisch veränderte Lebensmittel als erste ethische Forderung, das menschliche Leben und die menschliche Gesundheit zu fördern und zu schützen. Gesundheitsrelevante Inhalts- und Zusatzstoffe müssen daher als solche kenntlich gemacht werden.
b) Hiermit hängt eng die Forderung zusammen, die Autonomie der Verbraucherinnen und Verbraucher zu achten und zu schützen. Eine selbständige verantwortliche Entscheidung kann letztlich aber nur treffen, wer hinreichend informiert ist. Das läßt sich z.B. klarerweise an dem inzwischen unbestrittenen Recht der Vegetarierinnen und Vegetarier erkennen, nicht gegen ihren Willen (und ohne ihr Wissen) zum Verzehr tierischer Erzeugnisse gezwungen werden zu dürfen. Analoges gilt für Personen, die aus ökologischen, politischen, religiösen oder anderweitigen Gründen Entscheidungen für oder gegen den Kauf von Nahrungsmitteln treffen. - Im übrigen läßt sich vermutlich auch ein moralisches Recht der Anbieterinnen und Anbieter konstruieren, mit der Kennzeichnung der von ihnen angebotenen Lebensmittel für diese zu werben.
c) An die am 27. Januar 1997 verabschiedete Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (Novel Food-Verordnung) lassen sich mithin sowohl die genannten Fragen des Schutzes vor gesundheitlichen Schädigungen und des Schutzes der Autonomie der Verbraucherinnen und Verbraucher als auch die Frage nach den mit der faktischen Durchführung der für die Kennzeichnung vorausgesetzten Nachweisverfahren sowie die nach der Reichweite der Kennzeichnungspflicht richten.
3.2 Die Novel Food-Verordnung
Die Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten sieht eine Kennzeichnungspflicht für derartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten vor. Als 'neuartig' gelten nach Art. 1.2 Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die in der Europäischen Gemeinschaft bisher noch nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwandt wurden. Hierzu gehören insbesondere gentechnisch veränderte Lebensmittel und -zutaten. Nicht in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen Lebensmittelzusatzstoffe und Aromen zur Verwendung in Lebensmitteln. Der Nachweis der Neuartigkeit geschieht "durch eine wissenschaftliche Beurteilung auf der Grundlage einer angemessenen Analyse der vorhandenen Daten".
Die Kennzeichnung muß u.a. die "Merkmale oder Eigenschaften, sowie das Verfahren, mit dem sie erzielt wurden, angeben". Dazu gehört auch die Auskunft über "vorhandene genetisch veränderte Organismen". Die Verordnung sieht damit eine positive Kennzeichnung vor. Zugleich soll es möglich sein, Lebensmittel, die nicht "neuartig" sind, entsprechend zu kennzeichnen (vgl. Novel Food-Verordnung, Erwägungsgrund 10).
Derzeit wird eine dreistufige Praxis für die Kennzeichnung von gentechnisch verändertem Material geübt. Die Kennzeichnung ist gebunden an die gesetzliche Zulassung eines Materials, an vorgeschaltete Verfahren, die dessen Unbedenklichkeit für Mensch und Umwelt attestieren, und die Pflicht zur eigentlichen Kennzeichnung, wenn wissenschaftlich ein Unterschied zu konventionellen Lebensmitteln besteht und nachgewiesen werden kann. Nach diesem Modus müßte eine nur relativ geringe Anzahl von Produkten deklariert werden, da gentechnisch hergestelltes Material, das sich von herkömmlichem Material nicht unterscheiden läßt, von der Regelung ausgenommen ist. Der Test dazu betrifft gleichermaßen das Transgen wie dessen Produkt (s.o. S. 114ff.) Er wird am Endprodukt durchgeführt.
Nach der Novel Food-Verordnung ist ein Handelsprodukt daher kennzeichnungspflichtig,
- wenn es direkt aus gentechnisch verändertem Material besteht oder hergestellt wird (Tomaten, Tomatenmark etc.),
- wenn sein Nährwert durch das gentechnisch veränderte Material beeinflußt wird oder
- wenn Komponenten, die durch die gentechnische Veränderung entstehen, nachweisbar sind.
In der Novel Food-Verordnung bisher allerdings nicht festgelegt sind:
a) bis zu welcher Verarbeitungsstufe eine Kennzeichnung durchzuführen ist, wenn gentechnisch hergestellte Rohstoffe verwendet werden, und
b) auf welche Weise eine Kennzeichnung erfolgen soll.
Eine alles umfassende durchgängige Kennzeichnung, etwa mit dem Etikett "Gentechnik" ist nicht sinnvoll, da sie wenig aufschlußreich ist. Für die Beurteilungs- und Kennzeichnungssicherheit wäre (in strittigen Fällen) daher eine produktbegleitende Analyse und nicht nur eine Analyse des Endprodukts wünschenswert. Zweckmäßig mag eine Kombination von verfahrens- und produktspezifischer Kennzeichnung sein, z.B. in der Zutatenliste, die sich in Grenzfällen an bisherigem Recht orientiert, wie es beispielsweise für bestrahlte Zutaten gilt. Diese sind bei einem Anteil von weniger als 1 % nicht kennzeichnungspflichtig.
Als Alternative zu der von der Novel Food-Verordnung vorgeschriebenen Kennzeichnungspraxis wird auch die Möglichkeit diskutiert, gentechnik-freie Nahrung durch ein rechtlich geschütztes Emblem zu kennzeichnen. Sie setzte allerdings voraus, daß das Fehlen gentechnisch beeinflußter Zusätze garantiert werden kann. Da davon auszugehen ist, daß in Ländern, die Gentechnik gezielt einsetzen, bald ein erheblicher Anteil der wichtigsten Grundnahrungsmittel gentechnisch verändert sein wird - nicht zuletzt, da einige Rohstoffe (z.B. Getreide und Soja) sich als Zusätze in einer großen Anzahl (ca. 20.000 bis 30.000) von Lebensmitteln finden -, entsteht absehbar die Schwierigkeit, gentechnik-freie Nahrungsmittel zu produzieren.
3.3 Probleme der Kennzeichnung
Die Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel ist streng genommen nur sinnvoll, wenn die an ihnen vorgenommene gentechnische Veränderung auch überprüfbar ist. Am Endprodukt ist dies jedoch nicht immer möglich. Angesichts der Substanzvielfalt und der sehr unterschiedlichen Nutzung transgenen Materials gibt es bislang (und wohl auch in absehbarer Zukunft) kein einheitliches Nachweisverfahren und daher auch kein allgemein einsetzbares, einheitliches Kontrollverfahren. Darüber hinaus sind verfügbare Tests vielfach noch nicht routinemäßig etabliert, ja derzeit existieren für viele Fälle noch nicht einmal in wünschenswertem Umfang systematische Untersuchungen über die Durchführbarkeit solcher Tests (z.B. für den Nachweis der Verwendung gentechnisch veränderten Materials im Glucosesirup aus Maisstärke).
In Rohstoffen oder wenig verarbeiteten Lebens- und Futtermitteln ist der Nachweis eines Transgens in der Regel gut möglich und damit läßt sich auch eine Kennzeichnung relativ einfach durchführen (s.o. S. 114ff). Gentechnisch veränderte Produkte werden jedoch nur in seltenen Fällen direkt für den Verzehr, als Nahrungs- oder Genußmittel, sondern in erheblichem Maße als Zusätze für die Lebensmittelherstellung verarbeitet. Solch stark verarbeitete Lebensmittel, die gentechnisch modifiziertes Material enthalten, schaffen im allgemeinen Probleme für einen Nachweis, da dort das Erbgut chemisch oder physikalisch weitgehend verändert oder gar zerstört sein kann. In solchen Fällen wäre eine produktionsbegleitende Analyse zweckmäßig, vollends wenn qualitative Veränderungen der Zusammensetzung vorliegen. Schwierig ist ein Nachweisverfahren schließlich auch dann, wenn sich Lebensmittel aus verschiedenartigen Zutaten und Zusatzstoffen in stark unterschiedlichen Mengen zusammensetzen.
Zusammengenommen bedeutet dies, daß die Verschiedenartigkeit der gentechnischen Eingriffe sowie die Verschiedenheit der Verwendung transgenen Materials eine erhebliche Grauzone für die Kennzeichnung schaffen. Die Forderung nach einer umfassenden und lückenlosen Kennzeichnung stößt daher in der Praxis auf Grenzen. Es bleibt weiterhin erforderlich, nach Alternativen und Kompromissen zu suchen.
Ein hier zu behandelndes Problem ergibt sich daraus, daß die Zusammensetzung und Eigenschaft der Lebensmittel mit wissenschaftlichen Mitteln nachgewiesen sein muß. Wo verläuft die Grenze der wissenschaftlichen Nachweisbarkeit der neuartigen Lebensmittelzutaten? Wie kann transparent gemacht werden, daß es hier eine Grenze gibt? Es ist zu fragen, ob es nicht eine moralische Pflicht gibt, die verwendeten gentechnisch veränderten Zutaten auch anzugeben, wenn sie im Produkt nicht wissenschaftlich nachweisbar sind.
Eine hiermit ebenfalls angesprochene Frage ist, inwiefern (auch im Sinne der Verordnung) Verbraucherinnen und Verbraucher über das Produktionsverfahren informiert werden sollten, bei dem möglicherweise gentechnisch veränderte Zusatzstoffe bei der Produktion eingesetzt werden, die beim Produkt selbst aber nicht mehr nachgewiesen werden können. Und noch einen Schritt weiter geht die Forderung, daß der ganze Produktionsweg unabhängig davon, was am Ende im Produkt enthalten ist, kenntlich zu machen ist, das Produkt also nicht in seiner Endstufe, sondern von seinem Ursprung her zu kennzeichnen sei. Dies würde eine weitergehende Unterscheidung von "neuartigen" und "herkömmlichen" Produkten bedeuten.
Auch Futtermittel sollten gekennzeichnet werden, um Landwirtinnen und Landwirten ebenfalls eine Informations- und Entscheidungsmöglichkeit zu eröffnen. Es ist daher zu begrüßen, daß die Europäische Kommission anstrebt, zukünftig bereits bei der Genehmigung auf Inverkehrbringung gentechnisch veränderter Organismen eine Kennzeichnungspflicht einzuführen.
3.4 Ethische Schlußfolgerungen
Das generelle Ziel der Kennzeichnung sollte sein, Verbraucherinnen und Verbraucher so zu informieren, daß sie sich entscheiden können, ob sie das betreffende Produkt kaufen wollen oder nicht, auch wenn sie selbst die Überprüfung der Qualität (durch Geschmack, Aussehen etc.) oder gar der Produktionsbedingungen nur sehr begrenzt nachvollziehen können. Es soll ihnen möglich sein, sich aufgrund der Information im Vergleich mit herkömmlichen Lebensmitteln zu entscheiden. Dem sucht die Verordnung im Prinzip zu entsprechen.
Verbraucherinnen und Verbraucher sollen durch die Information in die Lage gesetzt werden, die Qualität ("Zusammensetzung, Nährwert oder nutritive Wirkungen, Verwendungszweck des Lebensmittels" - Novel Food-Verordnung, Artikel 8) des betreffenden Lebensmittels als für sie akzeptabel oder nicht akzeptabel beurteilen zu können. Die Kennzeichnung soll ihnen ermöglichen, nicht nur die Folgen für ihre Gesundheit (z.B. Allergien), sondern auch ökonomische, ökologische und schöpfungsethische Konsequenzen in die Abschätzung einbeziehen zu können.
Darüber hinaus soll die Kennzeichnung Verbraucherinnen und Verbraucher informieren, wenn sie es mit einem gegenüber "konventionellen" Lebensmitteln "neuartigen" Produkt zu tun haben. Anders als es die Verordnung vorsieht, sollten die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht nur über die Neuartigkeit des Produkts, sondern auch über die Methoden seiner Herstellung informiert werden, auch wenn sie selbst (beim Verbrauch) keinen Unterschied gegenüber herkömmlichen Lebensmitteln feststellen können. Sie haben ein Recht darauf zu wissen, was sie essen - verglichen mit dem derzeitigen Wissensstand über "konventionelle" Lebensmittel. Deshalb weist die Verordnung ausdrücklich auf die Möglichkeit hin, Lebensmittel als "nicht neuartig" zu kennzeichnen (vgl. Novel Food-Verordnung, Erwägungsgrund 10).
Die Verordnung fordert auch die Kennzeichnung derjenigen "vorhandenen Stoffe, die in bestehenden gleichwertigen Lebensmitteln nicht vorhanden sind und gegen die ethische Vorbehalte bestehen" (Novel Food-Verordnung, Artikel 8 c). Es bleibt möglich, daß im Sinne der Verordnung wiederum genetisch veränderte Organismen unter diese Stoffe fallen. Zu begrüßen ist aber, daß die erwähnten "ethischen Bedenken" nicht definiert sind. Die verabschiedete Verordnung geht damit über die Empfehlung der Beratergruppe für ethische Fragen der Biotechnologie bei der Europäischen Kommission vom 5. Mai 1995 hinaus, die sich darauf beschränkt, die Auswahl von Lebensmitteln beispielsweise nach kulturellen oder religiösen Erwägungen durch zusätzliche Informationen über Datenbanken oder Informationsnetze außerhalb der Kennzeichnung des betreffenden gentechnisch veränderten Produkts zu ermöglichen.