Historikerin sieht in Rückgang der Kirchenbindung eine „Zeitenwende“
Eine kürzlich vorgelegte Studie hat den Kirchen einen dramatisch voranschreitenden Mitgliederverlust prognostiziert. Eine Tagung in Berlin fragte, was das bedeutet. Die Entwicklung sei für die Gesellschaft dramatisch, sagte die Historikerin Richter.
Berlin (epd). Die Historikerin Hedwig Richter warnt davor, die gesellschaftlichen Folgen des Rückgangs der Kirchenbindung in Deutschland zu unterschätzen. Ähnlich wie beim Klimawandel sei dies eine „schleichende Zeitenwende“, sagte die Professorin an der Universität der Bundeswehr in München am Montag bei einer Tagung zur aktuellen Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung in Berlin. Auch wenn der fortschreitende Rückgang der Kirchenmitglieder kaum noch überrasche, müsse allen klar sein, wie dramatisch dies sei. „Es verändert die Gesellschaft komplett“, sagte Richter.
Die Historikerin verwies auf ein Detailergebnis der jüngsten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung, wonach sich fast die Hälfte der Kirchenmitglieder in Ehrenämtern engagiert. Bei den Konfessionslosen ist es demnach knapp ein Drittel. Dies sei auch für die Demokratie relevant, sagte Richter. Menschen in der Kirche seien eher bereit, Verantwortung zu übernehmen. Der Mangel an dieser Bereitschaft ist nach ihrer Einschätzung derzeit eine zentrale Schwachstelle der Demokratie. Menschen zögen sich aus der Gestaltung zurück, hätten gleichzeitig aber hohe Erwartungen an die Politik.
Seit 1972 hat die evangelische Kirche etwa alle zehn Jahre die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung beauftragt. Die religionssoziologische Studie soll Auskunft über Religiosität, religiöse Praxis und Einstellungen zur Kirche der Menschen in Deutschland geben. Für die kürzlich vorgestellte sechste Auflage der Studie wurden mehr als 5.000 Menschen befragt. Ein zentraler Befund der Studie ist, dass nicht nur die Kirchenbindung, sondern auch die Religiosität in der Gesellschaft deutlich zurückgeht.
Derzeit ist noch eine knappe Mehrheit der Deutschen christlich-konfessionell gebunden: 52 Prozent gehören der evangelischen, katholischen, orthodoxen oder einer Freikirche an. Nach derzeitigem Trend könnte laut Studie der Anteil der christlich-konfessionell Gebundenen schon im nächsten Jahr unter 50 Prozent sinken. Die Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung kommt zu dem Schluss, dass die vor fünf Jahren durch eine andere Studie prognostizierte Halbierung der Mitgliederzahl in der evangelischen Kirche bis 2060 bereits in den 2040er Jahren erreicht sein dürfte.
Die stellvertretende Leiterin des Katholischen Büros in Berlin, Uta Losem, sagte bei der Tagung, die Menschen und auch die Politik hätten dennoch hohe Erwartungen an die Kirchen. Sie verwies dabei auf das Ergebnis der Studie, wonach eine Mehrheit der Kirchenmitglieder und der Gesamtbevölkerung gesellschaftliche Äußerungen der Kirchen eher begrüßt.
Die Bevollmächtigte der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in Berlin, Anne Gidion, sagte, sie nehme dabei allerdings auch starke Spannungen wahr. Diejenigen, die sich eine institutionell starke Kirche durchaus wünschten und ihr nahe stünden, unterstützten auf der anderen Seite nicht unbedingt die Äußerungen zur Flüchtlings- oder Klimapolitik, sondern würden sogar deswegen austreten.
Der Beauftragte für Kirchen und Religionsgemeinschaften der SPD im nordrhein-westfälischen Landtag, Sven Wolf, hält die Kirchen trotz Mitgliederverlusts nach eigenen Worten noch immer für „einen wichtigen Berater“ im politischen Betrieb. Kirchen würden dabei anders als Lobbyverbände wahrgenommen, weil sie zu vielen Themen wichtige Meinungen präsentierten. Eine Aufgabe der Kirche sieht Wolf darin, „zu zeigen, dass Demokratie Probleme lösen kann“. Der demokratische Grundkonsens sei in Gefahr, sagte er. Die Politik brauche da auch Hilfe der Kirchen.