Die evangelischen Kommunitäten
8. Andersartige geistliche Gemeinschaften
Zu Beginn dieses Berichtes (2.2 - 3) wurde darauf hingewiesen, daß es neben den Kommunitäten im engeren Sinn eine große Zahl andersartiger geistlicher Gemeinschaften gibt. Nur wenn man diese Vielfalt in ihrer ganzen Bandbreite in den Blick faßt, kann ein Bild von der geistlichen Erneuerungsbewegung entstehen, das der tatsächlichen Situation der Gegenwart entspricht. Daß sich dieser Bericht nahezu ausschließlich auf die Kommunitäten beschränkt, hat rein pragmatischen Grund: Die Beauftragung des Berichterstatters bezieht sich auf die zölibatären Gemeinschaften, zu deren Wahrnehmung in der Kirche und zu deren Integration in den Lebensraum der Kirche ein besonderer "visitatorischer" Dienst in der Tat besonders nötig ist. In diesem Schlußteil soll aber wenigstens noch ein Ausblick auf die andersartigen Gemeinschaften gegeben werden. Die Vielfalt ist hier noch größer als bei den Kommunitäten. Zur Strukturierung empfiehlt es sich, zwischen Gemeinschaften, deren Mitglieder ständig miteinander leben, und solchen, die Christen, die ein je eigenes bürgerliches Leben führen, einen Zusammenhalt geben und damit zugleich eine Hilfe zu einer Gestaltung dieses Lebens als christliches Leben, zu unterscheiden. 13
8.1
Unter den Lebensgemeinschaften sind zunächst die "Familien-Kommunitäten" hervorzuheben. Sie geben eine christliche Antwort auf ein Problem, das in der allgemeinen Befindlichkeit unserer Gesellschaft immer dringlicher wird: Wie kann es im Zusammenhang der tiefgreifenden Individualisierung des Lebensentwurfs und der Lebenspraxis von immer mehr Menschen und damit zugleich der Pluralisierung von Lebensformen Strukturen neuer Gemeinschaftlichkeit geben? Da christliches Leben grundsätzlich ohne Formen von Gemeinschaft nicht gelebt werden kann, da aber die Struktur normalen kirchengemeindlichen Lebens an jener allgemeinen Problematik vollauf teilhat, ist in der Kirche die Frage nach neuen Gemeinschaftsformen besonders brisant. Die Familienkommunitäten wollen so etwas wie Experimente christlicher Großfamilien sein, also einer sozialen Lebensform vergangener Zeiten neue und neuartige Chancen geben. Die Großfamilie hatte ihren ursprünglichen Lebensort im ländlichen Bereich. Es ist daher nicht von ungefähr, daß die meisten Familienkommunitäten sich auf dem Lande, als Hof- bzw. Dorfgemeinschaften angesiedelt haben. Die Kommunität Gnadenthal hat, wie gesagt, dieses Selbstverständnis als christliche Dorfgemeinschaft gezielt ausgearbeitet: Lebenswelt und Arbeitswelt fallen hier zusammen. Erst später ist den Mitgliedern dieser Kommunität bewußt geworden, daß sie damit dem ältesten Modell christlichen Klosterlebens entsprechen- mit dem entscheidenden Unterschied, daß hier Familien mit Zölibatären zusammenleben. Und die Familien sind in Gnadenthal (wie so auch in Hennersdorf und Volkenroda) ein wesentliches Element der Kommunität als ganzer. Gleiches gilt für die "Lebensgemeinschaft für die Einheit der Christen" im Schloß Craheim, Stadtlauringen, in der sich eine Familiengemeinschaft mit der Kommunität der Jesu-Weg-Schwestern zu einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zusammengeschlossen hat.
Ähnlich, wenn auch in der ersten Aufbauphase noch nicht klar strukturiert, lebt die Familienkommunität Siloah in Neufrankenroda mit einem offenen Kreis von Mitarbeitenden zusammen. Ob sie sich diesem Namen entsprechend weiterentwickeln wird, so daß wie in Gnadenthal die Familien eine Einheit für sich bleiben, um die herum sich kommunitäre Gruppen von Einzelnen bilden, oder ob aus dem gegenwärtigen Anfangsstadium einmal die Form einer "Basisgemeinde" werden wird, ist noch offen.
"Basisgemeinden" sind Lebensgemeinschaften von Familien, Ehepaaren und Einzelnen, die als solche eine christliche Gemeinde sein wollen. Die in Wulfshagenerhütten (bei Kiel) ist ein lebendiges Beispiel für eine solche Gemeinde, in der - wie in Gnadenthal - Lebenswelt und Arbeitswelt eines sind. Sie lebt auf einem großen Hofgelände in ländlicher Umgebung. Dagegen ist die Diakonische Basisgemeinde in Hamburg ein entsprechendes Experiment inmitten einer Großstadt. Hier üben einige Mitglieder ihren Beruf (noch) auswärts aus. Das Ziel ist aber die diakonische Arbeitsgemeinschaft aller in einer Lebensgemeinschaft, in der immer Asyl suchende Ausländer und Nichtseßhafte zeitweise mitleben können.
Eine Kommunität von Familien, Ehepaaren und Singles ist die Communität Hermannsburg. Einige Mitglieder üben ihren Beruf auswärts aus. Das kommunitäre Leben mit einer ordensmäßigen Regel und entsprechender Lebenspraxis vereint alle zu einer verbindlichen Lebensgemeinschaft.
Ähnlicher Art ist die Gemeinschaft "Christen in der Offensive e.V." in Reichelsheim (früherer Name: "Offensive junger Christen" - das Kürzel OJC gilt noch immer). Hier leben Ehepaare mit und ohne Kinder sowie Alleinstehende in mehreren Hausgemeinschaften als eine Kommunität mit einer sogenannten "Jahresmannschaft" von jungen Frauen und Männern, die auf der Suche nach ihrer Identität und nach ihrem Lebensweg sind, zusammen. In diesem Zusammenhang unterhält die Kommunität ein "Institut für Jugend und Gesellschaft", ein "Seminar für Biblische Seelsorge" sowie ein Jugend-Begegnungszentrum mit einem im Aufbau befindlichen Museum über das jüdische Leben in der Stadt Reichelsheim.
Anderer Art ist der Laurentiuskonvent in Wethen (Hessen). Hier leben Hausgemeinschaften von Großfamilien in einem Verbund als "Basisgemeinschaft" zusammen. Einerseits geht es um den "Versuch eines intensiven Gruppenprozesses" im Sinne einer Schalom-Gemeinschaftskultur; andererseits verbindet alle Mitglieder "die Bereitschaft, sich gesellschaftlich, politisch und kirchlich im Sinne des biblischen Begriffs Schalom (Frieden) zu engagieren. 4 % aller Einkommen fließen in einen gemeinsamen Verfügungsfonds, mit dem Projekte in der 2/3-Welt oder auch in der eigenen Gesellschaft unterstützt werden."14 Die Schalom-Kultur im gemeinsamen Leben und das politisch-gesellschaftliche Schalom-Engagement werden als Einheit verstanden und gelebt. Von den Kommunitäten ist diese Gemeinschaft dadurch unterschieden, daß es in Wethen kein gemeinsames Tagzeitengebet gibt, sondern nur ein Schalom-Gebet zum Wochenschluß.
8.2
Brüder- und Schwesternschaften, die nicht in einer Lebensgemeinschaft zusammenleben, gibt es viele. Oft sind es Gemeinschaften ohne Regel und feste Organisationsform. Festere Form haben die Gemeinschaften, in denen sich Pfarrer, Prediger oder Lehrer zusammengeschlossen haben, - etwa die Ahldener Bruderschaft, die das geistliche Rüstzentrum in Krelingen (gegründet 1971 von Pfarrer Heinrich Kemner) trägt; die Bahnauer Bruderschaft (1948 neugegründet von den Pfarrern Max Fischer und Johannes Wieder); die Pfarrer-Gebetsbruderschaft (unter diesem Namen seit 1945); der Freudenstädter Kreis (seit 1927); die "Bruderschaft vom Kreuz", eine Gemeinschaft vor allem von Lehrern, die seit 1969 eng mit der "Bruderschaft vom gemeinsamen Leben" verbunden ist; die "Kleinen Brüder vom Kreuz" (seit 1977 in Hermannsburg); die ökumenisch orientierte St. Jakobusbruderschaft (seit 1964). Besonderen Charakter hat der Johanniter-Orden (offizieller Name: Balley Brandenburg des Ritterlichen Ordens St. Johannis vom Spital zu Jerusalem"), der sich auf den gleichnamigen Ritterorden von 1113 zurückführt. Ebenfalls auf mittelalterliche Gründung geht das (ehemals zisterziensische) Kloster Amelungsborn zurück, in dem heute ein evangelisch-lutherischer Abt mit einigen Konventualen regelmäßig einen Kreis von Männern verschiedener Berufe als "Familiaritas" des Klosters zu Einkehrtagungen versammelt.
Eine sehr viel festere Form haben einige große Bruder- und Schwesternschaften, die für das Leben der evangelischen Kirche eine wichtige Bedeutung gewonnen haben. Hier ist zuerst die Evangelische Michaelsbruderschaft zu nennen, die 1931 gegründet worden ist (Stiftungsurkunde) und seit 1937 nach einer Regel lebt, die das geistliche Leben des einzelnen Bruders und ihr Zusammenleben in regionalen Konventen regelt. Ein liturgisch reicher Wort- und Eucharistiegottesdienst sowie ein Tagzeitengebet, das nach gregorianischer Tradition gemeinsam gesungen wird, aber auch in den Familien der Brüder in einer einfacheren Form gebetet werden kann, sind die Mitte ihres Lebens. Die Bruderschaft will selbst Kirche sein und verpflichtet die Brüder zu aktivem Dienst in ihren Kirchengemeinden. Geistliche Übungen und regelmäßiges Fasten gehören ebenso zu ihrer Spiritualität wie die Bereitschaft, politische Verantwortung zu übernehmen. Die Mitte der Bruderschaft und das Herz ihres geistlichen Lebens ist das Kloster Kirchberg in Württemberg. Die evangelische Kirche verdankt weitgehend der Michaelsbruderschaft die Wieder- und Neugewinnung liturgischer "Katholizität". Mit ihr eng verbunden ist der "Berneuchener Dienst", eine Gemeinschaft von Frauen und Männern in weniger verbindlicher Ordnung, aber gleicher Zielrichtung. Seit einigen Jahren gibt eseine neue Gemeinschaft von Frauen und Männern mit einer der Michaelsbruderschaft entsprechenden Regel: die "Gemeinschaft St. Michael". In Berlin lebt in enger Verbindung zur Michaelsbruderschaft die "Evangelische Gabriels-Gilde" (seit 1958), deren Mitte das "Haus der Stille" in Wannsee ist.
Im norddeutschen Raum ist ferner die "Ansverus-Kommunität" und der "Ordo Pacis" zu nennen: Die erstere ist eine Gemeinschaft von Frauen und Männern mit eigener geistlicher Ordnung und Liturgie (Ansverus-Psalter!), die in Aumühle bei Hamburg ein Einkehrhaus als ihre Mitte und zugleich als Ort vieler kirchlicher Tagungen hat. Der Ordo Pacis ist eine Schwesternschaft alleinstehender wie auch verheirateter Frauen mit einer Regel, nach der die drei "evangelischen Räte" als "geistige Grundhaltungen" in einer bürgerlichen Lebensform gelebt werden können, und mit einer Spiritualität, in der der in Gottesdienst und Gebet empfangene Friede Christi durch persönlichen Einsatz jeder Schwester in die Welt getragen werden soll. Ihre Mitte ist ein Haus in Fleestedt bei Hamburg, in dem eine kleine Gruppe von Mitgliedern als "Cella St. Hildegard" kommunitär lebt, in einer streng kontemplativen Lebensform, an deren Praxis Gäste - auch in regelmäßig gehaltenen Retraiten - teilnehmen können.