Nachhaltig durch das Kirchenjahr

Materialien für Andachten und Gottesdienste zu den Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030

Weihnachten – Nachhaltigkeitsziel 5

Bildmeditation zum Thema: Der andere Josef

Bildmeditation

Lukas 2,6-14:

Und als sie dort waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte.

Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. Und der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr.

Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. Und das habt zum Zeichen: ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen:

Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.

Bildmeditation

Weihnachten: Wie eine große rote Decke breitet sich die Liebe Gottes über der Welt aus. Verbindet Mann, Frau und Kind, Mensch und Tier, Arbeit und Anbetung. Leuchtend warmes Rot füllt die Bildmitte, spiegelt sanft den Goldglanz des Himmels, fließt herunter bis zur Erde, wird als Widerschein im Gebälk sichtbar, will über den Bildrand hinaus, sprengt schier den Rahmen. Conrad nutzt seine Meisterschaft in der Malerei: Die seit alters nicht nur in den Weihnachtsikonen des Ostens übliche Einbettung Marias in rote Decken lässt er durch die Verdichtung der Szene und das Wissen um die Eigenwirkung der Farbe zu einem „Fest in Rot“ werden. 

Auf den zweiten Blick entdeckt man viel Vertrautes. Von rechts oben, dem „Einfallswinkel Gottes“, verkündet der Engel des Herrn die Frohe Botschaft über den Hirtenfeldern von Bethlehem: „Fürchtet euch nicht. Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Das Schriftband ist leer, er kannte seinen Text so gut wie damals die Betrachter. Ein Hirte schaut zu ihm hinauf, wird geblendet von der „Klarheit des Herrn“, die den Engel in der Nacht umleuchtet. 

Ochs und Esel, die man nach biblischer Bauernweisheit besser nicht in ein Joch spannt (5. Mose 22, 10), fressen einander freundlich zugeneigt aus einer Krippe. Ein Bild des paradiesischen Friedens, der in der Heiligen Nacht auch die Kreatur umgreift. Eine weitere Deutung der in den Evangelien nicht erwähnten Tiere bezieht sich auf Jesaja 1, 3: „Ein Ochse kennt seinen Herrn, und ein Esel die Krippe seines Herrn …“ Das heißt, sowohl Juden als auch Heiden lassen sich zum Heil der Welt einladen, der Ochse steht als reines Tier für das Judentum, der Esel als unreines für das Heidentum. Das strohgedeckte Dach des Stalles, dessen gewagte Konstruktion Vorder- und Hintergrund, helle und dunkle Zonen des Bildes überspannt, zeigt leichte Schäden. Es ist noch nicht die malerische Ruine der Renaissancegemälde, weist aber ebenso auf den brüchigen Zustand der Welt hin, in die der Retter geboren wird. 

Ein mittelalterlicher Flechtzaun trennt Innen und Außen. Die Maler dieser Zeit verlegen die Weihnachtsszene häufig in einen Garten. Maria, die Mutter Kirche und damit auch die Braut Christi, wird als ein „verschlossener Garten“ im Sinne des Hohen Liedes Salomos gesehen (Hhl. 4,12). Ebenso wird hierin die Wiedereröffnung des Paradiesgartens gefeiert, wie es im Weihnachtslied heißt: „Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis, der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr und Preis.“ (EG 27,6). 

Maria ist wie in der „Verkündigung“ ganz die feine Frau, vornehm in Kleidung und Haltung. Doch in diesem Bild zeigt sie ungewöhnlich viel Gesicht. Das golddurchwirkte Plaid mit weißer Spitze ist leicht über ihren Kopf nach hinten gerutscht. Sie wird persönlich, zeigt Gefühl. Die junge Mutter umarmt liebevoll ihr Kind, neigt sich ihm zu, lässt sich küssen. Ob das einer Frau ihres Standes nach höfischen Regeln gemäß war? Schließlich gab es Ammen für die Wickelkinder. Und wenn sie sich als Dame körperlich zärtlich geben durfte, dann gewiss nicht vor aller Augen. Conrad stellt als einer der ersten in der deutschen Malerei Maria als umarmende Mutter dar. 

Und schließlich Josef. Der „Wildunger Josef“! So hat ihn bis dahin noch niemand gemalt. Groß im Vordergrund, dem Betrachter am nächsten positioniert, kniet er vor seinem Feuerchen und kocht Suppe für Mutter und Kind. Wir kennen ihn anders. Müde, mit geschlossenen Augen, am Rand hockend, träumend. Oder als alten Mann, gebeugt mit Stock, die Laterne in der Hand wie ein Nachtwächter. Aus dogmatischen Gründen sollte er wohl niemals so aussehen, als ob er der leibliche Vater des Kindes auch nur hätte sein können. Schon 30 Jahre vor Conrad entstand die Bildidee „Josef als Nährvater des Herrn“. Er holt Feuerholz und Wasser, kocht einen Brei, wie zum Beispiel auf dem Netzer Altar. Doch er bleibt dabei ein Greis. Bei szenischen Weihnachtsspielen, die damals in Mode kommen, ist Josef eine Witzfigur. Der Tölpel vom Dorf, der Kapaun, eine „Josefsehe“ ist keine. Conrad ändert diese Rolle. Sein Josef ist gewiss nicht mehr jung, doch gleichwohl aktiv und beweglich. Eben noch hat er auf dem Schemel am Bett gesessen, schon kniet er am Boden. Nicht um zu beten, sondern um zu arbeiten. Er schürt mit einem Stock, bläst in der Glut, dass die Flammen herausschlagen. Konzentriert und anmutig ist er bei der Sache. Sein Kochgeschirr, der eiserne Dreifuß mit gedrehtem Holzgriff, ist nicht von gestern und auch nicht das Billigste. Sorgfältig hat er den Kochlöffel auf dem Schüsselrand abgelegt, den Krug mit Wasser gegen Flugasche geschützt. 

Vom Schwung seiner Bewegung ließ Conrad das Obergewand zur Seite fallen, um uns einen Blick auf Josefs Kleidung frei zu geben: Lederstiefeletten, ein guter gelber Rock mit Ärmelaufschlag und vier Zierknöpfen, enge blaue Hosen, die eigentlich für etwas jüngere Herren gedacht sind, ein langer Gürtel mit silberner Spitze und Ösen, leger geschlungen. Nein, das ist nicht mehr der komische Dummkopf, sondern ein Mitglied der städtischen Gesellschaft. Gewiss kein Großbürger, wie der Maler sie in der reichen Hansestadt Dortmund zu Gesicht bekam, aber vielleicht ein selbstbewusster Ackerbürger oder ein Handwerker. Wie das Evangelium vom Vater Jesu weiß: „Ist der nicht des Zimmermanns Sohn?“

Conrad lässt den arbeitenden Josef in einem völlig neuen Licht erscheinen. 

Im Mittelalter wurde körperliche Arbeit als Strafe Gottes verstanden. Als Fluch, der über die Menschheit verhängt war seit dem Sündenfall Adams im Paradies: „Verflucht sei der Acker um deinetwillen. Dornen und Disteln soll er dir tragen. Im Schweiße deines Angesichtes sollst du dein Brot essen …“ In der sich damals ausbreitenden Stadtgesellschaft hat Arbeit einen anderen Stellenwert bekommen. „Stadtluft macht frei“, sagte man damals oder „Arbeit adelt“. Man wusste um die Dynamik, die davon ausging, dass jemand seinen Stand und seine Freiheit erwerben, sein Leben verbessern konnte unabhängig von der Geburt, allein durch Fleiß, Begabung und im Rahmen der gesellschaftlichen Organisation. Der Mensch tritt in den Vordergrund mit dem, was er tut und leistet. Bürger entdecken in diesen Jahren auch die Vorteile, in einem stabilen Familienverband zu leben und zu arbeiten. Dabei sind starre Fixierungen auf traditionelle Geschlechterrollen eher hinderlich. Frauen beginnen an der handwerklichen Produktion teilzunehmen, Männer öffnen sich für Familienarbeit. Haben wir im Wildunger Josef einen Zeugen für die „Familisierung von Arbeit und Leben“, die die Historikerin H. Wunder im späten Mittelalter beobachtet? 

Frommer Bürgersinn lässt eine stolze Stadtpfarrkirche über die Fachwerkgiebel einer kleinen Waldeckischen Stadt hinauswachsen. In ihr trifft sich die Gemeinde nicht nur zum Gottesdienst. Auch der Magistrat tagt in der Halle, die Zünfte, die Gilden und Bruderschaften. Es geht um eigene Interessen, es geht aber auch ums Gemeinwohl, um die Armenpflege zum Beispiel, um die Versorgung der Witwen und Waisen. In Wildungen arbeitet man auf diesem Feld seit Jahrzehnten mit den Johannitern zusammen. Es sind Männer, die Alte und Kranke in ihrem Hospital pflegen und bewirten, Speisen und Medikamente für sie zubereiten. Ob sie sich neben den Bürgern, mit den Bürgern zusammen wiedererkennen in der Figur des „rührigen“ Josef? Gewiss, was Josef tut, bleibt ein Dienst. Doch er dient nicht wie ein Knecht. Man bedauert ihn nicht, man verspottet ihn nicht, man beargwöhnt ihn nicht wie diejenigen, die Macht und hohe Ämter mit tiefstapelnden Titeln eines „obersten Dieners“ kaschieren. Josefs Dienst ist elementar. Sein Feuer wärmt und leuchtet. Er braucht keinen goldenen Nimbus. Sein „blauer Heiligenschein“ lässt ihn an Heiligkeit der Mutter Gottes wenig nachstehen und bildet ein schönes Pendant zu ihr auf der anderen Seite der großen roten Decke. 

Nachträglich hat Conrad – aus kompositorischen Gründen – einen architektonisch kühnen Holzpfeiler in das Bild eingetragen. Und so vielleicht unfreiwillig dafür gesorgt, dass Josefs Suppentopf eine direkte Verbindung zum Himmel erfährt. 

Der Theologe Karl Barth schrieb in den 1930er-Jahren in der Zeitschrift „Junge Kirche“ über Josef: „Ich persönlich liebe den heiligen Josef sehr. So sehr ich einer Entwicklung der Mariologie abgeneigt bin, so sehr bin ich der Josefologie zugeneigt, denn in meinen Augen hat Josef gegenüber Christus die Rolle gespielt, die die Kirche übernehmen sollte. Ich weiß, dass die römische Kirche es vorzieht, ihre Rolle mit der glorreicheren der Maria zu vergleichen. Aber der Vergleich trügt. Die Kirche kann den Erlöser nicht gebären, aber sie kann und muss ihm dienen mit demütigem und diskretem Eifer. Und das war genau die Rolle, die Josef spielte, der sich stets im Hintergrund hielt und allen Ruhm Jesus überließ.“ Zum Wildunger Altarbild selbst schreibt Karl Barth in einem Brief: „Wie sehr schön in der Tat das Bild zeige, was man in der Funktion dieses Mannes und also auch von der Kirche zu denken habe.“


Autor
Helmut Wöllenstein, Propst im Sprengel Marburg der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck und Verfasser des Buches „Von Angesicht zu Angesicht: Der Wildunger Altar des Conrad von Soest“, 2003 erschienen beim Ev. Medienverband in Kassel.

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