Beteiligung auf Zeit

Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, Juli 2019

4. Kirche bei Gelegenheit und Gemeinde auf Zeit als Leitbegriffe einer zeitgenössischen Kirchentheorie

Kirche ist um der Kommunikation des Evangeliums willen da, dies ist ihre Verheißung und zugleich ihre Aufgabe. Unter diesem Vorzeichen ist sie in ihrer Gestalt veränderlich. Als zeitgenössische Kirche ist sie darauf aus, religiöse Praxis so zu gestalten, dass die Subjekte christlichen Glauben erfahren und ihn als freie Lebensäußerung zum Ausdruck bringen können. Zeitgenossenschaft von Kirche entwickelt sich dort, wo das heutige Christentum produktive Gegenwartskräfte christlicher Religion aufzuspüren vermag und Formen ausbildet, in denen es lebensweltlich zugänglich wird. Wird dabei theologisch die Unverfügbarkeit geistgewirkter Erfahrung und Gottesnähe konsequent vertreten, lässt sich die Versammlung im Namen Christi – kurz: Gemeinde – als Ereignis bestimmen. Dieser Ereignischarakter kann nun auf organisatorischer Ebene sowohl situative, momenthafte, sogar beiläufige Gemeindeformen bezeichnen, als auch solche von hoher Dauer und Kontinuität. Er stellt nicht vor die Alternative, das eine gegen das andere aufwerten oder herabstufen zu müssen.Religion, in einem weiten Sinne als Transzendenzoffenheit verstanden, wird heute in hohem Maße als individuelle Religiosität gelebt. Als Unterbrechung des Alltags – »Die kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung«[[13]]– ist gelebte Religion häufig auf besondere lebensgeschichtliche Anlässe und auf signifikante Orte bezogen, von denen religiöses Erleben angeregt wird. Sie hat einen situativen Kontext und äußert sich sporadisch. Christinnen und Christen hierzulande sind vielfach Gelegenheitskirchgänger, punktuell ansprechbar von einzelnen, etwa kirchenmusikalischen Veranstaltungen, religiös empfänglich in biographischen Übergängen oder zu festzeitlichen Ereignissen. Wo eine anlassbezogene, individualisierte Religiosität in der kirchlichen Praxis ihren Raum und ihre Gestalt gewinnt, dort entsteht »Kirche bei Gelegenheit« (Michael Nüchtern). Sie bildet diejenige Form, in der die Mehrzahl evangelischer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen an der Kirche teilhaben und ihr Christsein leben.

Nun hat Religion neben dieser subjektiven auch eine gemeinschaftliche Dimension: »Ist die Religion einmal, so muss sie notwendig auch gesellig sein«[14]. Die gemeinschaftliche Sozialgestalt des christlichen Glaubens ist die Gemeinde, wobei diese traditionell mit der örtlichen Kirchengemeinde assoziiert wird. Diese ist in ihrer gegenwärtigen Gestalt und ihrem heutigen Verständnis nach ein spezifisch modernes Phänomen. Derzeit wächst jedoch die Aufmerksamkeit dafür, dass sich – neben der auf institutionelle Dauer angelegten parochialen Kirchengemeinde, aber durchaus auch innerhalb von ihr – temporäre und fluide Formen von Gemeinde ausbilden. In regionalen Chorprojekten, in KonfiCamps einer Jugendkirche oder anderen gemeinschaftlichen Formen kirchlicher Praxis erleben und gestalten die Beteiligten »Gemeinde auf Zeit«. Sie basiert nicht auf der Logik einer formalisierten Mitgliedschaft, sondern beruht darauf, dass sich Menschen zeitlich begrenzt aufgrund einer gemeinsamen Motivation zusammenfinden. Auch und gerade die Formen einer »Gemeinde auf Zeit« stehen für die Art und Weise, wie sich Menschen heute religiös vergemeinschaften, und vermitteln Erfahrungen religiöser Zugehörigkeit und kirchlicher Verbundenheit.

Die beiden Stichworte der kirchentheoretischen Diskussion sind auch hilfreich, um den Charakter, den Stellenwert und die Bandbreite kirchlicher Arbeit im Feld des Tourismus wahrzunehmen und genauer zu bestimmen:

Zwischen den beiden Polen einer Kirche bei Gelegenheit und einer »Gemeinde auf Zeit« spannt sich die Palette vielfältiger Angebote einer Tourismuskirche aus. Die kirchliche Arbeit in diesem Feld ist ein Tätigkeitsbereich unter besonderen Vorzeichen und zugleich eine Praxis, die mit vielen anderen kirchlichen Handlungsbereichen vernetzt ist und in der sich gesamtkirchliche Entwicklungen widerspiegeln.

Die folgende Skizze zur gesellschaftlichen Verortung und kulturellen Wahrnehmung des Tourismus  setzt  bei  einigen  Grundgegebenheiten an. Deren elementarste  ist: Menschen sind von jeher gereist. Als gesellschaftliches Feld indes ist der Tourismus ein historisch junges Phänomen, das die gegenwärtige Lebenswelt der Moderne in dreifacher Hinsicht prägt: Erstens gehört die Erholungszeit als ein Rechtsanspruch konstitutiv zur Verfassung der modernen Arbeitsgesellschaft; erst die geregelte Urlaubszeit ermöglicht Tourismus. Mit der Etablierung des Massentourismus seit dem 19. Jahrhundert wird dieser, zweitens, zu einem der größten Wirtschaftszweige unserer Zeit; man kann Tourismus neben der Gesundheitsindustrie sogar als »Leitökonomie«[15] verstehen, insofern sich hier wirtschaftliche Interessen und Lebenssinndeutung miteinander verknüpfen. Drittens bilden das Reisen und der Urlaub ein zentrales Moment der Lebenserfahrung; die Ferien strukturieren neben den Festen, die zudem häufig mit Ferienzeiten verschränkt sind, den kollektiven und individuellen Jahreskalender. Kurzum: Der Tourismus hat ökonomisch wie kulturell ebenso wie im Blick auf das Lebensgefühl der Moderne eine hervorgehobene Bedeutung, die Urlaubswochen sind – wie es das geflügelte Wort, zugleich doppelsinnig und präzise zum Ausdruck bringt – »die kostbarsten Wochen des Jahres«.

Dass sich der Tourismus in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker ausgeweitet hat, ist durchaus auch kritisch wahrgenommen worden. Es sind insbesondere drei Vorbehalte, die angeführt werden: Zum einen erscheint die Praxis des Tourismus als »… eine einzige Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit.«[16], in der Menschen zeitweise von den Ordnungen des Alltags suspendiert und die Zwänge des »realen Lebens« kompensiert werden, ohne diese substantiell zu verändern. Dabei wird, so der zweite Vorbehalt, auch die vermeintlich freie, selbstbestimmte Zeit des Urlaubs durch kommerzielle Interessen überformt und unterliegt dem Kalkül von Preis und Leistung, mithin der Marktlogik; man »erkauft« sich Urlaubserlebnisse. Drittens schließlich ist der Massentourismus Teil und Antriebsfeder einer Lebensweise, die in hohem Maße die Umwelt schädigt und die soziale Welt der Einheimischen für touristische Zwecke stört. Alle drei Aspekte sind hinreichend dokumentiert und werden immer wieder – differenziert – erörtert. Auch sie qualifizieren den Begriff Tourismus. Während dieser also negative Aspekte zugeschrieben bekommt, wird dem Reisen hingegen ein hoher kultureller und spiritueller Wert beigemessen. Dabei lässt sich jedoch nüchtern betrachtet beides nicht voneinander trennen.

Längst hat sich die Tourismuskirchenarbeit als ein spezifisches Profil kirchlicher Praxis etabliert; auch etliche Kirchengemeinden haben ihre Arbeit und ihre Angebote für touristische Belange geöffnet. Dazu beigetragen hat auch, dass sich ein traditionelles (Selbst)Verständnis von Gemeinde, dem untergründig ein duales Muster eingeschrieben ist, sukzessive verändert. Ein solches Muster ist noch immer prägend, wo dem normativen Ideal einer dauerhaften, in den Alltag eines Gemeinwesens eingebetteten und aktiven örtlichen Gemeinde das Bild einer touristischen Religiosität gegenübergestellt wird, die flüchtig ist und unverbindlich bleibt. Der Dual von einheimischer Gemeinde und Religion im Vorübergehen hat sich jedoch in drei Hinsichten relativiert, sodass heute die Verwandtschaft und die Verbindungslinien (auch die Konkurrenzen) von kirchengemeindlicher und touristischer Praxis bewusster werden:

  1. Neben dem öffentlichen Christentum ist die Ausübung von Religion in der Moderne – dies gilt für das kirchliche und das individuelle Christentum gleichermaßen – in der Sphäre der Freizeit angesiedelt. Auch die parochiale Gemeindearbeit in ihrem wohnweltlichen Radius ist von Seiten der sich Beteiligenden eine Form der Freizeitbeschäftigung.  Örtliche Gemeinde und touristische  Kirche folgen in dieser Hinsicht den gleichen Prinzipien, sie unterscheiden sich lediglich graduell. Ein Pfingstausflug mit Besuch der Bergkapelle legt sich womöglich genauso nahe wie die Teilnahme am Pfingstgottesdienst in der heimischen Kirchengemeinde mit anschließendem Gemeindeessen. Beide Angebote können korrespondieren oder konkurrieren, weil sie, eines wie das andere, zur Freizeitgestaltung gehören.
     
  2. Auch das örtliche Leben der Kirchengemeinde ist nicht nur durch vereinskirchliche Formen mit festen Kreisen geprägt, sondern auch durch Formen einer Kirche bei Gelegenheit, etwa das weite Feld der Kasualien, und durch Projekte, die jeweils Gemeinde auf Zeit erlebbar machen. Auch explizit touristische Formate gehören zu klassischen Angeboten von Kirchengemeinden: die Ausflugsfahrt des Seniorinnenkreises ebenso wie Konfirmanden oder Familienfreizeiten. Die sozialen Gestaltungsweisen des kirchengemeindlich organisierten Christentums ähneln denjenigen einer Tourismuskirche, auch wenn sich diese in anderen religiösen Erfahrungsräumen bewegt.
     
  3. In der gegenwärtigen Praxis des Tourismus treten kulturelle Entwicklungen besonders prägnant hervor, die für die heutige religiöse Praxis insgesamt bestimmend sind: Religion wird von Menschen dort gesucht und erfahrbar, wo sie mit einem besonderen, sinnfälligen Erlebnis verbunden wird. Dies mag in der Osternacht als Gemeindegottesdienst sein, in der kirchlichen Trauung in einer Hochzeitskapelle oder beim Reisesegen in einer Pilgergruppe. Religion wird als Gemeinschaftserfahrung in Events spürbar, in denen Menschen emotional involviert und leiblich beteiligt sind. Dies gilt für das gemeindliche Adventssingen in der gutgefüllten Kirche, für den Kirchentag oder eine kirchlich-touristische Großveranstaltung bei der Bundesgartenschau. Religion ist als individualisierte Religiosität auf das Subjekt bezogen und wird im lebensgeschichtlichen Kontext relevant, sie artikuliert sich biographisch. Dies zeigt sich im Erzählcafé der Kirchengemeinde ebenso wie in der klösterlichen Retraite zur persönlichen Neuorientierung.
     
  4. Eine genaue Verhältnisbestimmung gehört derzeit zu den wichtigen Herausforderungen, um die Potentiale im Tourismus aus Sicht der Kirche recht zu erkennen und zu nutzen. Dazu gehört auch das Thema Nachhaltigkeit im Blick auf das Reisen selbst und im Blick auf das Engagement von Kirche in diesem Feld. Welche (Konsumenten)Haltung will Kirche mit eigenen Angeboten in diesem Segment befördern, welche nicht? Welche Ziele und globalen Herausforderungen stehen dahinter? Wie kann Reisen und Beherbergen, wie kann christliche Gastgeberschaft und Weggemeinschaft als dynamischer Impuls für eine mobiler werdende Gesellschaft dementsprechend nachhaltig und theologisch klug verantwortet werden? Wie können Gemeinden ihre Gestaltungs- und Deutungskompetenz im zunehmend kommerzialisierten Feld des Spirituellen Tourismus bewahren und weiterentwickeln?

Tourismusarbeit der Kirche ist als eine Konzeption für Menschen zu verstehen, die »unterwegs« sind. Sie ist darauf aus, die religionsaffinen Motive und Momente des Tourismus in ihrer kirchlichen Praxis mit- und auszugestalten – sie ist mithin eine Kirche für Menschen, die auch religiös unterwegs sind. Mit dem ortsgemeindlichen Christentum kann sie in unterschiedlicher Weise in Beziehung stehen:

  1. Tourismusarbeit in der Ortsgemeinde ist sie, wo die kirchengemeindliche Praxis für touristische Formen geöffnet wird. Klassisches Beispiel sind die Offenen Kirchen.
     
  2. Tourismusarbeit mit der Ortsgemeinde ist sie, wenn die kirchengemeindliche Praxis mit touristischen Aktivitäten in der Region vernetzt ist. Ein geläufiges Beispiel sind gemeindeübergreifende und überschreitende Angebote in einem Urlaubsgebiet.
     
  3. Tourismusarbeit neben der Ortsgemeinde ist sie, wo unabhängig von ortsgemeindlichen Bezügen eigene kirchliche Formen entwickelt werden; so etwa als kirchliches Angebot auf einem Kreuzfahrtschiff oder auf der Bundesgartenschau.

Die Möglichkeiten einer Konzeption Tourismuskirche hängt von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Dies gilt auch für ihre Grenzen. Es gilt stets zu fragen: Was ist unter bestimmten Bedingungen möglich und sinnvoll, was nicht? Zu einer entsprechenden Antwort gehören immer auch konzeptionelle Entscheidungen, wo und wie sich Kirche als gastfreundliche Kirche und als Kirche unterwegs gestalten lässt. Das bedeutet auch, Spannungen wahrzunehmen und unterschiedliche Bedürfnisse des Christseins zur Geltung zu bringen: zwischen etablierter und situativer Gemeinde, zwischen kontinuierlicher und sporadischer Religiosität, zwischen kristallinen und fluiden Formen gelebter Kirchlichkeit.
 

Fußnoten:

13 Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz, 1977, 150.

14 Friedrich Schleiermacher, Über die Religion, Berlin, 1799, 177.

15 Detlef Lienau, Art.: Tourismus, in: Handbuch Praktische Theologie, hrsg. v. Wilhelm Gräb u. Birgit Weyel, Gütersloh, 2007, 419–430, hier 422.

16 Hans Magnus Enzensberger, Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, www.merkur-zeitschrift.de/hans- magnus-enzensberger-vergebliche-brandung-der-ferne/ (aufgerufen am 10.05.2018), ursprl. in: Merkur Nr. 126, Jg. 1958.

 

 

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