Beteiligung auf Zeit

Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, Juli 2019

Typ E: Unterbrechungen als Vertiefung

Die Konzeption Tourismuskirche in konkreten Beispielen

  • Klöster auf Zeit

    Klöster sind besondere Orte. Sie sind steingewordenes Zeugnis einer Lebens- und Glaubensform, die fremd und anziehend zugleich ist. Sie tragen in sich das Versprechen nach einer besonderen Erfahrung mit Gott, die sich in Ruhe, Innehalten und Meditation erschließt. »Das  Kloster für das Volk« in Maulbronn war im Bereich der württembergischen Landeskirche der Versuch, in einem Zisterzienserkloster, das seit Jahrhunderten auch das evangelische Seminar beherbergt, ein Angebot für Sinnsuchende und religiös/spirituell Interessierte zu etablieren. Eine Pfarrstelle wurde befristet zur Verfügung gestellt, um in den Räumen des Klosters – neben der Kirchengemeinde und der Schule – ein geistliches Angebot aufzubauen. Geblieben ist von diesem Impuls eine Gruppe von Kirchenbetreuer*innen, die den unzähligen Besuchern und Besucherinnen des Weltkulturerbes die Kirche und ihre Botschaft nahebringt. Die Kirchengemeinde und das Seminar verantworten ein tägliches Mittagsgebet. Die »Klostergruppe« verwaltet sich selbst und arbeitet mit wechselnden Referenten von außen. Deutlich wurde in den Jahren der Erprobung: Die Sehnsucht nach spirituellen Orten ist groß. Demgegenüber hinkt die Realisierung hinterher.

    Ein neuer Versuch, die Klöster in ihrer Geschichte und in ihrer Botschaft heutigen Menschen nahezubringen, setzt deshalb weniger an einzelnen Orten als vielmehr an einer Gesamtkonzeption aller evangelischer Klosterorte an. Das Heft der Landeskirche »Spuren. Evangelische Klosterorte in Württemberg« – gemeinsam herausgegeben mit »Vermögen und Bau« des Landes Baden-Württemberg – versammelt Orte und Themen rund ums Kloster und lädt zum Besuch ein.

    Gabriele Wulz www.elk-wue.de/leben/geistliche-orte/kloster-auf-zeit

  • Alles hinter sich lassen – Seereise zwischen Faszination und Flucht

    Es gibt viele Gründe für eine Seereise: Man muss sich um nichts kümmern, wird kulinarisch versorgt, kulturell  unterhalten und nähert sich entspannt den fantastischsten Orten der Welt. Schön langsam in Zeiten der Sehnsucht nach Entschleunigung. Ohne das Hotelzimmer zu wechseln, kommt man rum in der Welt und kann dabei an Bord wie an Land viel lernen. Reisen bildet. Reisen macht Freude. Kreuzfahrt-Touristen bereisen jeden Winkel der Welt, Kreuzfahrten bieten globales Reisen mit lokaler Geborgenheit. Makrokosmos und Mikrokosmos. Welt und Dorf. Auf den kleineren Schiffen kennt bald jeder jeden, man begegnet sich morgens, mittags, abends – beim Frühstück, im Restaurant, am Pool, an Deck, in den Fluren und bei Landausflügen. Geborgenheit ist für ältere Menschen ein wichtiger Faktor, sich für diese Reiseform zu entscheiden. Doch Geborgenheit ist es nicht allein, es gibt noch das andere: Die betörende Weite des Meeres. Das Meer ist faszinierend. Wer sich an ihm freut, freut sich am Spiel der Farben zu unterschiedlichen Tageszeiten und Witterungen: Mal ist es ruhig, mal wild, mal düster-grau, mal silbrig flimmernd, mal strahlend blau oder leuchtend Türkis. Manche Menschen können stundenlang an Deck sitzen, in die Weite schauen, den Sonnenuntergang betrachten. Auf das Meer schauen lässt uns endliche Menschen etwas von der Unendlichkeit des Kosmos erahnen. Wir erleben das Meer aber auch rau und unbändig, tückisch und voller Gefahren. Riffe, Strömungen und Stürme können sich zu Bedrohungen auswachsen.

    Sind die Gäste erst mal an Bord ihres Schiffes und schippern neuen Zielen entgegen, beginnt das Nichtstun als Gegenkraft zu ihrer sonst oft streng verplanten Alltagswelt. Aus der Urlauber-Perspektive scheint das Meer ein Ort tiefen Glücks und grenzenloser Freiheit zu sein. Das reicht als Begründung für eine Schiffsreise: Die Faszination des Meeres mit allen Sinnen erleben, die Freude an guter Unterhaltung genießen, Bordgemeinschaft pflegen. 

    Eines Tages bekomme ich eine Ahnung, dass es noch eine andere Begründung gibt. Ich spreche mit der Schiffsärztin, sie erzählt von sich. Ein halbes Jahr sei sie an Land in ihrer eigenen Praxis, die andere Hälfte des Jahres freue sie sich auf den Dienst an Bord. Hier könne sie alles hinter sich lassen. Von Flucht sprach sie: vor einem durch zunehmende Bürokratisierung erschwerten Berufsalltag. Beim Thema ‚Flucht‘ werden meine Ohren groß. Einer ihrer Kollegen hatte mir mal von seiner Ausbildung für die Arbeit an Bord erzählt. Man habe ihn gefragt: ›Wovor flüchtest Du?‹ Insider gehen davon aus, dass viele, die aufs Schiff gehen, Gründe haben zu flüchten: privat, beruflich, gesellschaftlich. Mein Bild rundet sich ab. Zu Faszination und Freude gesellt sich Flucht als Begründung für das zeitweise Leben auf einem Schiff. Dem habe ich versucht, in meinen Gesprächen nachzuspüren. Einmal für dieses Thema sensibilisiert sind mir auf den Schiffsreisen viele »Menschen auf der Flucht« begegnet: Gäste wie Mitarbeiter. Die Gründe dafür haben viele Gesichter. Menschen fliehen vor ihren Sorgen, vor ihrer Trauer, vor Einsamkeit und Leere, vor beruflichen Belastungen, vor ihren persönlichen Realitäten in der Gesellschaft, vor Problemen in der Familie, vor ihren gescheiterten Beziehungen, aber auch vor Weihnachten. Zu vielen der genannten Gründe könnte ich viele wahre Geschichten erzählen.

    Katharina Plehn-Martins, aus: Dies., »Segen auf See«, Patmos-Verlag 2017. Gekürzt und überarbeitet von der Autorin. www.ekd.de/Urlaubsseelsorge

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