Beteiligung auf Zeit
Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, Juli 2019
1. Zur Einführung
Das Engagement der EKD im Handlungsfeld Freizeit und Tourismus wurde 2008 vom damaligen Rat der EKD neu geregelt, indem er den Vorstand eines Netzwerkes Kirche in Freizeit und Tourismus der EKD und einen Beauftragten als dessen Vorsitzenden berufen hatte. Er reagierte damit auf die besondere Bedeutung dieses missionarischen Arbeitsfeldes für die zukünftige Gestalt von Kirche in einem zunehmend säkularen Umfeld. Diese Bedeutung wurde verbunden mit aktuellen ekklesiologischen Fragestellungen nach der Pluralität von Gemeindeformen und moderner Kirchlichkeit. Konträrer diskutiert und auch nicht abschließend gelöst war die Frage nach der strukturellen Bedeutung dieses Arbeitsfeldes: Denn nicht zuletzt das Reformationsjubiläum 2017 hat verdeutlicht, dass es sehr viele Menschen gibt, die situativ, anlassbezogen und überraschungsbereit sich mit Neugier geistlichen Themen der evangelischen Kirche zuwenden. Die Auswertung der vielen positiven Erfahrungen des Reformationsjubiläums hat dabei Anregungen gegeben, wie diese ebenso große wie unscharf zu konturierende Zielgruppe jenseits der Hochverbundenen und diesseits der Desinteressierten anzusprechen ist. Die von den Landeskirchen oder anderen großen Institutionen erarbeiteten Rückblicke beschreiben Aktivitäten, die sehr einladend und gewinnend sind, gerade weil sie anlässlich des Jubiläums auf eine »Beteiligung auf Zeit« ausgerichtet waren.
Das Reformationsjubiläum mit seinen besonderen Erfahrungen hat natürlich das alles nicht neu erfunden; es gibt eine lange und tief reflektierte Tradition von praktisch theologischen Überlegungen zu dieser Form kirchlicher Arbeit als »Kirche bei Gele genheit«, (so der Titel von Michael Nüchterns programmatischer Schrift aus dem Jahr 1991). Die Erfahrungen im Reformationsjubiläum korrespondieren mit Einsichten, die schon seit langem an anderen, speziellen Handlungsfeldern der Kirche gemacht worden sind, die ebenfalls keine dauerhafte, regelmäßige und wiederkehrende Betei ligung der Menschen als Ziel haben können. Die Tourismuskirchenarbeit ist ebenso wie die Citykirchenarbeit und das Reformationsjubiläum angewiesen auf situative Partizipation und anlassbezogene Beteiligung. Aber auch manche Bildungseinrich tung, manches Gemeindeangebot und nicht wenige Beratungsleistungen der Kirche setzen auf situative und anlassbezogene Begegnung mit Menschen, die sich nicht als Kerngemeinde im klassischen Sinne verstehen lassen.
Im Folgenden sollen daher – nach einigen grundlegenden Reflexionen über die ek klesiologische Konzeption, die hinter dieser »Beteiligung auf Zeit« steht – einzelne Aspekte der Tourismuskirchenarbeit vertieft werden, um diese dann in einer Vielzahl von Beispielen zu konkretisieren; anhand einzelner Typen von Aktivitäten lassen sich bestimmte Einsichten zu Fragen der befristeten Beteiligung darstellen.
Neben den ekklesiologischen Fragestellungen stellt der sogenannte »spirituelle Tou rismus« gerade in seiner Vieldeutigkeit eine zunehmende Handlungschance für Kirche dar. Wenn der Rede von Tourismuskirchenarbeit ein weit gefasster Begriff zugrunde gelegt und also beim Wort Tourismus nicht nur an Sonne, Sand und Meer gedacht wird, dann öffnet sich der Blick auf weitere kirchliche Handlungsoptionen, die sich jeder Parochie ebenso erschließen wie jeder Bildungseinrichtung und jedem anderen kirchlichen Ort. Erfahrungen mit der Tourismusarbeit enthalten hilfreiche Hinweise für eine Kirche, die Freiräume zum Probieren, zum Denken, zum Suchen – auf lokalen und regionalen Ebenen, sowie im In und Ausland – anregen und unterstützen will. Denn in gewisser Weise sind viele Kirchenmitglieder schon heute »Touristen« in den Parochien, weil sie auch diese Orte nur gelegentlich und anlassbezogen aufsuchen. Eine Beteiligung auf Zeit ist keineswegs allein ein Phänomen der Tourismus oder der Citykirchenarbeit, sondern zunehmend ein generelles Phänomen an allen kirchlichen Orten. Deswegen ist es klug, diese Haltung sowohl mit Blick auf die Wirkungen bei teilhabenden Menschen zu entfalten als auch hinsichtlich aller, die auf den unter schiedlichen kirchlichen Ebenen die Frage bewegt, wie es gelingen kann, neu Kirche (für andere) zu sein. Erfahrungen, die auf Gemeindeebene mit Konzepten der Touris musarbeit gemacht werden können, sind zukünftig keine Randerscheinungen mehr, sondern Spiegelungen veränderter gesellschaftlicher Realitäten und individualisier ter Frömmigkeit.
Dies soll im Folgenden gründlicher bedacht werden. Darum wendet sich dieser Text in erster Linie an Gemeinden, Regionen und Landeskirchen und möchte Anregungen und Impulse geben. Es ist also prioritär das kirchliche Selbstverständnis im Blick, nicht die Zielgruppe der Touristikerinnen und Touristiker. Dient der erste Teil vor al lem der theoretischen Reflexion des kirchlichen Handlungsfeldes im Tourismus als Beispiel für individuelle Beteiligung, so geht es im zweiten Teil um Typisierungen der Tourismuskirchenarbeit, die sowohl die Chancen und Grenzen als auch die Verhei ßungen und Belastungen für alle kirchlichen Orte benennen. Die Ambivalenz aller dings bleibt: Es gibt Gemeinden, die es finanziell und personell nicht leisten können, Anregungen der Tourismuskirche zu übernehmen und andere, bei denen Potentiale noch unerkannt sind und damit ungenutzt bleiben. Und selbstverständlich existieren auch jene Gemeinden, die rein standortgebunden sind und deren Reihen sich ins besondere zur Reisesaison leeren. Es geht bei der Typisierung auch um Vernetzung, um das Sichtbarmachen von gelingenden Projekten mit Nachahmungsmöglichkeiten für Kirchengemeinden und Regionen.
Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, 2019