Beteiligung auf Zeit
Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, Juli 2019
Typ G: Formate als Anschlussmöglichkeiten
Die Konzeption Tourismuskirche in konkreten Beispielen
-
Kantatengottesdienst
Johanna freut sich: Ihre beste Freundin hat ihr gesagt, es gibt am Sonntag mal wieder einen der wunderbaren Kantatengottesdienste in der Stadtkirche. Johanna ist katholisch und war lange Zeit Ministrantin in ihrer Heimatgemeinde. Dort war sie es gewohnt, dass der Chor ab und zu an einem Festtag eine Messe gesungen hat. eistens Mozart oder Haydn. Ihr war immer bewusst, wie so etwas die Stimmung hebt und für Feierlichkeit sorgt. »Ein Glück, dass andere singen – ich kann das nicht«, sagte Johanna schon lange. Ihr letzter Singversuch in einem Chor zu Studienzeiten war für sie keine Freude. Aber schließlich braucht es ja auch Zuhörer!
Johanna liebt es, in den hinteren Reihen der Stadtkirche zu sitzen, wo das Orchester so weich im Klang über sie »hinüberrollt«. Faszinierend findet sie in der Stadtkirche St. Matthäus, dass man trotzdem jedes Wort der Sänger und des Chores verstehen kann.
Normalerweise wird ja ein langer Bibeltext vorgelesen, über den der Pfarrer predigt. Johanna stört dabei meistens, dass sie sich das nicht merken kann. Bei Kantatengottesdiensten hat sie ihr Textblatt in der Hand. Es gibt keine Extravorlage, sondern über diese Worte, die ja auch schon ein paar Jahrhunderte auf dem Buckel haben, wird gesprochen. Manchmal bevor die Musik gespielt und gesungen wird, manchmal danach. Johanna liebt es, wenn zuerst die Gedanken zum Text kommen. Dann kann sie sich danach richtig fallenlassen, wenn die Kantate musiziert wird. »Das geht dann so richtig rein und man kann so schön spüren, wie sich Bibeltexte anfühlen, wie sich Gottvertrauen anfühlt, wie man Angst loswird.«
In den vergangenen vier Jahren, seit Johanna diese Gottesdienste für sich entdeckt hat, hat sie nur zwei verpasst: Einmal lag sie mit Grippe im Bett und das andere Mal hatte ihre Oma den 90. Geburtstag. Ansonsten gehört das für sie zu den Terminen, die gleich am Jahresanfang in den Kalender geschrieben werden.
Matthias Roth www.solideo.de -
Traumhochzeit auf Mallorca – Kasualien als ein Arbeitsfeld der Tourismuskirche
»Machen Sie auch freie Trauungen …?«
Diese Frage begegnet immer wieder, am Telefon und in vielen Mails.
Sie kennzeichnet einen Konflikt, in dem sich viele Paare (vermeintlich) befinden:
Sie wünschen sich eine persönliche Trauung und haben dies bei Freunden/Verwandten anders, nämlich unpersönlich erlebt. Sie haben Zurückweisungen erfahren, weil sie zum Beispiel gleichgeschlechtlich sind. Sie haben Vorstellungen zur Gestaltung der Trauung, die sie nicht verwirklichen konnten oder durften (zum Beispiel dass die Braut vom Vater gebracht werden darf, Musikwünsche etc.)
Die Paare wünschen sich ausdrücklich Gottes Segen für die kommende (als oft ungewiss empfundene) Zeit, meist nach früheren Erfahrungen mit eigenen gescheiterten Partnerschaften, beziehungsweise in Familie und Freundeskreis Wir klären das Warum des Wunsches nach der „freien Trauung“ und sind damit mitten in intensiven Gesprächen zu Sinn und Bedeutung der kirchlichen Trauung, am Ende steht bei fast allen Anfragen ein wunderschöner theologisch und homiletisch sorgfältig gestalteter Traugottesdienst.»Was sind denn das für Leute, die auf Malle heiraten wollen?«
Diese kleine, etwas despektierliche Frage zeigt das Klischee, das es zu hinterfragen gilt.
Anfragen kommen vor allem von Menschen aus drei Bezügen:
Von Touristen und »Semitouristen«, die eine Beziehung zu der Insel haben, von »Weltbürgern«, also solchen, die durch Studium, Praktika und Beruf mobil waren und schon lange in keiner Parochialgemeinde mehr »verwurzelt« sind und von Paaren, die in Deutschland Schwierigkeiten hatten oder haben, kirchlich getraut zu werden, nämlich gleichgeschlechtliche Paare, Paare mit unterschiedlicher Konfession oder Religion (evangelisch – katholisch – orthodox – mit muslimischem Partner…), Prominente, die, manchmal gezielt geheim und auswärts vor den Traualtar treten möchten, Jubilare, die im Rahmen einer kleinen Feier zum Ehejubiläum eine Trauung nachfragen. Die schönste Trauung habe ich zu einer Diamantenen Hochzeit halten dürfen. Oft liegen die Gründe auch im Wunsch nach Mehrsprachigkeit
(deutsch, spanisch, englisch), manchmal will man sich einfach einen Traum erfüllen oder sucht für die spätere Feier das mediterrane Wetter und Ambiente.
»Und wie wird getraut?«
Wir haben eine große Offenheit gegenüber persönlichen Wünschen wie Ort und Musik und Gestaltung. Aber immer orientiert sich der Ablauf an der Agende für Trauungen. Sie ist das »Skelett«, das Orientierung und Halt bietet und dann persönlich gefüllt werden kann. Die inhaltliche Gestaltung »wächst« aus zahlreichen E-Mail-Kontakten und meist mehreren Traugesprächen. Wir haben keine eigene Kirche und sind zu Gast in mallorquinischen Kirchen und Kapellen, aber wir trauen auch auf einer Finca und (sehr selten) auch am Strand.
»Welche Bedeutung haben diese Trauungen für das gesamtkirchliche Leben?«
Mit etwa 100 Trauungen, Taufen und Segnungen erreichen wir über 5000 Menschen jährlich, die ansonsten keine großen Kontakte zur Kirche (mehr) haben.
Es ist eine Form der Verkündigung des »Evangeliums an alles Volk« – auch wenn sie uns oft abverlangen »allen alles zu werden, um auf alle Weise Menschen zu erreichen«.
Da Mallorca mit freien Rednern und einem großen Angebot an Zeremonien reichlich versorgt ist, haben alle Paare, die von uns getraut werden möchten, ein echtes »Interesse« an den Gottesdiensten. Und gerade, weil manchmal über jedes Gebet und jeden Text und die Traufragen diskutiert wird, gibt es viele Aha-Erlebnisse und neue Einsichten für die Paare in den Zusammenhang von Glauben und Leben.
Sie – und auch die Gäste – nehmen, so hoffen wir, viel mit nach Hause. Es ändert oft ihr Vorurteil von Kirche, gibt Raum für echten Austausch und findet vielleicht doch auch hier oder da eine gute Fortsetzung in einer Heimatgemeinde.
Heike Stijohann www.kirche-balearen.net -
Offenes Singen
»Es ist für jeden etwas dabei.« – so ein blöder Satz denkt sich Paul. Wo ist er hier nur gelandet? »Offenes Singen« steht auf dem Plakat, da wollte seine Freundin unbedingt hin, weil sie seit Schulchorzeiten nicht mehr gesungen hat. »Immerhin keine blöden Einsingübungen«, flüstert er ihr zu, als die Kantorin mit dem ersten Lied »Lobe den Herren« anfängt. Das kannte er aus dem Konfirmandenunterricht. Und was sie dann noch dazu erzählt: Dass das mit dem Neandertaler zusammenhängt – cool, man könnte sich glatt für Geschichte interessieren.
Als nächstes ein Kanon: »Der geht ja schon gut so einstimmig – es könnte jetzt vierstimmig werden«, tönt es von der sympathischen Dame am Klavier. Paul merkt, wie er sich duckt und intuitiv die Noten etwas höher hält. War das immer frustrierend in der Schule, und peinlich obendrein. Schwups sind vier Gruppen eingeteilt. Und siehe da – was für eine Klangwelt tut sich da auf! Paul ist an einer Stelle unsicher. Aber sein Nachbar bringt ihn sicher über diese Hürde. Bei der Wiederholung geht es schon besser und er kann dabei lächeln.
Als das Lied der Franken zu Ende ist, kann Paul es gar nicht glauben, dass schon eine Stunde vergangen ist. Die Kantorin sagt »Der Mond ist aufgegangen« an. Dieses Lied freut Paul besonders. »Meine Oma hat das immer mit uns Kindern gesungen«, hört er sich plötzlich sagen. Und still denkt er sich: »Und mein erster nächtlicher Spaziergang mit meiner Freundin Anke endete am Bootssteg mit Vollmond, wo ich auch an dieses Lied gedacht habe.« Bei der Zeile vom »kranken Nachbarn« wird Paul ganz wehmütig, denn er denkt sofort an seine kranke Mutter zu Hause.
Eigentlich möchte er gar nicht gehen: »Das war ein echtes Erlebnis – gibt es so etwas überall?«, fragt er vorsichtig die Kantorin. »Nein«, antwortet die still. »In diesem Ferienort ist das eine Besonderheit. Aber vielleicht finden sie ja einen Chor«. »Im Schichtdienst ist das schwierig«, seufzt Paul, »aber suchen muss ich!«. Schweigend gehen Paul und Anke zum Hotel zurück, beide summen innerlich das Lied mit dem schönen Mond.
Matthias Roth www.solideo.de
Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, 2019