Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel Europa - Informationen Nr. 155

Premiere: Estland übernimmt EU-Ratspräsidentschaft

Doris Klingenhagen (Referentin für Jugend- und Bildungspolitik) / Valentin Wendebourg

Estland hat am 1. Juli 2017 die Ratspräsidentschaft und den Vorsitz im EU-Rat übernommen. Dies geschieht ein halbes Jahr früher als ursprünglich geplant, da Großbritannien nach dem Brexit auf den Vorsitz verzichtet hat. Es ist der erste Ratsvorsitz des 2004 der EU beigetretenen Landes. Gemeinsam mit Bulgarien und Österreich bildet Estland die neue Triopräsidentschaft bis Ende 2018. Das Motto für die Ratspräsidentschaft lautet „Einigkeit durch Gleichgewicht“ („unity through balance“). Dabei hat sich der baltische Staat vier Schwerpunkte vorgenommen: 1. Eine offene und innovative europäische Wirtschaft; 2. Ein sicheres und geschütztes Europa; 3. Ein digitales Europa der Datenfreizügigkeit; 4. Ein inklusives und nachhaltiges Europa.

1. Eine offene und innovative europäische Wirtschaft

Als Standort einer wachsenden digitalen Unternehmenskultur setzt Estland einen Schwerpunkt auf die EU-Förderung von Forschung und neuester Technologien. Um ein kreatives unternehmerisches Umfeld in Europa zu schaffen, strebt Estland eine signifikante Ausweitung des Europäischen Fonds für strategische Investitionen an. Konkret plant Estland den Beginn von Verhandlungen über ein endgültiges, grenzüberschreitendes Mehrwertsteuersystem, um grenzüberschreitenden E-Commerce zu erleichtern. Zur Schaffung eines gemeinsamen wirtschaftspolitischen Investitionsraumes gehört die  Absicht, Europa als Wirtschafts- und Währungsunion u.a. durch die Errichtung einer Banken- und Kapitalmarktunion zu vertiefen. Zu den wirtschaftspolitischen Voraussetzungen zählt Estland das Vorantreiben einer Energieunion, welche eine gemeinsame Energie,- Klima-, Umwelt- und Wirtschaftsstrategie umfassen soll.

Zugleich soll ein Schwerpunkt auf der Bekämpfung von Steuervermeidung in der europäischen Union liegen. Um Finanzbetrug und Korruption u.a. von EU-Mitteln wirksam zu bekämpfen, forciert Estland den Aufbau einer europäischen Staatsanwaltschaft.

2. Ein sicheres und geschütztes Europa

Estland setzt auch im Bereich der Sicherheit auf den Einsatz moderner Techniken. Diese sollen vor allem zur Sicherung der EU-Außengrenzen (z.B. Europäischen Einreise-/Ausreisesystem) sowie zur verbesserten Überwachung im Inneren (Schengener Informationssystem; Europäisches Strafregisterinformationssystem) genutzt werden. Darüber hinaus will Estland eine Debatte zur Speicherung von Kommunikationsdaten auf EU-Ebene anregen.

Migrationspolitisch strebt Estland eine Stärkung der EU-Außengrenzen an und fordert die Überarbeitung der Richtlinien für die „Blue Card“ (Richtlinie 2009/50/EG). Mit der Blue Card regelt die EU die Einreise und den Aufenthalt von hochqualifizierten Arbeitskräften aus Nicht-EU-Staaten, die in der EU (ausgenommen Dänemark, Irland, UK) arbeiten wollen. Darüber hinaus ist Estland gewillt, die Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) voranzutreiben. Damit soll der ungleichen Behandlung und unterschiedlichen Anerkennungs-quoten für Asylsuchende in den verschiedenen Mitgliedstaaten entgegen gewirkt werden. Durch die Angleichung der Standards sollen ferner das erneute Beantragen von Asyl in einem weiteren EU-Staat (Sekundärmigration) sowie Sogwirkungen in bestimmte Staaten vermieden werden. Die Reform sieht außerdem vor, am stärksten von der Flüchtlingskrise betroffene EU-Staaten finanziell zu unterstürzen.

Ein besonderes Augenmerk will Estland auf die Förderung der EU-Partnerschaft mit seinen sechs östlichen Nachbarländern richten. Als unmittelbares Nachbarland zu Russland setzt sich Estland für eine enge Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik sowie eine europaweite Erhöhung der Verteidigungsausgaben ein. Estland unterstützt dabei die Implementierung der Globalen Strategie für Außen- und Sicherheitspolitik der EU sowie des Europäischen Verteidigungs-Aktionsplans der Kommission. Vorgesehen sind zudem die Umsetzung der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), der Koordinierten Jährlichen Überprüfung der Verteidigung (CARD) sowie des Europäischen Verteidigungsfonds. Gefördert werden sollen die enge Kooperation der europäischen Verteidigungsforschung und -entwicklung sowie die Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie.

3. Ein digitales Europa und Datenfreizügigkeit

Als Teil seiner digitalen Agenda will Estland den Ausbau des grenzüberschreitenden digitalen Handels sowie digitaler Dienstleistungen vorantreiben. Angestrebt werden eine klare Regulierung für Privatsphäre und digitale Kommunikation. Weitere Ziele sind daneben die Standardisierung der Cybersicherheit sowie die Implementierung des Aktionsplans „E-Government 2016-2020“. Dieser beinhalte den Ausbau der digitalen Dienstleistung von öffentlichen Ämtern.

4. Ein inklusives und nachhaltiges Europa

In der Digitalisierung sieht das estnische Programm weiter eine zentrale Chance für eine wachsende Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt. Es sollen digitale Bildungsmaßnahmen zur Kompetenzentwicklung gefördert und mit dem Europass ein digitaler Dokumentenstandard geschaffen werden. Die Digitalisierung soll auch dafür eingesetzt werden, die Sicherung von sozialen Leistungen grenzüberschreitend zu modernisieren. Ein konkretes Ziel soll der Abschluss einer Regulierung der Entsendung für Arbeitnehmer in andere EU-Staaten sein.

Auch im Jugendbereich macht sich Estland für das Thema Digitalisierung stark. Die Weiterentwicklung der Jugendarbeit wird mit Schlussfolgerungen zum Thema „Smart Youth Work“ in diesen Kontext gestellt. Hinzu kommen die weitere Entwicklung des Europäischen Solidaritätskorps und die Überprüfung des Strukturierten Dialogs zum Thema „Youth in Europe: What‘s next?“ Als erster Aspekt wird sich die Präsidentschaft dabei mit der „EU-Jugendstrategie nach 2018“ befassen. Für den Bildungsbereich stehen die Themen „New Skills Agenda“, die Modernisierung der Hochschulbildung sowie die Initiative zur Nachverfolgung des beruflichen Werdegangs von Absolventen der allgemeinen und beruflichen Bildung („graduate tracking initiative“) an.
Hinsichtlich der Nachhaltigkeit ist Estland bestrebt, die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens innerhalb der EU zu intensivieren. Estland will zu diesem Zweck die Verhandlungen über die Emissionshandelsrichtlinie, die Lastenverteilungsordnung (Effort Sharing Resolution 2021-2030), die Verordnung zur Einbeziehung der Landnutzung in die EU-Klimapolitik (LULUCF – Land use, land use change and foresty) und den Vorschlag zur Einbeziehung der Luftfahrt in das EU-Emissionshandelssystem vorantreiben. Ein besonderer Fokus soll hierbei auf der nächsten UN-Weltklimakonferenz im November 2017 in Bonn (COP 23) liegen, um den Umsetzungsplan des Pariser Abkommens zu forcieren.

Das gesamte Programm findet sich unter: http://ekd.be/programm_des_estnischen_vorsitzes_im_rat_der_europaeischen_union

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