Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel Europa - Informationen Nr. 155

Bis 2025 zur Europäischen Verteidigungsunion

Julia Maria Eichler

Am 07. Juni 2017 veröffentlichte die Europäische Kommission das vierte dem Weißbuch zur Zukunft Europas folgende Reflexionspapier (siehe EKD Europa-Informationen Nr. 154).

Das Reflexionspapier über die Zukunft der Europäischen Verteidigung beschreibt drei unterschiedlich ambitionierte Szenarien für den Übergang zu einer Sicherheits- und Verteidigungsunion bis 2025.

Die besondere Stärke der EU bestehe in dem Mix aus Soft und Hard Power. Grundlegende Veränderungen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich würden gegenwärtig durch verschiedene Faktoren begünstigt.
Die unsichere Lage in Ländern östlich der EU, in Teilen Afrikas und im Mittelmeerraum, die Bedrohung durch Terrorismus und Cyberangriffe, aber auch der Wandel der transatlantischen Beziehungen, zunehmend eskalierende regionale Rivalitäten und die hohen Zahlen von Menschen auf der Flucht und ziviler Opfer führe zu einer veränderten Wahrnehmung der europäischen Sicherheit.

„Mehr Europa“ im Sicherheits- und Verteidigungsbereich sei nicht nur ein Wunsch führender EU-Politiker, sondern auch der Bürgerinnen und Bürger.

Zusammengenommen hätten die europäischen Länder zwar die zweithöchsten Militärausgaben der Welt, sie müssten aber, um strategische Autonomie zu erlangen, mehr für die Verteidigung ausgeben und die Ausgaben optimieren und bündeln. Das US-Verteidigungsbudget sei etwa doppelt so hoch wie das Europa zur Verfügung stehende.

Zudem führe die starke Fragmentierung des europäischen Verteidigungsmarktes zu Opportunitätskosten i.H.v. 30 Milliarden Euro und mangelnder Interoperabilität der Verteidigungsfähigkeiten.

Im Verhältnis zu den Ausgaben sei die erzeugte Verteidigungsfähigkeit gering. Größenvorteile seien für die Steigerung der Wirksamkeit und die Effizienz bedeutend. Hinzu käme die Notwendigkeit nach wie vor bestehenden haushaltspolitischen Zwängen und gleichzeitig konkurrierenden politischen Prioritäten gerecht zu werden ebenso wie einer effizienteren Ressourcennutzung.

Auf dem Weg zu einer Sicherheits- und Verteidigungsunion bedürfe es einer systematischen Zusammenarbeit und der schrittweisen Integration im Verteidigungsbereich. Die historisch bedingt unterschiedlichen Bedrohungswahrnehmungen und Strategiekulturen müssten angeglichen werden ebenso wie die geeigneten Reaktionsformen. Dies erfordere eine gemeinsame Beschlussfassung, gemeinsames Handeln und größere finanzielle Solidarität.

Der Wandel der transatlantischen Beziehungen fordere von Europa, die Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen. Die EU und die Nato würden sich auch zukünftig sowohl im Bereich der militärischen als auch der zivilen Sicherheit koordinieren. Der Umfang und die Effizienz der Verteidigungsausgaben müsse gesteigert werden. Die Verteidigungsausgaben müssten besser koordiniert werden. Ein EU-Haushalt, der den neuen Ambitionen im Verteidigungsbereich gerecht werde, und der Europäische Verteidigungsfonds (siehe folgender Artikel) sollten Europa befähigen, Ausgaben gezielt zu tätigen und das Kosten-Nutzenverhältnis zu verbessern.

Zuletzt bedürfe es eines echten Binnenmarktes für Verteidigungsgüter inklusive mehr industriellen Wettbewerbs und grenzüberschreitenden Marktzugangs für kleinere Unternehmen entlang der Lieferkette. Hierbei seien auch Fragen der Übergangskosten sowie legitime Bedenken anzugehen.

Nach dem ersten skizzierten Szenario würden die EU-Mitgliedstaaten häufiger zusammenarbeiten, u.a. weil dies aufgrund einer komplexeren und instabileren Welt notwendig sei. Die Zusammenarbeit wäre aber weitgehend freiwillig und auf Grundlage von ad-hoc-Beschlüssen. Es bestünde weder eine politische noch eine rechtliche Bindung an eine gemeinsame Ausrichtung in Sicherheits- und Verteidigungsfragen.

Die EU wäre nach wie vor fähig, zivile Missionen und kleinere militärische Krisenbewältigungsmissionen und -operationen durchzuführen. Der Schwerpunkt würde auf dem Kapazitätsaufbau des Sicherheits- und Verteidigungsapparats in Partnerländern liegen. Die NATO-Kooperation würde vor allem im Bereich der hybriden Bedrohung, Cybersicherheit und maritimen Sicherheit intensiviert werden, da hier sowohl Soft- als auch Hard-Power gefragt seien.

Im Rahmen nichtkonventioneller Bedrohungen (Terrorismus, hybride und Cyberbedrohungen) würde die in erster Linie nationale Reaktion durch die Unterstützung der EU wirkungsvoller werden.

Nationale Sicherheitsbehörden und Nachrichtendienste würden systematisch Informationsaustausch praktizieren und damit zu einem gemeinsamen Verständnis von externen Bedrohungen beitragen. Die Union würde zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit von kritischer Infrastruktur, der Versorgungsketten und der Gesellschaft beitragen, etwa im Energiebereich.

Vor allem bei der Entwicklung kritischer Technologie und logistischer Voraussetzungen für militärische Operationen gäbe es gemeinsame Anstrengungen. Der Ausbau der Zusammenarbeit würde aber durch einen Bottom-up-Prozess erfolgen, der auch durch das Bemühen um größere Transparenz bei der Verteidigungsplanung der Mitgliedstaaten, der Schaffung eines Verteidigungsforschungsprogramms der EU und der Einrichtung des Europäischen Verteidigungsfonds erzielt werden würde. Die europäische Verteidigungsindustrie wäre jedoch nach wie vor fragmentiert. Entwicklung und Beschaffung von Verteidigungsfähigkeiten wäre weiterhin hauptsächlich auf nationaler Ebene angesiedelt.

Im zweiten Szenario würde zwischen den Mitgliedstaaten aufgrund eines umfassenderen und tiefgreifendenden Verständnisses der jeweiligen Bedrohungsanalysen und einer Konvergenz der Strategiekulturen eine größere finanzielle und operative Solidarität herrschen. Die EU wäre so in der Lage „militärische Macht zu projizieren“, sich in vollem Umfang an der Bewältigung externer Krisen zu beteiligen, Partner beim Aufbau von Kapazitäten im Sicherheits- und Verteidigungsbereich zu unterstützen und Operationen hoher Intensität etwa im Rahmen der Terrorismusbekämpfung oder hybrider Bedrohungen durchzuführen. Die EU würde vor allem in Bereichen, in denen sich innere und äußere Sicherheit überschneiden (z.B. hybriden und Cyberbedrohungen, Grenzschutz, Energieversorgung), ihre Fähigkeiten verbessern. Zivilen und militärischen Kapazitätsaufbaumissionen käme eine größere Bedeutung zu und sie würden durch eine wirksamere und robustere Krisenbewältigungsstruktur erleichtert.

Zwischen der EU und der Nato gäbe es eine systematische Zusammenarbeit und Koordinierung hinsichtlich der Mobilisierung des gesamten Spektrums der jeweiligen Mittel und Instrumente.

Nachrichtendienstliche Erkenntnisse würden systematisch weitergegeben und zusammengeführt. Darüber hinaus würde die EU den Mitgliedstaaten die Zusammenarbeit bei der systematischen Berichterstattung über Cyberangriffe ermöglichen. Die Europäische Grenz- und Küstenwache würde weiter ausgebaut und in Synergie mit den Verteidigungskräften die EU-Grenze überwachen. Die EU würde sich u.a. um die Diversifizierung der Energiequellen und die Entwicklung von Standards für Energieversorgungssicherheit bemühen. Durch den Ausbau der Raumfahrtprogramme würden zusätzliche Dienste für Sicherheit und Verteidigung bereitgestellt etwa im Bereich Grenz- und Meeresüberwachung. Die nationale Verteidigungsplanung würde verstärkt angeglichen werden. Dadurch würde die gemeinschaftliche Beschaffung und Aufrechterhaltung von Verteidigungsfähigkeiten erleichtert und eine verbesserte Interoperabilität begünstigt. Durch einen ambitionierten Europäischen Verteidigungsfonds würden die Mitgliedstaaten systematisch multinationale Fähigkeiten in verschiedenen Bereichen entwickeln. Diese würden durch gemeinsame Planung und gemeinsame Kommandostrukturen auf EU-Ebene und logistisches Engagement unterstützt inklusive u.a. multinationaler Streitkräfte-Komponenten, medizinischer Korps, gemeinsamer Schulungs- und Ausbildungsmaßnahmen und groß angelegter Übungen, um eine gemeinsame Militärkultur zu fördern. Im Rahmen europäischer Programme würden kritische Verteidigungstechnologien entwickelt. Eine europäische Beobachtungsstelle könnte ausländische Direktinvestitionen in diese Technologien überwachen und analysieren.

Die Mitgliedstaaten würden die Zusammenarbeit und Integration in Richtung einer gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungsunion im dritten Szenario verstärken. Solidarität und gegenseitige Hilfe würden der Regelfall. Die Möglichkeit der in Art. 42 des Vertrags über die Europäische Union festgeschriebenen schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik würde genutzt werden. Die EU und die NATO nähmen in einer sich gegenseitig stärkenden Weise die Verantwortung für den Schutz Europas wahr. Die EU wäre befähigt, selbst anspruchsvollste Operationen zum besseren Schutz Europas durchzuführen z.B. bei der Bekämpfung von Terrorgruppen und Marineoperationen in feindlicher Umgebung. Sicherheitsbedrohungen würden in enger Zusammenarbeit mit nationalen Sicherheits- und Nachrichtendiensten systematisch überwacht und gemeinsam bewertet. Um die innere und äußere Sicherheit zusammenzuführen, fände auf EU-Ebene eine Notfallplanung statt. Die Verknüpfung nationaler Sicherheitsinteressen führte zu echten europäischen Interessen. Verteidigungskräfte würden im Voraus stationiert und wären permanent zum raschen Einsatz bereit. Gemeinsame militärische Übungen und Schulungen an europäische Verteidigungsakademien förderten die Konvergenz der Strategiekulturen. Die EU-interne Resilienz würde durch sektorbezogene Maßnahmen z.B. im Bereich der Cybersicherheit, und der Bekämpfung gewaltbereiter Extremisten stärken. Abwehrszenarien und –maßnahmen gegen Cyberangriffe und externe Einmischung in demokratische Prozesse würden u.a. durch systematischen Informationsaustausch, technische Zusammenarbeit und die Formulierung gemeinsamer Grundsätze durch die EU koordiniert. Der Europäische Grenz- und Küstenschutz würde auf ständige europäische Streitkräfte sowie auf eine europäische Plattform zum Gewinn nachrichtendienstlicher Erkenntnis sowie ferngesteuerter Flugsysteme oder Satelliten zugreifen können. Zudem würde eine europäische Katastrophenschutzgruppe eingerichtet werden. Es gäbe feste Verfahren für die schnelle Verlegung militärischer Ausrüstung. Die nationalen Verteidigungsplanungen wären vollständig abgestimmt. Die nationale Prioritätensetzung für die Fähigkeitenentwicklung würde nach europäisch abgestimmten Prioritäten erfolgen. Fähigkeiten in Bereichen wie Luft-, Welt- oder Seeraumüberwachung, Kommunikation und Cybersicherheit würden mit Hilfe des Europäischen Verteidigungsfonds gemeinsam von den Mitgliedstaaten angeschafft werden. Europa würde über Aufklärungs- und offensive Cyberfähigkeiten verfügen.

Es bestünde ein europäischer Markt für Verteidigungsgüter, der auch einen europäischen Überwachungsmechanismus zum Schutz wichtiger strategischer Tätigkeiten vor feindlicher Übernahme von außen schützt. Eine zu schaffende Europäische Agentur für Verteidigungsforschung würde Innovationen im Verteidigungsbereich und deren Umsetzung unterstützen.

Das Reflexionspapier soll mit den unterschiedlichen Szenarien als  Diskussionsgrundlage dienen. Im Europäischen Parlament haben die ersten Diskussionen bereits stattgefunden. Bei einer gemeinsamen Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten und des Ausschusses für Sicherheit und Verteidigung am 13. Juni 2017 mit Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen nannte diese das Reflexionspapier einen „Meilenstein“. Von der Leyen wies darauf hin, dass derzeit bereits vier Hauptkomponenten einer Europäischen Verteidigung auf den Weg gebracht worden seien: die Einrichtung einer Europäischen Kommandozentrale für zivile und militärische EU-Missionen, die Ausarbeitung der Permanenten und Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO), der Europäische Verteidigungsfonds und eine Koordinierte Jährliche Überprüfung der Verteidigung (CARD). Die Parlamentarier begrüßten eine vertiefte europäische Verteidigungsunion mehrheitlich. Kritische Nachfragen gab es vor allem hinsichtlich der Gefahr von Doppelstrukturen mit der NATO, den deutlichen Mehrausgaben, die vor allem durch den Europäischen Verteidigungsfonds vorgesehen sind, und der fehlenden Rüstungsexportkontrolle durch das Europäische Parlament.

Das Reflexionspapier finden Sie hier: http://ekd.be/reflexionspapier_ueber_die_zukunft_der_europaeischen_verteidigung

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