Europa-Informationen, Ausgabe Nr. 161, September 2019

Asyl- und Migrationspolitik: Im Schatten der Seenotrettung - Grenzüberschreitungen an Europas Grenzen

Julia Maria Eichler (Juristische Referentin)

Sea Watch 3, Alan Kurdi, Alex, Open Arms, Ocean Viking – immer wieder sind Seenotretter in diesem Jahr auf der Suche nach einem Hafen, der sie einlässt. Immer wieder spitzt sich die Situation auf den Schiffen, auf denen sich aus Seenot im zentralen Mittelmeer gerettete Menschen befinden, durch die tage- und wochenlangen Hängepartien zu.
Wie schon so oft dieses Jahr ringen nun wieder die EU-Mitgliedstaaten um eine Lösung für die Aufnahme der Geretteten. Immer im Wissen, dass eine humanitäre Lösung gefunden werden muss und immer in der Angst, bei der Verteilung einen Präzedenzfall für die Zukunft zu schaffen.
Bereits seit Anfang des Jahres laufen die Diskussionen darüber, wie man übergangsweise ein Verfahren entwickeln kann, mit dem die Aufnahme der aus Seenot geretteten Migranten sichergestellt wird (EKD Europa-Informationen Nr. 160). Die rumänische Ratspräsidentschaft hatte Mitte Juni 2019 einen Entwurf für Leitlinien vorbereitet, die im Ministerrat zwar diskutiert, allerdings nur als Wiedergabe des Sachstandes angesehen wurden. Am 22. Juli schien der Durchbruch gelungen, als der französische Präsident Emmanuel Marcon verkündete, dass 14 von 28 Mitgliedstaaten auf Grundlage eines deutsch-französischen Papiers dem „Prinzip“ der Umverteilung von Flüchtlingen zustimmten. Acht wollten sich aktiv beteiligen.
Bereits zuvor hatte die EU-Außenbeauftragte bei dem Treffen der Außenminister am 15. Juli 2019 betont, wie wichtig eine Einigung wäre. Mit ihr würden auch die Chancen steigen, dass man sich zwischen den Mitgliedstaaten wieder auf eine angemessen ausgestattete Operation im Mittelmeer einigen würde. Ihre Hoffnung: Einigen sich die Mitgliedstaaten auf eine Verteilung, könnte auch Operation Sophia wieder mit Schiffen im Mittelmeer vertreten sein. Dies bestätigte auch der italienische Außenminister, Enzo Milanesi, der davon sprach, dass sich die italienische Einstellung zu einer Marineoperation ändern könnte, wenn es einerseits einen stabilen Mechanismus gebe und gleichzeitig gewährleistet wäre, dass nicht alle Geretteten nach Italien kommen würden.
Doch das Problem geht über die Frage einer staatlichen Seenotrettungsmission hinaus. Denn unabhängig davon, ob die Seenotrettung durch ein Handelsschiff, eine NGO oder staatliche Schiffe erfolgt, bedarf es eines Hafens, der die Schiffe einlaufen lässt. Dass Italien Schiffe mit Geretteten einlaufen lässt, ist indes nicht einmal für die eigenen Schiffe sicher: Die „Gregoretti“, ein Schiff der italienischen Küstenwache, musste Ende Juli 2019 mehrere Tage vor Sizilien warten, bis es die Erlaubnis erhielt, anzulegen.
Ein sicherer Hafen wird sich nur finden lassen, wenn es einen verlässlichen Mechanismus zur Umverteilung gibt. Doch die aktuellen Fälle zeigen, dass es von der Zustimmung zum Prinzip bis zur konkreten Handlung ein weiter Weg ist.
Unabhängig von einer Einigung zur Umverteilung ist es schwer vorstellbar, dass dieser Hafen zukünftig in Italien liegen könnte. In Italien sind in diesem Jahr laut dem italienischen Think Tank „Italian Institute for International Political Studies“ etwas über 3.600 Migranten über das zentrale Mittelmeer angekommen. Im Vergleich sind das weniger Menschen als andere EU-Länder im Rahmen des Dublin-Systems nach Italien zurückschicken. Doch aus der medienwirksamen Schließung von Häfen schlägt der Lega-Chef Salvini – unterstützt durch das Unvermögen der übrigen EU-Länder, sich zu einigen – politisches Kapital und inszeniert sich durch provokante und laute Töne als Hardliner und Verteidiger italienischer Interessen.
Das kleine Zypern stimmt dagegen eher leisere Töne an. Die 860.000 Einwohner-Republik verzeichnet, entgegen dem EU-weiten Trend, steigende Ankunftszahlen: 2017 stiegen die Zahlen um 50 %, 2018 erneut um 69 %. In den ersten drei Monaten diesen Jahres stellten im Durchschnitt 1.000 Menschen einen Asylantrag. Im Mai 2019 reisten mehr als 3.000 Menschen über die besetzten Gebiete in Nordzypern ein. Zypern hofft deshalb darauf, dass sich die Solidarität der anderen EU-Staaten nicht nur auf die Menschen, die über das Mittelmeer kommen, begrenzt.
Während der mediale Fokus auf dem zentralen Mittelmeer liegt, brachten die Recherchen, die Anfang August 2019 von der ARD, der Zeitung „Guardian“ und dem Recherchezentrum „Correcitv“ publiziert wurden, andere Grenzeinsätze zurück in den Blick der Öffentlichkeit. Laut den Berichten belegen interne Dokumente der Europäischen Grenz- und Küstenschutzagentur „Frontex“, dass Grenzbeamte aus Ungarn, Bulgarien oder Griechenland Flüchtlinge und Migranten schlügen, mit Hunden durch den Wald hetzten und illegal über die bereits überquerte Grenze zurückschieben würden. Frontex wies in Reaktion auf die Veröffentlichung darauf hin, dass man „keine Autorität über das Verhalten nationaler Grenzpolizisten [habe] und […] keine Vollmacht, Ermittlungen auf dem Gebiet von EU-Mitgliedsstaaten zu führen“.
Doch machtlos ist auch Frontex nicht. Die EU-Agentur kann eine Operation bei massiven Menschenrechtsverletzungen beenden. Vorgekommen ist das bisher noch nicht. Stefan Keßler, Asylexperte vom Jesuiten Flüchtlingsdienst, vermutet, dass dies an der mangelnden Unabhängigkeit liege. „Kontrolle über Frontex haben die Mitgliedsstaaten, die im Verwaltungsrat vertreten sind, und zwei Beamte der EU-Kommission, die ebenfalls im Verwaltungsrat vertreten sind. Eine wirksame externe Kontrolle gibt es bei Frontex aber nicht“, so Keßler gegenüber der Deutschen Welle.
Das Frontex-Konsultativforum, in dem Organisationen der Zivilgesellschaft, aber auch internationale Organisationen wie die Vereinten Nationen vertreten sind, soll Frontex im Hinblick auf den Umgang mit Menschenrechten beraten und fordert schon länger die Einstellung des Einsatzes an der ungarischen Grenze.
Der Vorsitzende des Forums, Stefan Keßler, wies auch darauf hin, dass es notwendig sei, den Berichten über Menschenrechtsverletzungen intensiver und systematischer nachzugehen. Hierfür müssten die Kapazitäten des Büros der Menschenrechtsbeauftragten aufgestockt und den Beauftragten die Möglichkeit geben werden, ganz gezielt und umfassend solchen Vorwürfen nachzugehen.
Berichte über Menschenrechtsverletzungen von nationalen Beamten bei Einsätzen an EU-Grenzen gab und gibt es immer wieder. Neu ist aber, dass diesmal auch Frontex-Beamte direkt beschuldigt werden. Bei Abschiebeflügen, die inzwischen auch durch Frontex selbst organisiert werden, sollen die eigenen Beamten gegen Menschenrechtsstandards und EU-Richtlinien verstoßen haben: Minderjährige würden ohne Begleitung von Erwachsenen abgeschoben, beim Einsatz von Handfesseln würden Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit nicht beachtet.
Eine Kommissionssprecherin sagte, die Vorwürfe würden überprüft und entsprechende Maßnahmen ergriffen.
Doch nicht nur beim Grenzschutz gibt es Handlungsbedarf. Die Kommission leitete im Juli 2019 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn ein, nachdem die Berichte über die Vorenthaltung von Nahrungsmitteln für ausreisepflichtige Asylbewerber in den Transitzonen, trotz mehrfacher Intervention durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte seit 2018 nicht verstummten. Zudem reichte die Kommission Klage in Luxemburg ein, weil das sogenannte „Stop-Soros“-Gesetz Hilfeleistung bei Asylanträgen unter Strafe stelle und das Recht auf die Beantragung von Asyl rechtswidrig einschränke.
Es besteht also dringender Handlungsbedarf. Fatalerweise fehlt es an Ideen, wie man die Blockade rund um das Asylpaket, das seit 2016 in Form von Gesetzesvorschlägen vorliegt, aufbrechen könnte. Die finnische Ratspräsidentschaft versucht es mit kleinen vermittelnden Schritten: Austausch, die jeweilige Praxis kennenlernen und Verständnis entwickeln (siehe vorangehender Artikel). So könnten sich die Mitgliedstaaten wieder annähern und vielleicht auch verlorengegangenes Vertrauen zurückgewinnen. Konkrete Arbeiten an den Vorschlägen wird es auf technischer Ebene geben. Der Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens während der finnischen Ratspräsidentschaft ist nicht zu erwarten. Auch weil sich das institutionelle Gefüge auf europäischer Ebene erst wieder neu justieren muss. Die neue Kommission wird frühestens zum 1. November 2019 im Amt sein. Das Europäische Parlament, frisch gewählt und konstituiert, nimmt Ende August die Arbeit auf. Der Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE), der für die Asylthemen zuständig ist, wird am 4. September 2019 zum ersten Mal mit seinen neuen Mitgliedern tagen. Den Ausschussvorsitz hat der Spanier, Juan Fernando López Aguilar (S&D, Sozialistische Arbeiterpartei Spaniens ), übernommen, der sich in der vergangenen Legislaturperiode für ein europäisches humanitäres Visum eingesetzt hatte. Für die neue Kommission und das neue Parlament wird es dann auch darum gehen, unabhängig vom Asylpaket, die eigenen Möglichkeiten dafür zu nutzen, um die notwendigen Verbesserungen etwa bei den Aufnahmebedingungen aber auch bei der Familienzusammenführung von Asylbewerbern innerhalb der EU anzugehen.

Den deutsch-französischen Vorschlag finden Sie hier: http://bit.ly/ekd-NL-161_AuM-1

Nächstes Kapitel