Europa-Informationen, Ausgabe Nr. 161, September 2019

Zukunft der EU: „Sich zu Europa bekennen“ – Ein leidenschaftlicher Appell an die demokratische Verantwortung

Damian Patting (Juristischer Referent)

Unter dem Titel „Vertrauen in die Demokratie stärken – sich zu Europa bekennen“ fand am 2. Mai 2019 eine Vortragsdiskussion mit dem EKD-Ratsvorsitzenden Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm im Haus der EKD in Brüssel statt. Ziel des Abends war es, einen Beitrag in Form theologisch-politischer Impulse zu leisten, um ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Europawahl 2019 in besonderem Maße die künftige Ausrichtung der Europäischen Union bestimmen dürfte und weshalb es sich lohnt, demokratische Kräfte zu stärken.
Die Leiterin des EKD-Büros Katrin Hatzinger merkte in ihrem Grußwort an, dass die europäische Idee Unterstützung und Fürsprache verdiene und es am 26. Mai auf jede Stimme ankomme. Die Europawahl sei mehr denn je eine Richtungswahl und ein Kampf um die Seele Europas: Es gehe um die Frage, ob ein demokratisches, wertebasiertes und weltoffenes oder ein nationalistisches, autoritäres oder undemokratisches Europa gewollt sei. Nur ein geeintes Europa könne den großen Herausforderungen hinsichtlich Globalisierung, Digitalisierung, Migration, Klimawandel, Freiheit und Sicherheit wirksam begegnen. Unter den europäischen Partnern müsse stets aufs Neue Vertrauen begründet werden. Für eine Begründung und Stärkung dieses Vertrauens setzten sich auch die Kirchen ein. Die Handreichung des Brüsseler EKD-Büros erfreue sich großer Beliebtheit. Auch daran zeige sich, dass die Europawahl im Jahr 2019 präsenter sei als diejenige aus dem Jahr 2014. Das Engagement der Kirchen komme auch im Gemeinsamen Wort zur Stärkung der Demokratie zum Ausdruck. Politik lebe von Auseinandersetzung, daher müsse über die Richtungen mehr gestritten werden. Europapolitik müsse als selbstverständliches Aufgabenfeld nationaler Innenpolitik verstanden werden.
Der EKD-Ratsvorsitzende Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm leitete seinen Vortrag mit der Bemerkung ein, dass es ihm ein besonderes Anliegen war, noch vor der richtungsentscheidenden Europawahl nach Brüssel zu kommen. Das Thema des Abends verstünde er als einen leidenschaftlichen Appell, sich zur Demokratie in Europa zu bekennen. In diesem Kontext habe er zusammen mit Kardinal Marx ein gemeinsames Wort der Kirchen zur Demokratie erarbeitet.
Die aktuelle Situation der Europäischen Union könne man durchaus als krisenhaft bezeichnen. Sichtbarster Ausdruck dieser Legitimations- und Vertrauenskrise sei der Brexit. Insgesamt seien ein erodierender Wertekonsens, schleppende Fortschritte bei der Reform der Eurozone und Zuwächse für europafeindliche und -skeptische Parteien als Ausdruck mangelnden Vertrauens der Staaten untereinander, aber auch zwischen Bürgern und den Institutionen, feststellbar.
Dies sei aber kein Grund, Europa aufzugeben, sondern vielmehr Grund, sich noch stärker dafür einzusetzen. Denn Krisenzeiten seien die produktivsten Phasen, da Gewissheiten infrage gestellt würden und gesteigerter Reflexions- und Handlungsbedarf bestünde. Vertrauen sei dabei eine zentrale Ressource. Dieses benötige eine Grundlage, nämlich das Zutrauen in die Verlässlichkeit von Mustern, Mechanismen und Erfahrungen. Davon habe die Europäische Union eine Menge zu bieten. Die Union habe Frieden und politische Stabilität gebracht: „Nie wieder Krieg zwischen Europäern!“ sei zentraler Gedanke der Pioniere der europäischen Einigung gewesen. Die Integrationsprozesse seien auch für die Bürger immer spürbarer geworden: Schengen habe sich dank der Reisefreiheit für jedermann zum Inbegriff des neuen Europas entwickelt. Das Verbindende habe über das Trennende, nämlich die Schlagbäume und Zollkontrollen, gesiegt. Zunehmend habe sich die Europäische Union auch als Wertegemeinschaft verstanden. Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit ließen dabei als Kernwerte eine große Nähe zu christlichen Grundüberzeugungen erkennen. Die Kirche erkenne und schätze die Ordnungsform der Demokratie als bestmögliche und erträglichste Form der Herrschaft. Auch wenn Martin Luther seinerzeit noch keine wirklich demokratischen Ideen vertreten habe, so zeuge doch seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ von 1520 vom zentralen Begriff der Freiheit. Zudem heißt es schon in der Bibel (2. Korinther 3, 17): „Der Herr ist der Geist. Und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit“. Dieser Vers, der zugleich Bedford-Strohms Bischofsmotto darstellt, sei nach wie vor relevant. Der erste Teil des Verses sei Grundlage der Glaubens- und Gewissensfreiheit gegenüber jeglicher staatlichen Autorität. Der zweite Teil zeige die untrennbare Verbindung von Freiheit und Einsatz für den Nächsten auf.
Die Idee, dass Europa nicht eine Union der Staaten oder Konzerne sei, sondern für den Bürger ein Projekt des Friedens, der Solidarität und Versöhnung darstelle, müsse wieder stärker in den Blick genommen werden. Darum bemühten sich auch die Kirchen etwa im Rahmen von Bürgerdialogen. Dies sei nicht selbstverständlich, da bis in das 20. Jahrhundert starke Vorbehalte gegen die Demokratie bestanden hätten, indem etwa christliche Freiheit als Alternative zur demokratischen Freiheit formuliert worden sei. Das durch den Aufruf eingeforderte Bekenntnis meine keinen religiösen Bekenntnisakt. Sehr wohl aber lasse sich aus Glaubensüberzeugungen Orientierung für politische Fragen gewinnen. Wer glaube, dass der Mensch zum Bilde Gottes geschaffen ist, müsse die Menschenwürde achten und könne etwa angesichts der Diskussionen um Seenotrettung nicht tatenlos zusehen, wie Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Wer die Schöpfung achte, könne nicht den Klimawandel leugnen und sich davor verschließen, dass die ersten Opfer solche sind, die am wenigsten zur Verursachung beigetragen haben. Daher sei es eine Christenpflicht, bei der Wahl demokratische Kräfte zu stärken. Internationale Handelsbeziehungen, Klimafragen und das globale Finanzsystem ließen sich nur in multilateralen Handlungs- und Ordnungsformen realisieren. In diesem Kontext könne die Europäische Union als Vorbild dienen, etwa durch das Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments in allen wesentlichen Bereichen. In einem Bereich habe die Europäische Union bereits eine Vorreiterrolle, nämlich bei der Regulierung der digitalen Ökonomie durch die Datenschutzgrundverordnung. Diese habe größte Anerkennung – nicht zuletzt auch in den USA – erfahren und sei somit zum Vorreiter in der ganzen Welt geworden. Insgesamt bedürfe es klarer Vermittlung zwischen Politik und Bürgern, um zu zeigen, dass fortschrittliche nationale Gesetze oft überhaupt erst das Produkt der EU-Gesetzgebung sind. Auch das Brüsseler Büro bringe sich in diesem Sinne aktiv und vermittelnd in die Meinungsbildungs- und Gesetzgebungsprozesse ein.
Der Ratsvorsitzende betonte sodann, er wünsche sich ein geeintes, solidarisches und friedliches Europa. Das Friedens- und Einigungsprojekt erfordere, dass das Gemeinwohl über das Partikularinteresse gestellt werde. Die Europäische Union müsse auch Verantwortung für die Menschenrechte übernehmen und diese zum Leitbild für eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik entwickeln. Die wichtigste Ressource sei die Hoffnung. Jedes Jahr an Ostern zeige sich die größte aller Hoffnungsbotschaften. Darin zeige sich: Weder der Tod noch Gewalt hätten das letzte Wort. Am Ende siege das Leben. Nach der Offenbarung münde die Geschichte nicht in ein dunkles Loch, sondern gehe auf einen neuen Himmel und eine neue Erde zu. Diese große Hoffnungsgeschichte sollte durch eine Kirche, die sich als vitaler Akteur einer lebendigen europäischen Zivilgesellschaft verstehen solle, als öffentliche Theologie eingebracht werden. Nach Dietrich Bonhoeffer gelte: „Wenn schon die Illusionen bei den Menschen eine so große Macht haben, dass sie das Leben in Gang halten können – wie groß ist dann erst die Macht, die eine begründete Hoffnung hat?“ Deshalb sei es keine Schande, zu hoffen, grenzenlos zu hoffen!

Hier finden Sie das Redemanuskript: http://bit.ly/ekd-NL-161_ZdE-1

Einen Link zum Video finden Sie hier: http://bit.ly/ekd-NL-161_ZdE-2

Nächstes Kapitel