Gott ist ein Freund des Lebens (Erschienen 1989)
I. Gabe und Gefährdung des Lebens
Das Leben ist eine kostbare Gabe - für den Menschen ebenso wie im Blick auf andere Lebewesen und die Existenz von Leben überhaupt. Die Erfahrung von Gefährdung und Verlust des Lebens prägt die Menschen zu allen Zeiten. Manchmal bringt erst eine Erfahrung dieser Art zu Bewußtsein, wie kostbar ein scheinbar selbstverständliches Gut ist. In der Gegenwart vermehren und verstärken sich, zunehmend deutlich wahrgenommen, massive Bedrohungen des Lebens; sie sind im wesentlichen vom Menschen selbst verursacht und richten sich gegen menschliches Leben selbst und gegen das Leben insgesamt. Solche Bedrohungen können lähmen und in die Resignation treiben. Wir sehen in ihnen aber auch Warn- und Rufzeichen und damit die Chance, alle Kräfte zum Schutz des Lebens zu mobilisieren. Als Christen wissen wir: Das Leben ist Gabe Gottes. Gott überläßt seine Gabe nicht den Mächten der Zerstörung. Menschen sind berufen, Gottes Willen zu tun und Leben wie Lebensmöglichkeiten auf der Erde zu bewahren.
(1) Die Gabe des Lebens
Die Besonderheit von Leben zeigt sich schon daran, daß in der Weite des Universums abgesehen vom Planeten Erde Leben bisher nicht nachgewiesen werden konnte. Auf der Erde ist es eine relativ späte Erscheinung. Stets selbstorganisiert stellt es die differenzierteste und insofern höchste Stufe physikalisch-chemischer Gebilde und Vorgänge dar und ist doch allen bloßen Stoffen und deren Austauschverhältnissen gegenüber etwas Eigenes. Dabei zeichnen sich die lebenden Organismen durch eine erstaunliche Gleichartigkeit des Bauplans und zugleich eine ungeheure Vielfalt aus: Das genetische Material weist bei Pflanze, Tier und Mensch wie schon beim Mikroorganismus einen gemeinsamen molekularen Aufbau auf; die Entwicklung des Lebens hat aber von diesen Grundstrukturen aus zu einer verschwenderischen Fülle von Arten geführt. Sowohl die sinnliche Erfahrung als auch wissenschaftliche Untersuchungen machen immer wieder neue Entdeckungen von der Ordnung, der inneren Zweckmäßigkeit und der Schönheit der Lebensphänomene.
Dem Menschen ist Leben immer vorgegeben. Er findet sich vor als "Leben inmitten von Leben" (Albert Schweitzer). Ohne sein Zutun lebt er in einer Welt, die über unvorstellbar lange Zeiträume Leben ermöglicht hat und - sofern die Grundlagen des Lebens nicht zerstört werden - weiter ermöglichen wird. Der Mensch schafft sich nicht selbst, und sein Kultivieren und Entfalten des natürlichen Lebens - bis hin zu den neuesten gentechnischen Eingriffen - setzt immer das gegebene Leben voraus. Er hat unter allen Lebewesen eine Sonderstellung: Er kann sich seiner selbst bewußt werden und sein Leben wie den Lebensraum Erde gezielt, freilich auch mit unbeabsichtigten Nebenfolgen gestalten und verändern - zum Guten wie zum Bösen. So ist die Gabe des Lebens für den Menschen zugleich Aufgabe. Der Mensch kann und soll Verantwortung für den Lebensraum Erde übernehmen.
Die Wahrnehmung des Lebens in seiner Ordnung, inneren Zweckmäßigkeit und Schönheit gibt dem Menschen Anlaß, für die Gabe des Lebens zu danken und über seine Fülle zu staunen. je tiefer er das Wunder des Lebens erkennt, desto bestimmter wird er der Gefahr begegnen können, das Leben selbstherrlich in Verfügung zu nehmen oder es gar zu verachten.
Alles Leben verdient als vorgegebenes Leben entsprechende Achtung. Eingriffe in fremdes Leben sind nicht selbstverständliches Recht des Menschen, sondern bedürfen einer ausdrücklichen Rechtfertigung. Für den Umgang mit anderem menschlichem Leben ist es von grundlegender Bedeutung, jedes Menschenleben als in sich wertvoll, unersetzbar und also unverfügbar zu erkennen und so in seiner Würde zu achten. Niemand hat über Wert oder Unwert eines anderen Menschenlebens zu befinden.
Begrenztheit und Endlichkeit, Verletzlichkeit und Gebrechlichkeit sind Wesensmerkmale alles kreatürlichen Lebens. Das wird deutlich nicht nur an der durchgehenden Erfahrung der Vergänglichkeit, sondern ebenso an dem Umstand, daß sich menschliches Leben nicht umfassend planen läßt und immer wieder mit überraschenden und unvorhergesehenen Widerfahrnissen konfrontiert ist.
(2) Die Gefährdung des Lebens
Als kreatürliches Leben ist Leben auf der Erde immer gefährdet. Niemand ist gegen Krankheit und Unfall geschützt, keiner entgeht dem Tod. Von diesen dem Leben als solchem innewohnenden Gefährdungen sind allerdings die vom Menschen selbst verursachten Gefährdungen zu unterscheiden. Sie haben mit den enorm gewachsenen wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten an Intensität deutlich zugenommen. In den entwickelten Ländern der Erde sind sie weitgehend an die Stelle der in früheren Jahrhunderten im Vordergrund stehenden Lebensgefährdungen durch die Natur, wie z. B. Seuchen, getreten. Zu ihnen zählen heute vor allem:
- die Zerstörung der natürlichen Grundlagen des Lebens (Vergiftung von Boden, Wasser und Luft; Klimaveränderung; Beschädigung der schützenden Ozonhülle u. a.),
- der hohe Konsum von Energie mit den Risiken bzw. schädlichen Folgen ihrer Erzeugung,
- nicht auszuschließende Risiken der Gentechnik,
- das Vernichtungspotential der Waffenarsenale mit ihrer fortbestehenden ins Absurde gesteigerten Vernichtungskraft,
- die Begleiterscheinungen und Auswirkungen des Verkehrs (ca. 8ooo bis 10 000 Tote jährlich allein in der Bundesrepublik Deutschland),
- die Mißachtung tierischen Lebens (besonders auf dem Gebiet der Tierversuche, bei der Tierhaltung und beim Tiertransport).
- Hinzu kommen gegen das Leben gerichtete Handlungen, die nicht - oder doch nicht unmittelbar - mit der wissenschaftlich-technischen Entwicklung der menschlichen Zivilisation zusammenhängen, sondern mehr in der inneren Einstellung des Menschen und breiteren Zeitströmungen wurzeln:
- Suchterscheinungen (Alkoholismus, Drogenabhängigkeit mit der dazugehörigen Beschaffungskriminalität),
- Kindesmißhandlungen,
- Gewalt gegen Frauen,
- Selbstmorde (in der Bundesrepublik Deutschland etwa 11 000 bis 15 ooo Tote im Jahr und mindestens das Zehnfache an Selbstmordversuchen),
- Abtreibungen (für die Bundesrepublik Deutschland werden über 200 000 Abtreibungen im Jahr angenommen),
- Ansätze zur "Euthanasie" (gegenüber schwerkranken Menschen bzw. beim Mißbrauch der mit der pränatalen Diagnostik eröffneten Möglichkeiten gegenüber ungeborenem behindertem Leben).
Hinter solchen Gefährdungen des Lebens stecken in vielen Fällen lebensverneinende Verhaltensweisen und Einstellungen. Sie äußern sich vor allem in übertriebenem Anspruchsdenken und blinder Durchsetzung der eigenen Interessen, in Machbarkeitswahn, in Gleichgültigkeit oder Gewissenlosigkeit. Solche Verhaltensweisen und Einstellungen kommen freilich nicht von ungefähr und sind nicht immer nur Ausdruck einer besonders verwerflichen Gesinnung. Denn sie hängen häufig wiederum zusammen mit den verbreiteten Gefühlen von Zukunftsangst und Sinnlosigkeit, mit Vereinsamung und Erfahrungen von Verlassenheit. Es ist auch kein Zufall, daß die seelischen Erkrankungen erheblich zugenommen haben: Menschen wissen oft nicht, wozu sie leben. Auch stellt die Konfrontation mit den massiven Bedrohungen des Lebens eine gravierende seelische Belastung und Störung dar.
(3) Der Schutz des Lebens
Es gibt keine Rechtfertigung dafür, sich mit den beschriebenen Gefährdungen des Lebens und seiner darin zum Ausdruck kommenden bewußten oder unbewußten Mißachtung abzufinden. Vielmehr bedarf es verstärkter Aufmerksamkeit und Anstrengung, Leben zu erhalten, lebenzerstörenden Tendenzen zu wehren, Ehrfurcht vor dem Leben zu wecken und zum Leben zu ermutigen. Die Bedrohung des Lebens durch die Macht des Bösen ist auf allen Lebensgebieten aufzudecken. Der Schutz des Lebens ist eine allen Menschen, nicht nur den Christen gestellte Aufgabe. Christen werden ihren Einsatz als Tat in der Nachfolge Jesu sehen. Aber bei praktischen Schritten zum Schutz des Lebens kommt es weniger auf die Identifizierbarkeit der eigenen Aktivitäten als vielmehr auf die Zusammenarbeit der nach Herkunft und Orientierung durchaus unterschiedlichen Kräfte an. Was wir brauchen, ist eine umfassende gemeinsame Anstrengung aller zum Schutz des Lebens.
Dazu gehört es auch, die Lebensgefährdungen in ihrem Gesamtzusammenhang wahrzunehmen. Die Ökonomie der Kräfte oder die Einschätzung einer gegebenen politischen Konstellation können für die zeitweilige Konzentration auf ein einzelnes Gebiet des Lebensschutzes sprechen. Aber man kann sich nicht ohne Schaden für die eigene Glaubwürdigkeit auf Dauer nur bestimmten Gefährdungen des Lebens zuwenden und zu anderen schweigen: Wer den Skandal der hohen Abtreibungszahlen bekämpft, kann sich auch mit der Absurdität der Hoch- und Überrüstung nicht abfinden - und umgekehrt; wer Embryonen im Labor vor Forschungsexperimenten schützen will, muß auch für das Leben des ungeborenen Kindes im Mutterleib eintreten - und umgekehrt; wer sich für einen verbesserten Artenschutz und größere Achtung vor dem tierischen Leben einsetzt, darf es erst recht am Engagement für das Lebensrecht jedes menschlichen Wesens nicht fehlen lassen - und prinzipiell , auch umgekehrt.
Zahlreiche Menschen empfinden es angesichts des globalen Ausmaßes heutiger Lebensgefährdungen als weniger vordringlich, für den Schutz einzelner Menschenleben einzutreten: Der Streit etwa um einzelne Fälle von Sterbehilfe und die Achtung vor dem zu Ende gehenden menschlichen Leben stehe, so heißt es, in keinem Verhältnis zu der Bedrohung der ganzen Menschheit durch atomare Waffen oder der natürlichen Lebensgrundlagen der kommenden Generationen. Eine solche Einstellung ist zwar ethisch höchst fragwürdig, weil jedes einzelne menschliche Leben einen Wert in sich darstellt und mit jedem einzelnen Leben das Leben insgesamt geschützt oder verachtet wird. Dennoch ist die in dieser Einstellung zum Ausdruck kommende Beunruhigung ernst zu nehmen und verlangt, daß die Politik, die Institutionen der Gesellschaft und die einzelnen Bürger gerade auch vor den scheinbar übermächtigen Lebensgefährdungen nicht kapitulieren und die daraus sich ergebenden Auseinandersetzungen auf politischer und ökonomischer Ebene nicht scheuen.
Die Kirchen haben teils gemeinsam, teils unabhängig voneinander schon an anderer Stelle zu verschiedenen Fragen des Schutzes des Lebens Stellung genommen. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz von 1985 "Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung", die sich der ethischen Herausforderung des Ökologieproblems stellte. Vertreter nahezu aller Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland haben 1988 zum Abschluß des Forums "Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung" der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen (ACK) in der Erklärung von Stuttgart "Gottes Gaben - unsere Aufgabe" drängende Überlebensfragen der Gegenwart behandelt. Die Europäische Ökumenische Versammlung "Frieden in Gerechtigkeit", die 1989 von der Konferenz Europäischer Kirchen und dem Rat der Bischofskonferenzen Europas durchgeführt worden ist, hat in ihrem Schlußdokument und in ihrer Botschaft die Fragen aus gesamteuropäischer Perspektive thematisiert.
In diesem weiten Problemhorizont bewegt sich auch die vorliegende Schrift. Sie setzt allerdings einen besonderen Schwerpunkt, indem sie sich nach der Erörterung der Grundfragen auf fünf ausgewählte aktuelle Problemfelder konzentriert, die den Schutz eines je einzelnen menschlichen Lebens betreffen: Im Blick auf
- die Forschung an Embryonen,
- das ungeborene Leben während der Schwangerschaft,
- das behinderte menschliche Leben,
- die Organverpflanzung und
- das zu Ende gehende menschliche Leben
steht konkret das Leben menschlicher Individuen auf dem Spiel. Ziel dieser Schrift ist es, eine umfassende gemeinsame Anstrengung aller zum Schutz des Lebens in Gang zu setzen und zu fördern. Das hat zur Voraussetzung, daß in der Konzentration auf einzelne Gebiete des Lebensschutzes der Gesamtzusammenhang heutiger Lebensgefährdung nicht aus dem Auge verloren wird.