Gott ist ein Freund des Lebens (Erschienen 1989)
II. Besinnung auf die Botschaft der Bibel
Angesichts gegenwärtiger Aufgaben fragen Christen nach Orientierung aus der Bibel. Sie lassen sich dabei von der Überzeugung leiten, daß den so gewonnenen Einsichten nicht nur Christen zustimmen können.
Freilich ist der Schutz des Lebens - jedenfalls in der heute gegebenen Zuspitzung - eine moderne Problemstellung. Die Bibel kennt zwar durchaus die zusammenfassende Sicht auf alles Lebendige (z. B. Gen. 1 Mose 8,21; Ps 145,16: "alles, was lebt"). Aber die massiven Bedrohungen des Lebens waren weithin andere als heute (natürliche Dürrephänomene, Seuchen, regionale Verwüstung und Entvölkerung durch Kriege). Vor allem überstieg es die Vorstellungskraft, daß der Mensch selbst Machtmittel in die Hand bekommen könnte, die das Leben der Menschen und vieler anderer Lebewesen insgesamt zu gefährden in der Lage sind.
Leben, Lebensgewährung und Lebensschutz sind gleichwohl herausragende biblische Themen. Dies ergibt sich schon daraus, daß Gott und Leben aufs engste zusammengedacht werden.
(1) Gott ist Leben
Die Existenz und der Bestand von Leben hängen an Gott. Denn er schafft, will und erhält das Leben. Er ist in sich selbst lebendig und als "Quelle des Lebens" (Ps 36,10) unterschieden vom geschaffenen, damit endlichen, natürlichen Leben. Wer sich an Gott und an sein Wort hält, dem verheißt die Bibel Leben. "Sucht mich, dann werdet ihr leben" (Am 5,4; vgl. Lk 1o,28; Phil 2,16). Die Verknüpfung von Leben und Gott tritt besonders ausgeprägt in den johanneischen Schriften des Neuen Testaments hervor: Christus nennt sich dort selbst das Leben (Joh 11,25; 14,6), und er wird bezeugt und bekannt als das Leben, durch das alle Dinge gemacht sind (Joh 1,3 f; 1 Joh 1,2). So wird deutlich, daß Leben, weil es von Gottes Leben durchdrungen ist, mehr ist als das natürliche Leben. Es sucht ja auch jeder Mensch nach einem guten, gelingenden Leben. Darum kann das natürliche Leben auch nicht einen höchsten und letzten Wert darstellen: "Wer sein Leben retten will, wird es verlieren" - heißt es in einem Nachfolgewort Christi - , "wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten" (Lk 9,24; Joh 12,24f).
(2) Gott als Schöpfer des Lebens
Daß Gott die Quelle des Lebens ist, zeigt sich in der Bibel in elementarer Weise an der Erfahrung der Gewährleistung von Leben: "Alle Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zur rechten Zeit. Du öffnest deine Hand und sättigst alles, was lebt, nach deinem Gefallen" (Ps 145,15f). In dieser Hinsicht ist der Mensch Leben neben anderem Leben und sein Bereich einer unter anderen Lebensbereichen.
Wie alles Leben so hat auch das menschliche Leben seine Eigendynamik und seine soziale Dimension. Das menschliche Leben braucht die Annahme durch die Mitmenschen. Daß Leben in ethischer Betrachtung ein Gut und einen Wert darstellt, hängt freilich nicht an seinem Angenommensein durch Menschen; jedes Lebewesen hat aufgrund seiner Annahme durch Gott einen eigenen Wert und Sinn.
Der große Schöpfungspsalm 104 beschreibt die natürliche Welt als ein umgreifendes Geschehen stetiger Zukehr des Schöpfers, die allem Leben immer schon vorgegeben ist und Lebensraum, Lebensversorgung und Lebensfrist für alles Lebendige gewährt. Dem Sinne nach machen die beiden Schöpfungserzählungen Gen / 1 Mose 1 - 2 die gleiche Aussage: Denn sie bezeugen in der Form einer Erzählung über zurückliegende Ereignisse den Grund dessen, was ist und was sein soll. Dargelegt wird, was für immer gegeben und gültig ist, nämlich das Wunder, daß das Lebendige stetig und unverfügbar Ereignis wird und besteht. Die alttestamentlichen Aussagen über die Erschaffung der Welt und die Erhaltung des Lebens sind - vor dem Hintergrund entsprechender altorientalischer Texte - teilweise von der Vorstellung bestimmt, daß Lebensraum und Lebensmöglichkeiten dem Chaos abgetrotzt und gegenüber dem Chaos im Bestand gehalten sind; darin drückt sich das auch für die heutige Wahrnehmung von Welt noch wichtige und gültige Lebensgefühl aus, daß angesichts der machtvollen Kräfte von Unordnung und Chaos die Existenz der lebengewährenden Erde ein Wunder ist und in dankbares Staunen führt. Der Angewiesenheit alles Lebendigen auf Gott entspricht seine Bestimmung zum Gotteslob: "Lobt den Herrn, alle seine Werke, an jedem Ort seiner Herrschaft! " (Ps 103,22). Die Fülle des Lebens und der ganze Kosmos sind ein Lob des Schöpfers (Ps 8; 148).
(3) Mächte der Lebenszerstörung
Die vorfindliche Welt gewährleistet Leben und lobt ihren Schöpfer, obgleich ihre faktische Beschaffenheit nicht mehr "sehr gut" (Gen/ 1 Mose 1,31) genannt werden kann. Die Bibel ist bestimmt von der Sicht, daß das natürliche Leben und das Zusammenleben des Lebendigen tiefgreifend gestört sind. Sie bezeichnet die Mächte der Lebensstörung und -zerstörung mit dem Begriff der Sünde; Sünde und Tod gehören eng zusammen (Röm 6,23). Die Sünde hat viele Namen und Gestalten: sich selbst leben (2 Kor 5,15), in der Nichtigkeit seines eigenen Sinnes leben (Eph 4,17ff), nach dem Fleisch leben (Röm 8,13; Gal 5,16ff), im Ungehorsam gegen Gott leben (Dtn/5 Mose 30,15ff) - immer geht es um die Gedankenlosigkeit und die Überheblichkeit, welche die geschöpflichen Grenzen nicht anerkennt. Die Erzählung vom "Fall" des Menschen Gen/ 1 Mose 3 überliefert nicht einfach Ereignisse einer Vorzeit, sondern weist darin grundlegende Gegebenheiten der Erfahrungswelt auf; sie sieht den Kern der Lebensstörung und -zerstörung in dem Umstand, daß der Mensch der Versuchung erliegt, sein zu wollen wie Gott und selbst zu bestimmen, was ihm und seiner Mitwelt förderlich ist (V5). Statt sich an Gott zu orientieren, der ihm sein Leben und eine Leben gewährleistende Welt gab, orientiert sich der Mensch an sich selbst und seinen eigensinnigen Vorstellungen, Bestimmungen, Interessen.
(4) Gott schützt das Leben
Trotz der Sünde und ihrer zerstörerischen Folgen bleibt das Leben auf der Erde erhalten. Denn Gott schützt das Leben. Schon in der Urgeschichte (Gen/1 Mose 1-12,3) zeigt die Bibel, wie Gott dem Anwachsen des Fluches, der Lebensminderung und -zerstörung Kräfte der Lebensbewahrung und des Segens entgegenstellt. Am Ende der Sintflutgeschichte wird von einer Selbstbindung Gottes berichtet, und damit kommt die Zuversicht auf, daß niemals wieder, solange die Erde steht, eine derart umfassende Vernichtung des Lebens stattfinden wird: "Ich will die Erde wegen des Menschen nicht noch einmal verfluchen; denn das Trachten des Menschen ist böse von Jugend an ... Solange die Erde besteht, sollen nicht aufhören Aussaat und Ernte, Kälte und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht" (Gen/ 1 Mose 8,21f). Diese Verse formulieren eine abgründige, aber gültige Erkenntnis: Der Mensch bleibt, wer er ist, "böse von Jugend an"; aber Gott zieht eine andere Konsequenz, er legt sich darauf fest, daß nicht noch einmal eine solche Zerstörung eintreten wird, und bekräftigt dies im Zeichen des Regenbogens durch den Noach-Bund (Gen /1 Mose 9,8ff).
Das Vertrauen, daß Gott alles Lebendige hebt und schont, kommt in großer Eindringlichkeit noch einmal in einem späten Text des alten Israel zum Ausdruck: "Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von allem, was du gemacht hast; denn hättest du etwas gehaßt, so hättest du es nicht geschaffen. Wie könnte etwas ohne deinen Willen Bestand haben, oder wie könnte etwas erhalten bleiben, das nicht von dir ins Dasein gerufen wäre? Du schonst aber alles, weil es dein Eigentum ist, Herr, du Freund des Lebens. Denn in allem ist dein unvergänglicher Geist" (Weisheit Salomos 11,24-12,1).
Freilich bewahrt sich die Bibel, auch wenn sie Gott "Freund des Lebens" nennt, einen nüchternen Blick für die harte und erschreckende Realität der Lebensphänomene. Leben lebt immer auch auf Kosten anderen Lebens. In der "sehr guten" Schöpfungswelt von Gen/ 1 Mose 1 ist Tieren und Menschen das pflanzliche Leben als Nahrung zugewiesen (V29f). In der vorfindlichen Welt, die vom Einbruch des Bösen gezeichnet ist, herrscht Feindschaft zwischen den Lebewesen, reißt der Wolf das Lamm, werden Tiere für die menschliche Ernährung geschlachtet, ja sogar: bringen Menschen einander um. Immerhin macht die biblische Urgeschichte sehr deutlich, daß pflanzliches und tierisches Leben dem Menschen keineswegs selbstverständlich zur Verfügung steht; der Eingriff in anderes Leben bedarf der besonderen Freigabe und Ermächtigung durch Gott, wie sie im Blick auf die tierische und menschliche, Ernährung in Gen/1 Mose 1,29f bzw. Gen/1 Mose 9,2f gegeben werden. Übergriffe auf andere Menschenleben sind prinzipiell gegen Gottes Ordnung; sie werden darum mit Sanktionen bedroht (z. B. Gen/ 1 Mose 9,5f); kategorisch fordert das 5. (6.) Gebot: "Du sollst nicht morden!"
Das Wirken Gottes als eines Freundes des Lebens soll im Wirken der Menschen seine Entsprechung finden. Das 5. (6.) Gebot markiert hier nur eine äußerste Grenze. Die Werke des lebendig machenden Geistes sind Liebe, Friede, Güte, Treue, Sanftmut, Gerechtigkeit (Gal 5,22f; Eph 5,9), die sich im Umgang mit allem Lebendigen bewähren müssen. Darum heißt es auch im Alten Testament über das Verhältnis des Menschen zum Tier: "Der Gerechte weiß, was sein Vieh braucht, doch das Herz der Frevler ist hart" (Spr 12,10).
(5) Die Begrenztheit des kreatürlichen Lebens
Alles kreatürliche Leben ist begrenzt und vergänglich. Darin erblickt die Bibel prinzipiell keinen Mangel des Lebens: Auch in der "sehr guten" Schöpfungswelt gehört die Sterblichkeit zum menschlichen Leben (Gen/ 1 Mose 2,9; 3,22); unter den Fluchfolgen der Sünde (Gen/1 Mose 3,14-19) erscheint das Sterbenmüssen als solches nicht; der Wunsch, unter den Bedingungen der Kreatürlichkeit dem Sterbenmüssen überhaupt zu entgehen, ist erst der Wahn des von der Sünde verblendeten Menschen (Gen /1 Mose 3,22). Auch in der vorfindlichen Welt gibt es noch die Erfahrung, daß der Tod gelassen und zustimmend als natürliche Grenze akzeptiert wird ("betagt und lebenssatt sterben": Gen /1 Mose 25,8). Aber weil in der von der Sünde gestörten Welt das menschliche Leben immer hinter seiner Bestimmung zurückbleibt, wird der Tod jetzt als schmerzlicher Abbruch und als Zerstörung des Lebens erfahren. Indem der Tod von der Sünde geprägt wird (Röm 5,12ff; 6,23), trennt er von Gott und bedarf der Überwindung durch ein Leben aus Gott, das dem Tod und allem Tödlichen überlegen ist. Hinzu kommt die Erfahrung des "bösen Todes", also eines Todes, der gemessen an der üblichen Lebenslänge zu früh eintritt oder sich unter Qualen vollzieht. Daraus erwächst der Wunsch, dem Tod zu entgehen bzw. ihn aufzuschieben. Vor diesem Hintergrund sind die Aussagen der Bibel zu lesen, in denen ausdrücklich daran erinnert wird, die Sterblichkeit des Lebens zu bedenken: "Herr, tu mir mein Ende kund und die Zahl meiner Tage! Laß mich erkennen, wie sehr ich vergänglich bin!" (Ps 39,5; vgl. Ps 90; Ijob/ Hiob 14,1 ff)
(6) Das Seufzen und Stöhnen der Kreatur
Das Neue Testament sieht den Leidenszustand der Schöpfung und die vielfältigen Minderungen und Verletzungen des Lebens in einer Perspektive der Hoffnung. Am eindrücklichsten geschieht dies bei Paulus im 8. Kapitel des Römerbriefs: "Die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Die Schöpfung ist der Vergänglichkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat; aber zugleich gab er ihr Hoffnung: Auch die Schöpfung soll von der Sklaverei und Verlorenheit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, daß die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt" (Röm 8,19-1,22).
An diesem Abschnitt wird deutlich: Das Neue Testament und insbesondere die paulinischen Briefe, denen gelegentlich eine Orientierung allein am menschlichen Individuum und an der Erlösung des einzelnen unterstellt wird, haben die gesamte Kreatur und Lebenswelt im Blick; der Zustand der kreatürlichen Welt wird als Existenz in Unfreiheit, Nichtigkeit, Seufzen und sehnsüchtigem Harren qualifiziert; zwischen der Erlösung der Menschen und der Erlösung der ganzen Kreatur besteht eine Beziehung. Daraus ergibt sich auch, daß die Menschen die Wende im Zustand der außermenschlichen Schöpfung nicht selbst herbeiführen können: Der Geduld der Christen in der Gegenwart entspricht das Warten und Seufzen der Schöpfung; beides ist eine Gestalt der Hoffnung. Aber wie es im menschlichen Leben Anfänge und Vorzeichen der kommenden Erlösung gibt (z. B. 2 Kor 5,17ff; Gal 5,16ff; Eph 4,17ff), so kann die neue Schöpfung auch in der gesamten Lebenswelt durch entsprechendes Handeln und Verhalten der Menschen zeichenhaft sichtbar werden.
(7) Das ewige Leben
Das vorfindliche Leben, so reich und vielfältig es trotz aller Einbußen ist, ist nicht die ganze Fülle des Lebens. Es war schon davon die Rede, daß Gott selbst als "das Leben" bzw. die "Quelle des Lebens" bezeichnet wird. So kennt die Bibel über das natürliche, kreatürliche Leben hinaus die Wirklichkeit des ewigen Lebens (z. B. Mt 19,16; Joh 10,28; Gal 6,8; 1 Tim 6,12). Die Hoffnung auf eine bleibende Rettung des einzelnen zeichnet sich bereits in einigen späteren Texten des Alten Testaments ab (z. B. Ps 49,16; 73,23-26; Dan 12,2). Das ewige Leben ist freilich mehr als ein "Leben danach": Es ist ein Leben, das kraft der Auferstehung Christi von der Herrschaft des Todes befreit und im Glauben an Christus schon gegenwärtig wirksam ist. Es baut auf Gottes Treue zum Leben, hält in allen Belastungen und Gefährdungen an der Hoffnung auf den Sieg des Lebens über den Tod fest und vollendet sich in der ewigen Gemeinschaft mit Gott. Ewiges Leben bezeichnet letztlich den Anteil an der umgreifenden Fülle des Lebens Gottes, aus der und in der zu leben der mit Christus im Glauben verbundene Mensch jetzt schon anfängt (z. B. Joh 3,15; Röm 6,23; Phil 1,21). Im Glauben an das ewige Leben wird das Vorletzte des vorfindlichen natürlichen Lebens nicht mit dem Letzten der Wirklichkeit Gottes verwechselt: "Wenn wir unsere Hoffnung nur in diesem Leben auf Christus gesetzt haben, sind wir erbärmlicher daran als alle anderen Menschen" (1 Kor 15,19).