Gott ist ein Freund des Lebens (Erschienen 1989)
IV. Die besondere Würde des menschlichen Lebens
1. Der Mensch - das "Bild Gottes"
Die Vorstellung vom Menschen als dem "Bild Gottes" stammt aus dem ersten Schöpfungsbericht der Bibel (Gen/ 1 Mose 1,26f). Nach der heute vorherrschenden Deutung zielt ihr ursprünglicher Sinn darauf, daß der Mensch für die Schöpfungswelt zum Repräsentanten und Statthalter Gottes eingesetzt ist. jedoch verbinden sich in der Auslegungsgeschichte von Gen/1 Mose 1,26f und im Denken und Glauben der Kirche mit dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen weiter gefaßte Inhalte. Die Gottebenbildlichkeit wird darum in der geistigen Welt des Christentums zu einem Zentralbegriff in der Beschreibung der besonderen Würde des menschlichen Lebens. Auch Art. 1 Abs. 1 des Grundgesetzes steht in diesem Traditionszusammenhang: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. "
Für die inhaltliche Fassung der Gottebenbildlichkeit waren vor allem zwei Interpretationen einflußreich: Im Anschluß an griechisches Denken wurde der Akzent auf die Geistigkeit, die Rationalität und Freiheit des Menschen gelegt und vor allem die Individualität jedes Menschen, der mit einer vernünftigen Seele begabt ist, betont. Für Kant besteht die Würde des Menschen in seiner Fähigkeit zu seiner sittlichen Selbstbestimmung, woraus zugleich folgt, daß der Mensch von keinem, auch nicht von sich selbst, bloß als Mittel gebraucht werden darf und immer auch Zweck an sich bleiben muß. Beide Deutungen enthalten richtige Momente, müssen aber in einen weiteren Zusammenhang gestellt werden:
- Daß der Mensch und nur er unter allen Lebewesen "Bild Gottes" genannt wird, ist zunächst Ausdruck seines Herausgehobenseins aus der Natur. Dieses Herausgehobensein läßt sich an einzelnen Phänomenen aufweisen: Differenziertheit des organischen Systems, biologische Unspezialisiertheit, Weltoffenheit, Rationalität, Sprache, Bewußtsein, Selbstbestimmung, Gewissen u. a.
- Die Qualifizierung als "Bild Gottes" gilt nicht allein der menschlichen Gattung, sondern jedem einzelnen Menschen. Individuelle Besonderheit ist ein Wesensmerkmal des Menschseins. Jeder Mensch ist als solcher einmalig, jede mitmenschliche Begegnung eine neue Erfahrung. Diese Einmaligkeit zeigt sich nicht nur in individuellen Merkmalen (Geburtsdatum, Größe, Gewicht, Farbe usw.), sondern etwa auch in den Gedanken und Sorgen, welche sich ein Mensch über seine natürliche und geschichtliche Individualität macht; sie bilden eine je einmalige Innenwelt. Insofern ist jeder Mensch unersetzlich.
- Theologisch entspricht dem die Sicht, daß jeder einzelne Mensch sich verstehen darf als von Gott geschaffen und gewollt und diese Beziehung zwischen Gott und Mensch ihre Erfüllung gefunden hat in Christus, in dem Gott den Menschen, jeden Menschen unbedingt angenommen hat. So kann man sagen, daß jeder Mensch vor Gott und den Menschen einen eigenen Wert und Sinn besitzt. Diese Auszeichnung des Menschen ist unverlierbar, wie immer der Mensch beschaffen ist und was immer mit ihm geschieht - und sei er in seinen Lebensäußerungen noch so eingeschränkt. Er behält seinen Eigenwert. Alles kommt dann letztlich und entscheidend darauf an, daß im Blick auf jeden Menschen gilt: "Ich glaube, daß Gott mich und mein Leben will" und daß auch in der Begegnung mit anderen jedes Menschenleben als ein eigener Wert und Sinn geachtet wird.
- Gottebenbildlichkeit beinhaltet schließlich eine besondere Berufung des Menschen. Gott beruft den Menschen in seine Gemeinschaft; er würdigt ihn, sein Gegenüber zu sein, also: in Beziehung auf Gott zu leben, und an seiner Herrlichkeit teilzuhaben. Auch diese Berufung gilt uneingeschränkt jedem menschlichen Wesen und ist nicht an bestimmte Ausprägungen des individuellen Menschseins gebunden.
2. Das unbedingte Lebensrecht jedes einzelnen Menschen
Schon in der biblischen Urgeschichte ist das unbedingte Lebensrecht jedes einzelnen Menschen eine direkte Konsequenz aus seiner Gottebenbildlichkeit (Gen/ 1 Mose 9,6). Das Leben eines anderen Menschen darf nicht angetastet werden: "Du sollst nicht morden" (Ex/ 2 Mose 20,13). Die Bibel selbst kennt den Konflikt zwischen dem eigenen Lebensrecht und dem des anderen und trifft darum z. B. für Notwehr oder die Anwendung der Todesstrafe besondere Regelungen; jedoch hat das Gebot zum Schutz anderen menschlichen Lebens, zumal wenn man es im Licht der neutestamentlichen Botschaft liest, eine Tendenz zur Ausweitung und zu strengerer Auslegung.
Auch im Grundgesetz folgt im übrigen auf die Statuierung der Unantastbarkeit der Würde des Menschen die Garantie des Lebensrechts: "Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit ... jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit" (Art. 2).
Von der Sache her ist die Verknüpfung des Gedankens der Gottebenbildlichkeit bzw. der Würde des Menschen mit dem unbedingten Lebensrecht jedes einzelnen Menschen zwingend. Denn mit Gottebenbildlichkeit bzw. Würde des Menschen ist ein prinzipielles Selbstbestimmungsrecht mitgesetzt. Jeder soll zeigen dürfen, daß er selbst etwas sein kann, etwas Besonderes, unter seinesgleichen Eigenes. Dann hat aber keiner ein unbeschränktes, eigenmächtiges Recht über den anderen, das nicht spätestens am physischen Leben des anderen endet. Wert oder Unwert eines anderen Menschenlebens entziehen sich auch schlicht unserer Kenntnis. Nur der einzelne selbst kann im Blick auf sein Leben zu bestimmen suchen, was ihm sein Leben lebenswert, wesentlich und fruchtbar macht. Und doch ist jeder ungleich mehr und anderes, als er von sich weiß; er schöpft mit seinem Wissen von sich nie aus, was er für sich und für die anderen ist. Jeder Lebenstag hält Neues, noch Unbekanntes bereit. Folglich hat kein Mensch Recht und Kompetenz, inhaltlich definierend festzulegen, was das Leben eines anderen - oder sein eigenes Leben - ist und ausmacht. Und schon gar kein Recht kann es beanspruchen, an der eigenen Vorstellung vom Wert oder Unwert des Lebens andere messen zu wollen, um ihnen daraufhin gegebenenfalls den Lebenswert, die Qualität zu leben, also das Recht zu leben abzusprechen.
3. Der Mensch als Person: Eine Begriffsklärung
Der theologische Begriff der Person ist im Zusammenhang trinitarischer und christologischer Klärungen zwischen dem 2. und 5. Jahrhundert in Anknüpfung an einen Sprachgebrauch der römischen Antike eingeführt worden und diente ursprünglich zur Präzisierung des Redens über Gott. Sekundär wurde er auf die menschliche Individualität übertragen und ist verschiedentlich zu einem Schlüsselbegriff der theologischen (und auch der philosophischen) Anthropologie geworden. Der Begriff Person ist dabei die in einem einzigen Wort konzentrierte Zusammenfassung dessen, was die christliche Tradition über das Sein und die Würde des Menschen zu sagen hat, und charakterisiert das qualitativ Einmalige des menschlichen Lebens in seinem Zusammenhang mit dem Leben der Natur wie in seiner Unterschiedenheit von der übrigen Natur.
Ein so gefaßter Personbegriff enthält im wesentlichen folgende Dimensionen:
- Person in der Spannung von Vorgegebensein und Aufgegebensein: Die menschliche Person ist durch ihre leibliche Verfaßtheit eingebunden in das Leben, seine Bedingungen, Gesetzlichkeiten und Rhythmen. Sie ist insofern Naturwesen und Kulturwesen. Zu den natürlichen und geschichtlichen Bedingungen kann sich die menschliche Person aber in unterschiedlicher Weise verhalten. Sie ist sich selbst gegeben und aufgegeben.
- Personalität zwischen Individualität und Sozialität: Jeder Mensch ist einmalig. Auf der anderen Seite ist er sowohl natural wie personal auf andere Menschen angewiesen und für andere da. Er kann seine naturalen Bedürfnisse nur gesellschaftlich befriedigen, und er bedarf personal der Anerkennung durch andere. In-sich-sein und Für-sich-sein ist ohne Mit-anderen-sein und Für-andere-sein gar nicht denkbar. Erst in Solidarität und Liebe findet die Person voll zu sich selbst. Das Urbild dieses relationalen Personverständnisses ist für den Christen das Dasein Jesu Christi für andere.
- Die unbedingte Würde der menschlichen Person: Theologisch gesehen konstituiert die Anerkennung des Menschen durch Gott den Menschen als Person. Das mitmenschliche und gesellschaftliche Verhalten macht und setzt darum nicht die personale Würde des anderen; es anerkennt sie. Daraus ergibt sich eine Reihe von Konsequenzen:
- Wert und Würde des Menschen bestimmen sich letztlich nicht aus seinen Funktionen, Leistungen, Verdiensten oder aufgrund bestimmter Eigenschaften, schon gar nicht nach individuellem oder sozialem Nutzen und Interesse.
- Die Person hat einen Vorrang vor Sachen, somit vor Institutionen, wirtschaftlichen Prozessen, Interessen u. a. Menschen dürfen deshalb für andere Menschen nie nur Mittel zum Zweck sein.
- Menschen dürfen nicht in dem Sinn über das Leben anderer Menschen - und ihr eigenes Leben - verfügen, daß sie sich zu Herren über Leben oder Tod machen.
- Das schließt nicht aus, daß ein Mensch aus freiem Willen sein eigenes Leben hingibt im Dienst für anderes menschliches Leben und im Dienst für Gott. Solche frei übernommene Lebenshingabe ist sogar höchste Erfüllung der Bestimmung des Menschen, Hüter des Lebens zu sein. Im Dasein für andere findet er das Leben für sich (Lk 9,24; Joh 12,24f).
4. Die Würde des vorgeburtlichen Lebens
Zwischen dem ungeborenen und dem geborenen menschlichen Leben bestehen fraglos in einer Reihe von Hinsichten Unterschiede. Darum ist auch die anthropologische und ethische Beurteilung des vorgeburtlichen Lebens strittig. Die Hauptfragen lauten: Gelten die Aussagen über Gottebenbildlichkeit bzw. Würde des Menschen auch für das vorgeburtliche menschliche Leben? Hat das vorgeburtliche Leben ethisch gesehen Anspruch auf den gleichen Schutz seines Lebens wie das geborene menschliche Leben?
- Die embryologische Forschung hat zu dem eindeutigen Ergebnis geführt, daß
- von der Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle an ein Lebewesen vorliegt, das, wenn es sich entwickelt, gar nichts anderes werden kann als ein Mensch,
- dieses menschliche Lebewesen von Anfang an individuelles Leben ist und der Fall nachträglicher Zellteilung, die zum Entstehen eineiiger Zwillinge führt, diesen grundlegenden Sachverhalt nicht aufhebt,
- der weitere Entwicklungsprozeß einen kontinuierlichen Vorgang darstellt und keine einsichtig zu machenden Einschnitte aufweist, an denen etwas Neues hinzukommt.
- Richtig ist, daß das noch nicht geborene Kind in spezifischer Weise von einem bestimmten Menschen, der das Kind austragenden Frau, abhängig ist. Es ist jedoch damit nicht Teil der Frau, sondern ein eigenständiges anderes menschliches Wesen. Nur weil das ungeborene Kind ein anderes menschliches Individuum ist, das jetzt in der Schwangerschaft und künftig nach der Geburt Aufgaben stellt und Verantwortungspflichten auferlegt, stellt sich überhaupt das Problem der Abtreibung.
- Richtig ist auch, daß die Geburt für Eigenständigkeit und Selbstbestimmung des Kindes eine hervorgehobene Bedeutung hat. Das noch nicht geborene Kind ist in seiner Eigenständigkeit noch nicht erprobt; noch konnte es sich nicht zeigen in dem, was es ist. Erst mit der Geburt vermag sich das Kind für viele andere wahrnehmbar als ein Eigenwesen zu verhalten, das aus sich zu leben beginnt und also nicht mehr gänzlich von seiner Mutter abhängig ist. jedoch unterscheiden sich die vorgeburtliche Phase und der erste Lebensabschnitt des geborenen Kindes im Blick auf Eigenständigkeit und Selbstbestimmung lediglich graduell. Die Anlage zur uneingeschränkten Ausübung des Menschseins ist im vorgeburtlichen Leben von Anfang an enthalten und entfaltet sich in einem Prozeß, der auch mit der Geburt keineswegs abgeschlossen ist.
- So gibt es keinen Grund, die Aussagen über Gottebenbildlichkeit bzw. Würde des Menschen nicht auch auf das vorgeburtliche menschliche Leben zu beziehen oder ihm den Anspruch gleichen Schutzes wie für das geborene Leben zu verweigern. Aus theologischer Perspektive ist überdies festzuhalten: jedes menschliche Leben erhält einen eigenen Wert und Sinn, indem Gott es schafft, ruft, achtet und liebt; der Mensch hat eine unverlierbare Würde, weil Gott ihn berufen hat, sein Gegenüber zu sein, und ihn in Jesus Christus unbedingt angenommen hat; ungeborene Kinder sind dabei mitgemeint (vgl. Ijob/Hiob 31,15; Ps 139,13-16; Jer 1,5). Gottes Annahme des ungeborenen menschlichen Lebens verleiht ihm menschliche Würde. Daraus folgt die Verpflichtung, daß auch die Menschen das ungeborene menschliche Leben annehmen und ihm den Schutz gewähren sollen, der der menschlichen Person gebührt.
- Was theoretisch als richtig und wahr erkannt ist, muß freilich unter den Menschen erfahren und in den Konsequenzen gelebt und praktiziert werden. Hier liegen gegenwärtig die Hauptprobleme:
- In der Sprache drückt sich eine bestimmte Deutung der Wirklichkeit aus. Geburt heißt in der deutschen Sprache auch: "zur Welt bringen". In bestimmter Hinsicht ist es richtig, daß die "Welt" des Embryo der Leib der Mutter ist und das Kind erst durch die Geburt in eine offenkundige Verbindung mit der Welt im weiteren Sinne, also mit anderen Menschen und den äußeren Lebensbedingungen gebracht wird. Nur kann der Ausdruck "zur Welt bringen" den fragwürdigen Eindruck erwecken, das vorgeburtliche Leben sei noch gar nicht "auf der Welt". Wir sprechen im Blick auf das geborene Kind von ersten Lebensmonaten oder Lebensjahren - als ob die vorgeburtliche Phase noch nicht wirklich zum Leben gehörte. So sind wir auf der Ebene der Sprache in einer unzulänglichen Deutung der Wirklichkeit befangen; sie läßt sich aber nicht mit einem einmaligen Willensakt, sondern nur langfristig verändern.
- Es ist ein Unterschied, wie das Menschsein des Embryo auf der theoretischen Ebene erfaßt und beschrieben und wie es im Lebensvorgang wahrgenommen und erlebt wird. Diese Wahrnehmung ist abhängig vom Stadium der Schwangerschaft und von der Einstellung der Mutter, des Vaters oder des Betrachters. In den ersten Lebenswochen und -monaten macht sich der Embryo kaum als eigenständiges neues Leben bemerkbar; neue medizinische Verfahren wie die Ultraschallaufnahme haben in dieser Beziehung erst in jüngerer Zeit einen Wandel angebahnt. Die Intensität des Erlebens und Wahrnehmens hängt im übrigen mit der Einstellung zu dem ungeborenen Kind zusammen; der Wunsch nach einem Kind etwa hilft der Wahrnehmung. Ohne daß die Wahrnehmbarkeit zu einem Kriterium der Schutzwürdigkeit werden kann, läßt sich gleichwohl formulieren: Das ungeborene menschliche Leben wird immer besser wahrnehmbar als das, was es ist.
- Psychologisch betrachtet ist die Schwelle zur Tötung gegenüber dem ungeborenen menschlichen Leben faktisch niedriger als im Falle der Tötung bereits geborenen oder herangewachsenen Lebens: zum einen, weil man sich beim ungeborenen menschlichen Leben weithin nicht vorstellt, daß man ein Menschenleben tötet, zum anderen, weil der Umfang seiner Schutzwürdigkeit in Vergangenheit und Gegenwart immer strittig war. Abtreibung war und ist eine gesellschaftliche Realität und eine mehr oder minder leicht zugängliche Möglichkeit. Dies rechtfertigt sie nicht, stellt aber eine der Schwierigkeiten dar, von der Einsicht in das richtige Handeln zu einer allgemein gelebten Praxis zu kommen.
- Aus diesen Überlegungen folgt der Auftrag, das ungeborene menschliche Leben zu achten und zu schützen. Der Schutz des Lebens ist nicht nur eine individuelle, sondern eine solidarische und öffentliche Aufgabe und damit auch eine der Rechtsordnung. Ziel alles staatlichen Handelns muß es sein, den Schutz und die Förderung des ungeborenen wie des geborenen menschlichen Lebens zu verbessern und das allgemeine Bewußtsein von der Unverfügbarkeit anderen menschlichen Lebens auch im vorgeburtlichen Stadium zu verstärken.
5. Die Würde des durch Krankheit, Behinderung und Tod gezeichneten Lebens
Auch das durch Krankheit, Behinderung oder Tod gezeichnete Leben hat als menschliches Leben eine unverlierbare Würde. Selbst schwerwiegende Beeinträchtigungen des Lebensvollzugs, vollständige Hilflosigkeit und ein hoher Aufwand an Pflege und Betreuung können es unter keinen Umständen rechtfertigen, den betroffenen Menschen die Würde abzusprechen oder ihre Würde als eingeschränkt anzusehen. Dies ausdrücklich festzustellen erscheint angesichts der in Deutschland unter völlig unverantwortlichen und verwerflichen Schlagworten wie "lebensunwertes Leben" oder "Ballastexistenzen" begangenen Verbrechen nach wie vor dringend nötig. Gegenwärtig gibt es Anzeichen für das erneute Aufkommen des Ungeistes, "lebensunwertes" von "lebenswertem" oder "wertvollem" Leben unterscheiden zu wollen. Demgegenüber sagen wir mit aller Entschiedenheit: Jeder Mensch, wie immer er ist, gesund oder krank, mit hoher oder mit geringer Lebenserwartung, produktiv oder eine Belastung darstellend, ist und bleibt "Bild Gottes". Die Überzeugung, daß letztlich nicht eigene Qualitäten, sondern Gottes Annahme und Berufung dem Menschen Gottebenbildlichkeit und damit seine Würde verleihen, muß sich gerade gegenüber dem kranken, behinderten und sterbenden Leben bewähren. Alles andere ist Götzendienst gegenüber dem Vitalen, Starken und Leistungsfähigen.
Die Würde des durch Krankheit, Behinderung oder Tod gezeichneten Lebens ist allerdings praktisch weniger durch die radikale Infragestellung seines Lebensrechts als vielmehr durch Fremdbestimmung und Entmündigung bedroht. So kommt es bei der medizinischen Behandlung schwerkranker und alter Menschen nicht selten zu Ergebnissen, bei denen bleibende und gravierende körperliche Defekte in Kauf genommen werden. Eine medizinische Behandlung muß immer im wohlverstandenen Interesse des Patienten liegen; dieses wohlverstandene Interesse ist ein menschenwürdiges Weiterleben; wo ein Eingriff keine Besserung verspricht, soll er unterbleiben. Die Behandlung muß auf Lebensverlängerung, nicht auf Sterbeverlängerung zielen. Die Menschenwürde erfordert es, wo es möglich ist, den Wunsch des betroffenen Patienten zu berücksichtigen. Eine Verletzung der Menschenwürde liegt auch da vor, wo Angehörige und Pflegepersonal alles tun, um den Gedanken an das bevorstehende Sterben nicht aufkommen zu lassen. Die Fragen nach einem der Menschenwürde entsprechenden Umgang mit behindertem oder sterbendem Leben werden an einer späteren Stelle (S. 90ff, 105ff) noch einmal aufgenommen.
6. Das Leben anderer Menschen als Segen
In allen Religionen bedeutet Segen Lebensbereicherung, Lebensfülle. Für die Bibel ist Segen allerdings keine selbständige Macht, sondern dem Wirken Gottes zu- und untergeordnet. Das bedeutet: Segen entzieht sich menschlicher Verfügung. Segen kann intendiert, aber nicht garantiert werden. Segen kommt gelegentlich überraschend, wider alle Erwartung. Daß etwas ein Segen war, wird oft erst im Rückblick erkennbar.
Das Gesagte gilt nicht zuletzt für den Segen, den das Leben anderer Menschen bewirken und bedeuten kann. In zwei besonderen Hinsichten ist dies noch näher zu beschreiben:
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Kranke, Behinderte, Alte als Segen
Das Leben kranker, behinderter oder alter Menschen erscheint auf den ersten Blick vielfach nur als Belastung und Erschwerung. Diese Erfahrung darf nicht unterdrückt werden. Aber auch in ihrem Leben steckt oft ein verborgener Segen für andere Menschen. Wer sich von dem Vertrauen leiten läßt, daß Gott auch Last in Segen wandeln kann, bekommt sehendere Augen für diesen verborgenen Segen. So berichten viele Menschen, daß Besuche bei Kranken und Alten bei ihnen Lebenskraft und Lebensmut geweckt haben. Die Konfrontation mit Krankheit und Behinderung kann dazu beitragen, die eigene Gesundheit bewußter wahrzunehmen und sich ihrer dankbar zu freuen. Die naive Lebensfreude geistig behinderter Menschen kann als kritischer Kontrast zur Griesgrämigkeit und Lebensverdrossenheit von - Menschen wirken, die im Vollbesitz ihrer körperlichen und geistigen Kräfte sind.
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Kinder als Segen
Die große Kinderzahl ("Kindersegen") in früheren Zeiten entsprang in vielen Fällen der Notwendigkeit, Leben und Auskommen zu sichern. Mithelfende waren erforderlich, die Altersversorgung mußte gewährleistet werden. Der gesellschaftliche Wandel hat hier zu tiefgreifenden Veränderungen geführt. Aus der ökonomischen Perspektive des einzelnen bzw. des einzelnen Paares sind Kinder nicht mehr nötig - was sich aus der gesamtgesellschaftlichen Perspektive angesichts der Probleme von Zukunfts- und Alterssicherung freilich wiederum ganz anders darstellt. In der individuellen Betrachtung werden in unserem Land Kinder heute oft eher als Einschränkung empfunden. Der Erziehungsprozeß wird intensiv reflektiert; Eltern sehen sich auf diesem Feld darum größeren Anforderungen ausgesetzt. Eine fundamentale Lebens- und Zukunftsangst läßt manche erklärtermaßen auf Kinder verzichten. Der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland wird verschiedentlich eine ausgeprägte Kinderfeindlichkeit vorgeworfen. Das negative Extrem sind die erschreckenden Daten über Gewalt gegen Kinder.
Nun ist gar nicht zu bestreiten, daß Kinder auch Mühe machen und Belastungen mit sich bringen. Unerläuterte Formeln wie "Kinder als Segen" oder "Freude am Kind" wirken manchmal naiv. Hinter ihnen steht jedoch eine tiefe Lebenserfahrung. Darum brauchen sie keineswegs den Blick dafür zu verstellen, daß manche Kinder ihren Eltern große Sorgen bereiten. Im Alltag können Kinder eine starke Beanspruchung sein. Aber solchen Belastungen stehen vielfältige Erfahrungen von Glück und Bereicherung gegenüber, und darum besteht kein Grund, die Freude an Kindern zu verlieren. Jedes Kind ist ein neu aufbrechender Sinn von Welt und Leben, zugleich für andere die Probe auf Offenheit und die Bereitschaft für das immer Neue des Lebens. Es gibt der Lebensgemeinschaft zweier Menschen eine ganz neue Dimension, ein neues Feld gemeinsamer Sorge und Liebe. Kinder und Jugendliche suchen neue Wege, stellen das Gewohnte in Frage und bedeuten darin für Eltern und Gesellschaft die Herausforderung, das Vertrautgewordene zu überprüfen und Verkrustungen des eigenen Denkens und Verhaltens zu überwinden. Die Einsicht, daß Kinder in dieser Weise lebensnotwendig und lebensbereichernd sind, muß sich auswirken auf den Umgang mit ihnen. Damit ist nicht gemeint, sie in den Mittelpunkt zu rücken, das Familienleben allein auf sie abzustellen, in ihrem Leben das eigene Erfolgs- und Glücksbedürfnis zu befriedigen und die Kinder selbst auf diese Weise zu überfordern. Aber Kinder brauchen Verständnis und Aufgeschlossenheit, damit sie als Segen erlebt werden können. Dies gilt für das Verhalten in Alltagssituationen ebenso wie für die in Gesellschaft und Politik, beispielsweise auf dem Wohnungssektor, angewandten Maßstäbe.
7. Zumutbarkeit und Erträglichkeit von Belastungen
Würde und Lebensrecht eines anderen Menschen stehen unter keinen Umständen zur Disposition. Dieser Grundsatz beschreibt einen Anspruch an das Zusammenleben von Menschen und an die Verantwortung jedes einzelnen für die mit ihm verbundenen Menschen. Doch Würde und Lebensrecht eines anderen Menschen müssen gelebt und praktiziert werden, sie müssen ihm eingeräumt und für ihn geschützt werden. In dieser Perspektive kommen die Belastungen in Blick, die mit der Verantwortung für andere Menschen einhergehen können: Ich kann mich körperlich und seelisch überfordert fühlen; der andere Mensch kann mir unerträglich werden; es gibt Fälle, in denen die Pflege eines schwerkranken Menschen die Pflegenden verschlingt und den geheimen oder offenen Wunsch nach dem Tod des als Last empfundenen Menschen weckt; hier stellt sich für den Beobachter wie für die Beteiligten häufig die Frage, ob die Grenzen der Zumutbarkeit nicht erreicht oder überschritten sind.
Der Mensch stößt ständig - nicht nur in Extremsituationen und gerade auch im Wollen des Guten - an Grenzen und muß Wege finden, sich ihnen gegenüber zu verhalten. Er kann seine Grenzen erweitern, er kann Hilfen annehmen, er kann auch kapitulieren. Menschen, die an die Grenze des für sie Zumutbaren und Erträglichen zu stoßen glauben, und diejenigen Menschen, die sie in dieser Situation begleiten, sollten auch die Erfahrung durchgestandener Schwierigkeiten vor Augen haben. Die schnelle Kapitulation vor Belastungen verhindert es, überhaupt bis zu dieser Erfahrung durchzudringen. Auch sollte für die Möglichkeit Raum gelassen werden, daß jemand mit einer Herausforderung wachsen kann. Besonders anhand aktueller Herausforderungen kann man lernen und sich weiterentwickeln; dabei machen Menschen nicht selten die überraschende Entdeckung, daß sie sich mehr zumuten können, als sie zunächst vermuteten. Auch kann die Konfrontation mit Belastungen und mit der Frage, wie und wie weit ihnen standzuhalten sei, zur Überprüfung und Korrektur bisheriger Ansprüche und Maßstäbe führen. Für viele Glaubende hat sich in Belastungssituationen die Verheißung als wahr erwiesen: "Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch" (Ps 68,20f in der Fassung der Lutherbibel).
Für die Festlegung der Grenze von Zumutbarkeit und Erträglichkeit gibt es über die beschriebenen Gesichtspunkte hinaus keine generell anwendbaren Maßstäbe. Festzuhalten ist, daß die Verbundenheit mit anderen Menschen auch Verantwortung für sie auferlegt und den Verzicht auf die umfassende Durchsetzung individueller Glückserwartung gebieten kann. Ein jüdisches Sprichwort lautet: "Gefährten oder Tod"; die Menschen können nur bestehen, wenn einer dem anderen die Hand reicht. So gilt auch auf dem Boden christlicher Lebensgestaltung: Die Grenze des Zumutbaren und Erträglichen ist so weit wie irgend möglich hinauszuschieben; was zumutbar ist, ist so gut und so tief wie möglich auszuloten. Wie weit Zumutbarkeit und Erträglichkeit aber konkret reichen, ist von vielen individuellen und lebensgeschichtlichen Faktoren abhängig. Was einem Menschen möglich ist, darf nicht automatisch auch einem anderen abverlangt werden. Das Ausloten des individuell Zumutbaren und Erträglichen ist im übrigen ein Prozeß, der Zeit braucht; die Besonderheit und Zugespitztheit z. B. der Situation des Schwangerschaftskonflikts liegt unter anderem darin, daß sehr wenig Zeit ist, um die Grenze zu erkennen.
Der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit und Erträglichkeit von Belastungen kann niemals Argument oder gar Legitimation dafür sein, Würde und Lebensrecht eines anderen Menschen nicht länger zu respektieren. Wo Belastungen individuell oder innerhalb der Familie nicht mehr aufzufangen sind, stellt sich die Aufgabe, auf der mitmenschlichen, nachbarschaftlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Ebene Hilfe und Ausgleich zu schaffen. Die Erörterung der Zumutbarkeit und Erträglichkeit von Belastungen hat aber die Funktion, sensibel zu machen für die Erfahrung, daß Menschen an die Grenze des für sie Aushaltbaren stoßen. Aus der Einfühlung in diese Erfahrung erwächst auch eine verständnisvolle und barmherzige Reaktion auf Handlungskonsequenzen, die in einer als ausweglos empfundenen Lage in nicht zu billigender Weise Würde und Lebensrecht eines anderen Menschen verletzen. Jeder Mensch sieht sich gelegentlich mit der bedrängenden Frage konfrontiert: Wieviel Leid und wieviel Beeinträchtigung bin ich zu tragen bereit und zu tragen fähig?
8. Unvorhersehbarkeit als Teil des Lebens
Zum menschlichen Leben gehört das Unverfügbare, Unvorhergesehene. In der sprichwörtlichen Redensart heißt es. Es kommt anders, als man denkt. Ereignisse treten überraschend ein; wir sind nicht auf sie eingestellt; sie treffen uns unvorbereitet. Unvorhergesehenes gehört zum Reiz des Lebens; ohne Überraschungen wäre das Leben langweilig. Aber zum Unvorhergesehenen gehören nicht minder das Eintreten einer ungewollten Schwangerschaft oder die plötzliche Pflegebedürftigkeit der alten Eltern. Das menschliche Leben wird in starkem Maße von den unvorhergesehenen Widerfahrnissen, nicht nur von den absichtsgeleiteten Handlungen bestimmt.
Es ist allerdings zu unterscheiden zwischen Widerfahrnissen, die zur Dimension des prinzipiell Unvorhersehbaren gehören, und solchen Widerfahrnissen, die zwar vorhersehbar sind, aber gleichwohl aus Leichtfertigkeit, Nachlässigkeit oder beabsichtigter Passivität nicht vorhergesehen wurden. Sich auf das mögliche Eintreten von Ereignissen vorweg einzustellen ist Ausdruck eines verantwortlichen Handelns. Auf dem Gebiet der wissenschaftlich-technischen Entwicklung und der Technologiepolitik gilt es heute aus gutem Grund als unverantwortlich, die Folgen bestimmter Entscheidungen und Schritte nicht vorauszubedenken. Je größer der Verantwortungsbereich ist, um so unerläßlicher ist eine gründliche Planung. Für den individuellen und persönlichen Bereich gilt Entsprechendes: Es zählt zum vernünftigen und erwünschten Handeln, Vorsorge zu treffen, Versicherungen abzuschließen, das Leben zu planen.
Trotz aller Planung und Vorsorge tritt freilich Unvorhergesehenes ein: eben weil nicht alles planbar ist oder weil die Planung nicht erfolgreich war. Dann kann das Leben nur gelingen, wenn es offen ist, auch das Zufällige und Nicht-Erwartete anzunehmen. Zu gelingendem Leben gehört die Fähigkeit, zu Überraschungen ja sagen zu können. Als Christen sehen wir in solchen Überraschungen eine Erinnerung daran, daß Gott aus allem, auch aus Bösem, Gutes entstehen lassen kann und will: "Wir wissen, daß Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt" (Röm 8,28). Alles vorhersehen, planen und sich gegen alle Risiken absichern zu wollen ist Ausdruck von Angst und Vermessenheit zugleich. Mut und Stärke zeigt hingegen, wer wagt, sich auf das Leben mit seinen überraschenden Wendungen und damit auf Gott einzulassen. Die Wendungen des Lebens können schmerzlich sein und den Charakter einer unabsehbar bedrohlichen Belastung haben. Ein Unfall kann zu einer schweren körperlichen Behinderung führen; für die Frau, die vom Schwangerwerden überrascht wird, ist unter Umständen das entstehende Kind zunächst die große Störung; die pränatale Diagnostik kann zu dem Ergebnis führen, daß das erwartete Kind gesundheitlich geschädigt ist. Unter solchen Umständen fällt das Ja zum Leben schwer. Möglich wird es aber aus der Erfahrung, der Einsicht und dem Vertrauen, daß ein gelungenes, sinnvolles Leben nicht allein von Gesundheit und erfüllten Glückserwartungen abhängig ist und Gott die Last in Segen wandeln kann.