Gott ist ein Freund des Lebens (Erschienen 1989)
Übersicht
Zu den Zeichen unserer Zeit gehört es, daß die immer größere Machtfülle der Menschheit nicht nur zu Erleichterungen des menschlichen Lebens führt, sondern zugleich seine Grundlagen und seine Würde bedroht. Dies wird in der Öffentlichkeit zunehmend deutlich empfunden. Die Kirchen sehen sich in dieser Situation herausgefordert, einen gemeinsamen Beitrag zum Nachdenken über diesen Widerspruch zwischen Erfolg und Gefährdung zu leisten - einen Beitrag, der auch politisch umstrittene Fragen nicht ausklammert.
Was wir brauchen, ist eine umfassende gemeinsame Anstrengung aller zum Schutz des Lebens. Dies ist der Leitsatz der Erklärung der Kirchen. Wir brauchen eine umfassende Anstrengung: Darum handelt die Erklärung von den Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebensraums Erde ebenso wie beim Schutz menschlichen Lebens. Wir brauchen eine gemeinsame Anstrengung: Darum wendet sich die Erklärung an Menschen aus unterschiedlichen Lebensbereichen, mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen und weltanschaulichen Prägungen, an Christen und Nichtchristen. Die Anstrengungen gelten der Bewahrung und Förderung des Lebens, das jedem Menschen in den natürlichen Grundlagen des Lebens auf der Erde, in seinen Mitgeschöpfen, seinen Mitmenschen und seinem eigenen Leben als Gabe begegnet. Kirche und Christen beziehen die Gabe des Lebens auf Gott als den Geber und Herrn des Lebens. Die Erklärung will dazu anleiten, Gott als den "Freund des Lebens" (Weisheit Salomos 11,26) zu erkennen, der die Menschen dazu beruft und befähigt, selbst Freunde des Lebens zu sein.
Der I. Teil beschreibt Ausgangspunkt und Zielsetzung der Erklärung: Die Gabe des Lebens ist in der Gegenwart massiven Bedrohungen ausgesetzt, und darum bedarf es verstärkter Anstrengung, lebenzerstörenden Tendenzen zu wehren, Ehrfurcht vor dem Leben zu wecken und zum Leben zu ermutigen. Dabei kann sich niemand ohne Schaden für die eigene Glaubwürdigkeit auf Dauer nur bestimmten ausgewählten Gefährdungen des Lebens zuwenden und zu anderen schweigen.
Der II. Teil fragt nach Orientierung aus der Bibel für die Wahrnehmung des Lebens und die Einstellung zu ihm. Die Erklärung läßt sich dabei von der Überzeugung leiten, daß den so gewonnenen Einsichten nicht nur Christen zustimmen können.
Der III. Teil wendet sich dem Lebensraum Erde im ganzen zu. Er geht von der Erwartung aus, daß Menschen, die Leben in der Haltung dankbaren Staunens wahrnehmen, ihm auch mit mehr Achtung und Scheu begegnen. An den Beispielen von Atomtechnik und Gentechnik wird das Problem verhandelt, daß die Herrschaft des Menschen über seine natürliche Umwelt und Mitwelt in eine neue Dimension gewachsen ist. Diese Herrschaft muß aber im Rahmen des Schöpferwirkens Gottes zugunsten des Lebens wahrgenommen werden, sie muß sich in den Dienst des Lebens auf der Erde stellen. Die Kirchen erneuern und bekräftigen in diesem Zusammenhang ihre Position zur Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz: Eine entsprechende Staatszielbestimmung muß dem Eigenwert der Mitgeschöpfe des Menschen Rechnung tragen, damit nicht Eingriffe legitimiert werden, die zwar im Interesse des Menschen und der Wahrung seiner Rechte jeweils für erforderlich gehalten werden, die Schöpfungswelt als ganze in ihrer lebensnotwendigen Vielfalt aber bedrohen.
Der IV. Teil handelt von der besonderen Würde des menschlichen Lebens und dem in ihr begründeten unbedingten Lebensrecht jedes einzelnen Menschen. Die Überzeugung, daß im letzten nicht eigene Qualitäten, sondern Gottes Annahme und Berufung dem Menschen Gottebenbildlichkeit und damit seine Würde verleihen, muß sich gerade gegenüber dem ungeborenen, dem kranken, behinderten und sterbenden Leben bewähren. Ein eigener Begründungsgang ist der Einsicht gewidmet, daß das ungeborene Leben an der besonderen Würde des menschlichen Lebens vollen Anteil hat und deshalb nicht minder zu schützen ist als das geborene Leben. Die Erklärung begnügt sich nicht mit der Entfaltung des Anspruchs, den Würde und Lebensrecht eines jeden Menschen an das Zusammenleben von Menschen stellen; sie reflektiert auch die Grenzen der Fähigkeit, Belastungen zu tragen und sich auf Unvorhergesehenes einzustellen, und geht so auf die Schwierigkeit ein, daß Würde und Lebensrecht eines anderen Menschen über den bloßen Anspruch hinaus gelebt und praktiziert werden müssen.
Der V. Teil gibt einige Hinweise auf Bereiche besonderer Verantwortung für den Schutz des Lebens: Erziehung, Medien, Rechtsordnung, Gesundheit sowie Forschung, Technik und Wirtschaft. Die Hervorhebung dieser Lebensbereiche darf und soll aber nicht davon ablenken, daß das Leben allen, jeder Frau und jedem Mann, den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, nicht zuletzt auch den Kirchen, je an ihrem Ort und nach dem Maße ihrer Möglichkeiten anvertraut ist.
Der VI. Teil greift fünf ausgewählte aktuelle Problemfelder auf, die den Schutz eines je einzelnen menschlichen Lebens betreffen. Forschung an Embryonen wird wie andere Humanexperimente nur insoweit gebilligt, wie sie der Erhaltung und der Förderung bestimmten individuellen menschlichen Lebens dient. Gezielte Eingriffe an Embryonen hingegen, die ihre Schädigung oder Vernichtung in Kauf nehmen, sind nicht zu verantworten - und seien die Forschungsziele noch so hochrangig.
Das ungeborene Leben im Mutterleib und der Embryo im Labor haben die gleiche Würde und das gleiche Recht auf Leben. Der Schutz des ungeborenen Lebens ist unteilbar. Allerdings befindet sich das ungeborene Leben im Mutterleib in einer anderen Situation als der Embryo im Labor: Es ist abhängig von der Frau, die es in sich trägt. Darum müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, es mit der Frau und nicht gegen sie zu schützen. Dies gilt um so mehr, als angesichts der Entwicklung medikamentöser Möglichkeiten zum Schwangerschaftsabbruch Auflagen und rechtliche Barrieren in Zukunft relativ an Bedeutung verlieren und der ethisch begründeten Einstellung zum Schwangerschaftsabbruch immer mehr Gewicht zukommen wird. In dieser Situation halten es die Kirchen für notwendig und für aussichtsreich, sich in der gesamten Gesellschaft über bestehende Gegensätze hinweg auf ein gemeinsames Ziel zu verständigen: Wir wollen, soweit es in unseren Kräften steht, dazu beitragen, Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden; darum wollen wir
- die Verantwortung in Partnerschaft und Sexualität stärken,
- auf der Ebene der Bewußtseinsbildung und der Prägung ethischer Grundüberzeugungen die Achtung vor der Würde des ungeborenen Lebens vertiefen und fördern,
- an der Veränderung solcher Verhältnisse arbeiten, die der Annahme des ungeborenen Lebens im Wege stehen, und so
- mehr Frauen und Männer dafür gewinnen, daß sie im Schwangerschaftskonflikt das ungeborene Leben annehmen.
Es ist die Überzeugung der Kirchen, daß diese vier Verpflichtungen die Plattform für eine gemeinsame Anstrengung aller gesellschaftlichen Kräfte bilden können. Im Blick auf Einstellungen und Wertorientierungen, die Verantwortung in Partnerschaft und Sexualität, sozial-, frauen- und familienpolitische Maßnahmen sowie die Hilfe der Rechtsordnung nimmt die Erklärung eine genauere Prüfung möglicher Schritte zu einer Verbesserung des Schutzes ungeborenen Lebens vor. Die Kirchen selbst sind in der Pflicht, ihre flankierenden Hilfen zu verstärken und auszubauen.
Behindertes menschliches Leben erfährt heute mehr Verständnis und Förderung als in früheren Zeiten. Aber nicht nur die Schatten der Vergangenheit, sondern auch bedenkliche Erfahrungen und Tendenzen in der Gegenwart nötigen gleichwohl zur Wachsamkeit. Die Rechte des einzelnen müssen um so mehr Maßstab gesellschaftlicher Interessen sein, je schwächer er ist. Darum lehnt die Erklärung auch alle eugenisch orientierten Bevölkerungsprogramme ab. Fortentwicklung und Ausbau der pränatalen Diagnostik bedürfen sorgfältiger Beobachtung, damit in der Gesellschaft nicht die Bereitschaft unterminiert wird, von Geburt an behinderte Menschen anzunehmen und in ihnen eine Lebensaufgabe zu sehen.
In einer Organspende und der durch sie ermöglichten Organverpflanzung sehen die Kirchen einen Weg, über den Tod hinaus Nächstenliebe zu üben. Sie treten aber dafür ein, im Einzelfall sorgfältig abzuwägen, ob eine Organverpflanzung angebracht ist.
Auch am Ende des menschlichen Lebens sind die Unverfügbarkeit des anderen menschlichen Lebens und die prinzipielle Respektierung seines Selbstbestimmungsrechts grundlegend. Deshalb darf beim Sterben eines Menschen alle Hilfe nur Lebenshilfe sein. Dies kann im Einzelfall sehr wohl das Unterlassen oder die Einstellung von medizinischen Eingriffen zur Folge haben, wenn diese, statt das Leben dieses Menschen zu verlängern, nur dessen Sterben verlängern. Doch hat auch ein unheilbar Kranker, der für andere nur noch eine Belastung ist, das ungeschmälerte Grundrecht auf Leben.
Im VII. Teil schließt die Erklärung mit einer Ermutigung zum Leben: Das Leben hat Zukunft, weil Gott die Quelle des Lebens ist.
Welche Erwartungen verbinden die Kirchen mit dieser Erklärung? Zu zahlreichen Einzelpunkten enthält sie eine Reihe konkreter Forderungen und Anregungen. Die Kirchen erwarten, daß diese Forderungen und Anregungen in der Politik, in Wissenschaft und Wirtschaft, im Gesundheitswesen, in den Kirchengemeinden, also von den Menschen, die an ihrem besonderen Ort Verantwortung für das Leben haben, gehört, sorgfältig bedacht und auch ergänzt werden. Vor allem aber erwarten die Kirchen, daß
- niemand auf erste Schritte anderer wartet oder sich mit den Mängeln in anderen Bereichen entschuldigt, vielmehr
- jeder bei sich und den jeweils gegebenen Möglichkeiten mit dem Schutz des Lebens anfangen und ernst machen.
Der Wille, dem Leben in all seinen Phasen und Gefährdungen entschieden beizustehen, hat heute vielfältige Möglichkeiten - von der stillen Pflege für Alte, Kranke und Behinderte in der Familie über die Initiativen freier Gruppierungen der Gesellschaft bis hin zu Maßnahmen des Gesetzgebers. Auch gibt es zahlreiche Gelegenheiten, zu gemeinsamen und aufeinander abgestimmten Aktionen zu kommen - wenn man sich erst einmal entschlossen hat, dem guten Willen zugunsten des Lebens die Tat folgen zu lassen. Diese Tat ist, von unserem Glauben her gesehen, Gottes Gebot und eine Forderung der Nächstenliebe. Sie ist, von der Politik her gesehen, eine Forderung der Gerechtigkeit und der Solidarität. Und sie ist für alle, auf die Dauer gesehen, eine Forderung des Eigeninteresses und der Selbsterhaltung: Können wir wissen, ob wir nicht eines Tages selbst als Behinderte, Gebrechliche oder Kranke auf andere angewiesen sind? Und verdanken wir nicht allesamt die heutigen Lebensmöglichkeiten und unser eigenes Leben auch der Fürsorge derer, die in der Vergangenheit die natürlichen Grundlagen des Lebens bewahrt und uns persönlich von allem Anfang unseres Lebens an beschützt haben?