Wenn die alte Welt verlernt wird
Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe, EKD-Text 120, Hrg. EKD und Diakonie Deutschland, Februar 2014, ISBN 978-3-87843-031-5
1 Einleitung
Das Thema Demenz ist in den letzten Jahren immer mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Es beschäftigt nicht nur Politik, Medizin und Ethik, sondern auch Literatur und Filmkunst. Selbst Kinderbücher zur Demenz sind in der Zwischenzeit erschienen. Dabei hat sich die Debatte verändert. Das Verständnis für die Komplexität des Themas hat sich vertieft, und der Ton der Debatte hat sich ausdifferenziert: neben problematisierende, ja alarmierende Prognosen sind Erfahrungen und Erkenntnisse getreten, die den Blick auf das richten, was Menschen mit Demenz noch (erleben) können. Auch die kreativen und humorvollen Seiten der Krankheit traten ins Bewusstsein. Diese grundsätzlich zu begrüßende Entwicklung birgt aber die Gefahr, dass das Leiden der Betroffenen und ihrer Angehörigen verharmlost wird.
Menschen mit Demenz sind im Bereich der Kirchen an vielen Orten präsent: in den kirchlichen Einrichtungen der stationären Altenhilfe, bei den ambulanten Pflegediensten, im Gemeindeleben, in den Gottesdiensten und in der Seelsorge. Dadurch hat die Evangelische Kirche in Deutschland einerseits primär die Nöte der dementiell erkrankten Menschen, ihrer Angehörigen und der professionellen Pflegekräfte im Blick und nimmt sie sehr ernst. Sie möchte mit diesem Text aber andererseits auch die positive gesellschaftliche Entwicklung hin zu einer vieldimensionalen Beschäftigung mit dem Thema Demenz stärken.
Im Rahmen einer Tagung, die die EKD bereits im Jahr 2008 zum »Leben mit Demenz« durchführte, hielt der damalige Präsident des Kirchenamtes Hermann Barth eine Bibelarbeit zu Psalm 31. [1] Insbesondere der Vers 13 b (»Ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß.«) sprach ihn zu nächst an:
»Ich habe in den vergangenen zwei Jahrzehnten in meiner Familie viermal erlebt, wie mir sehr nahestehende Menschen dement geworden sind. Ich finde das Bild vom >zerbrochenen< oder vom verbrechenden Gefäß trifft sehr gut, was ich dabei erlebt habe, vielleicht sogar, was die erkrankten Menschen selbst empfunden haben. Und nachdem ich an der einen Stelle fündig geworden war, las ich auch den Kontext mit neuen Augen:
Mein Leben ist hingeschwunden in Kummer
und meine Jahre in Seufzen.
Meine Kraft ist verfallen...
Die mich sehen auf der Gasse, fliehen vor mir.
Ich bin vergessen in ihrem Herzen wie ein Toter;
ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß.
Diese Verse sprechen nicht speziell von dementen Menschen. Aber ihnen lässt sich, ohne dass sie dabei gegen den Strich gebürstet würden, entnehmen, wie Demente sich - vermutlich - befinden, und auch, was in denen ausgelöst wird, die mit ihnen Zusammenleben und sie erleben: das Leben >hingeschwunden<, die Kraft >verfallen<, zum >Spott< geworden, vergessen, von manchen geradezu gemieden. Mitzuerleben, was die Demenz aus einem Menschen zu machen imstande ist, kann bei denen darum herum ein regelrechtes Erschrecken auslösen: Möge mir nur das erspart bleiben! Und weil es keine angenehmen Gefühle sind, damit konfrontiert zu sein, was auch meine Zukunft werden könnte, kommt es nicht selten dazu, dass die Kontakte mit dem dementen Menschen reduziert oder ganz unterlassen werden: in Vergessenheit geraten, als wäre er tot - weg aus dem Herzen.
Psalm 31 macht das Leben mit Demenz durchsichtig auf seine dunklen Seiten - aber dabei hat es nicht sein Bewenden. Der Psalm quillt zugleich über von Aussagen des Gottvertrauens und der Zuversicht, dass Gott auch in der aktuellen Not seinen Beistand nicht versagen wird: >Herr, auf dich traue ich ... Du bist mein Fels und meine Burg ... In deine Hände befehle ich meinen Geist ... Du stellst meine Füße auf weiten Raum ... Ich freue mich und bin fröhlich über deine Güte, dass du mein Elend ansiehst ... meine Zeit steht in deinen Händen ... Wie groß ist deine Güte, HERR, die du ... erweisest vor den Leuten, denen, die auf dich trauen.< (Verse 2 - 20). Die Entscheidung, diesen Psalm zum Gegenstand der Bibelarbeit zu machen, ist nicht zuletzt darin begründet, dass seine Aussagen des Gottvertrauens wie eine Verheißung, wie ein großes Licht über den Dunkelheiten des Lebens mit Demenz stehen - und wieder: über den Dunkelheiten des Lebens derer, die erkrankt sind, ebenso wie derer, die um sie sind. Wenn wir in diesen Tagen über ein Leben mit Demenz nachdenken und reden, dann würde es - so wenig wir hier irgendetwas beschönigen dürfen - zu kurz greifen, uns die schmerzlichen Erfahrungen in der Konfrontation mit Demenz ein weiteres Mal vor Augen zu führen. Wir müssen, wir wollen auch lernen, wie das wahr wird bei Dementen und bei ihren Angehörigen, Freunden und Pflegern, dass Gott unsere Füße auf weiten Raum stellt.« [2]
Auf diesem Weg des gemeinsamen Lernens und Entdeckens, was für das Leben mit Demenz in praktischer und in geistlicher Hinsicht hilfreich sein kann, befindet sich die evangelische Kirche auch weiterhin. Und sie lädt mit dieser Schrift dazu ein, diesen Weg mitzugehen.
Ziele dieser Schrift sind besonders:
- zur Sensibilisierung für das Thema Demenz beizutragen,
- die ethischen Fragen in seelsorglicher Perspektive aufzugreifen und sie in Beziehung zur biblischen Ethik zu setzen,
- den Betroffenen und ihren Angehörigen einen kurzen Überblick über die medizinischen und rechtlichen Aspekte der Erkrankung an die Hand zu geben,
- die anthropologischen Fragen, die diese Erkrankung aufwirft, im Lichte des evangelischen Verständnisses vom Menschsein zu beleuchten,
- die ethischen Fragen in seelsorglicher Perspektive aufzugreifen und sie in Beziehung zur biblischen Ethik zu setzen,
- Herausforderungen für Politik und Kirche zu ermitteln, um sich gemeinsam auf den Weg in eine demenzsensible Gesellschaft zu machen, die respektvoll mit den an Demenz Erkrankten umgeht.
Der auf diese Einleitung folgende Teil 2 der Schrift führt die Leserinnen und Leser an das Thema »Demenz« heran, indem Fragen aufgegriffen werden, die sich im alltäglichen Umgang mit dieser bedrängenden Krankheit stellen. Vielfältige Erfahrungen aus dem Bereich der Seelsorge sind in diesen Teil eingeflossen. In der seelsorglichen Praxis wird aber auch immer wieder deutlich, wie wichtig und hilfreich umfassende medizinische Aufklärung, sachliche juristische Informationen und grundlegende Reflexionen der christlichen Anthropologie und Ethik sein können. Diese vertiefenden Hintergrundinformationen aus verschiedenen Fachbereichen finden sich in den anschließenden Teilen 3 bis 5 der Schrift. Und schließlich führen alle Kapitel des Textes hin auf die gemeinsamen Aufgaben, die sich aufgrund der bereits großen und noch steigenden Zahl dementiell erkrankter Menschen stellen. Im abschließenden Teil 6 werden die aus Sicht der evangelischen Kirche anstehenden Aufgaben für unsere Gesellschaft, die Politik und die Kirche selbst entfaltet.