Wenn die alte Welt verlernt wird
Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe, EKD-Text 120, Hrg. EKD und Diakonie Deutschland, Februar 2014, ISBN 978-3-87843-031-5
2 »Fragen über Fragen« - wenn ein Mensch dement wird
2.1 Wie kann man mit der Angst vor Demenz umgehen?
»An einer Demenz zu erkranken und in deren Folge unselbständig und unzurechnungsfähig zu werden, ist das wahrscheinlich am meisten gefürchtete Risiko des Alters. Die bei fortgeschrittener Demenz auftretenden kognitiven Einbußen werden von den meisten Menschen als Bedrohung der Person in ihrer Ganzheit betrachtet. Vor diesem Hintergrund erscheint verständlich, dass die Konfrontation mit Demenzkranken nicht nur Unsicherheit, sondern auch massive Ängste auslösen kann.« [3]
Ängste sowie Gefühle von Hilflosigkeit und Ohnmacht sind vermutlich die am weitesten verbreiteten Reaktionen auf den Gedanken, möglicherweise selbst einmal von Demenz betroffen zu sein. Um den eigenen Ängsten nicht wehrlos ausgeliefert zu sein, ist es gut, sich die Frage zu stellen, wie man sich bei Zeiten auf die Möglichkeit einer dementiellen Erkrankung vorbereiten kann. Dies ist in mehrfacher Weise möglich, wobei sich manche dieser Verhaltensweisen auch bewähren, wenn man im Alter unselbständiger wird, ohne an Demenz zu erkranken.
Beziehungen pflegen
Von großer Bedeutung für ein Leben im Alter, insbesondere mit Demenz, sind in jedem Fall gute Beziehungen zur Familie, Freunden und weiteren Vertrauenspersonen wie z. B. dem Hausarzt. Wer beizeiten Konflikte klärt, Kontakte pflegt, sich anvertraut, die Gemeinschaft sucht und (Nächsten-)Liebe übt, der hat gute Chancen, in Zeiten zunehmender Unselbständigkeit Menschen an seiner Seite zu haben, die ihn begleiten. Sicher werden auch gute Beziehungen durch die Symptome, die eine Demenzerkrankung mit sich bringt, stark belastet, aber viele Beziehungen bewähren sich auch in der Lebensphase der Demenz. Mit vertrauten Menschen kann man schon in gesunden Zeiten die eigenen Ängste besprechen, Wünsche formulieren, mitteilen, wie man behandelt werden möchte und was einem im Lebensalltag wichtig ist.
Schriftliche Verfügungen verfassen und Wünsche äußern
Eine sehr sinnvolle, fast unverzichtbare Vorbereitung besteht in der Auswahl einer Person, der man für den Fall der eigenen Unselbständigkeit eine Vorsorgevollmacht erteilen möchte. Ebenso sinnvoll ist es, aufzuschreiben, was man gerne isst, hört, fühlt, wie man sich kleidet, welche Lieblingslieder man hat, welche Umgangsformen einem wichtig sind, ob man lieber kalt oder warm schläft, was man besonders genießt - also schriftlich festzuhalten, welche persönlichen Neigungen und Gewohnheiten man gerne beibehalten würde. Gerade neuere biographieorientierte Ansätze in der Pflege sind auf Wissen über die Persönlichkeit der Patienten oder Patientin angewiesen: »Informationen über die Biographien der Personen, über ihre Erfahrungen, Vorlieben und Werte spielen eine wesentliche Rolle, um individuelle emotional bedeutsame Kontexte in der Pflege und Betreuung zu ermöglichen, die gezielt das Personsein fördern.« [4]
Zur Vorbereitung auf ein Leben mit möglicherweise eingeschränkter Fähigkeit zum selbstbestimmten Handeln kann auch gehören, besonders intime und persönliche Dinge zu beseitigen. Wesentlich ist hier, die eigene Entscheidung des oder der Betroffenen. Angehörige erfahren bei der Regelung der Angelegenheiten der ihnen anvertrauten Personen manchmal unfreiwillig Dinge, die sie lieber nicht gewusst hätten. Deshalb kann es ein Akt der Fürsorge sein, Gegenstände zu vernichten, die im Leben anderer noch Verwirrung stiften können.
Das Gedächtnis des Leibes pflegen [5]
Erfahrungen aus der Pflege und der Seelsorge mit von Demenz betroffenen Menschen machen auch deutlich, wie positiv sich von Jugend an Eingeübtes auf ein Leben mit Demenz auswirken kann. Auswendig gelernte Texte, gerne gesungene Lieder, vertraute Musik, handwerkliche Techniken, Rituale, Feste, Tischsitten, Spiele, Familiensprüche oder Gebete - all das stellt einen Schatz im Leben eines Menschen dar, der auch in der Demenz noch lange bereichernd wirkt. Es gibt Gedächtniszentren, die »tiefer« liegen als kognitive Erinnerungen und die viel mit eingespielten Bewegungsabläufen und vertrauten Situationen zu tun haben. Diese durch Musik, Kunst, leibliche Genüsse, Gottesdienstbesuche und Handarbeit im umfassenden Sinne bewusst zu pflegen, ist eine durchaus sinnvolle Vorbereitung auf eine Lebenszeit mit möglicherweise abnehmenden kognitiven Fähigkeiten.
Sich umfassend informieren
Eine offene Auseinandersetzung mit dem Alter kann zu dem Eingeständnis führen, dass eine dementielle Erkrankung jeden Menschen und damit auch einen selbst treffen kann. Hat man hier Befürchtungen, dann kann es hilfreich sein, sich ein umfassendes Bild von den Erkrankungen, die unter dem Begriff »Demenz« zusammengefasst werden, zu verschaffen, und das bedeutet, sich sowohl die Symptome, Verläufe, Verluste und Belastungen vor Augen zu führen, als auch die Möglichkeiten, das Leben mit dieser Krankheit noch wertschätzen zu können. [6] Zur Demenz kann auch die Erfahrung von neuen Freiheiten, andauernder Lebensfreude und neuer Nähe in Beziehungen gehören. Wenn man den Konformitätszwängen unserer Gesellschaft nicht mehr Folge leistet, entstehen für manche Menschen mit Demenz sogar neue Freiräume für Spontaneität und Ausdrucksformen von persönlicher Individualität. Die Diagnose »Demenz« verliert schon einiges von ihrer Bedrohlichkeit, wenn diese beiden Seiten der Krankheit in den Blick kommen. Niemand kann wissen, welche Seite der Krankheit für das eigene Leben mit Demenz bestimmend sein wird, und deshalb sollte man keine Patientenverfügungen verfassen, die ausschließlich mit dem Verlust von Lebensmöglichkeiten rechnet. Patientenverfügungen werfen manchmal Interpretationsprobleme auf, die für die konkrete Begleitung dementiell erkrankter Menschen wenig hilfreich sind. Hat man aber zusätzlich zu einer Patientenverfügung einer vertrauten Person eine Vorsorgevollmacht ausgestellt, kann diese die zuvor mitgeteilten Wünsche situationsbezogen im Sinne des erkrankten Menschen berücksichtigen und eine vorliegende Patientenverfügung interpretieren. Das schließt schwierige Abwägungsprozesse nicht aus. [7]
Das eigene Selbstbild überprüfen
Die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit einer Demenz im Alter kann unmittelbar in die Auseinandersetzung mit dem eigenen Menschenbild und mit dem Verständnis von Menschenwürde führen. Dann kann sich die persönliche Frage stellen, was das eigene Menschsein ausmacht: Was bleibt von mir, wenn ich mich nicht mehr ausdrücken kann? Was bleibt, wenn ich nichts mehr zustande bringe, sondern bei vielen Verrichtungen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen bin? Wer bin ich noch, wenn meine Erinnerungen dahin schwinden und meine Zukunft im »Nebel« liegt? Das Phänomen Demenz nötigt zu einer inneren Auseinandersetzung mit der Unverfügbarkeit und Abhängigkeit des eigenen Lebens. Alles, was man in gesundem Zustand als Schattenseiten des Lebens unter Kontrolle zu halten versucht, die Unvernunft, das Unbewusste, das Vergessen, Verluste und Verfall, die Ohnmacht, die Verletzlichkeit und Unberechenbarkeit des Lebens, verschafft sich in dieser Krankheit unüberhörbar und unübersehbar Ausdruck. Viele Menschen, die von Demenz persönlich oder als Angehörige betroffen sind, geraten dadurch in eine Grenzsituation. Die Möglichkeit, diese Grenzsituation zu bewältigen, hängt aber entscheidend davon ab, welche sozialen oder religiösen Praktiken und welche tragfähigen Perspektiven jemandem zur Verfügung stehen, um die Veränderungen durch die Krankheit in das eigene Leben einzuordnen. Deshalb kann es für die innere Vorbereitung auf das Älterwerden wichtig sein, sich um eine Lebenspraxis und eine Lebensdeutung zu bemühen, die an der abnehmenden Leistungsfähigkeit im Alter und auch einer eventuellen dementiellen Erkrankung nicht zerbricht.
Die Demenz ist eine Anfrage an die einseitige Betonung dreier Werte, die das individuelle wie das gemeinsame Leben wesentlich bestimmen: Leistung, Wissen sowie Selbstbestimmung. Diese Werte haben die Menschen in unserer Gesellschaft mehr oder weniger verinnerlicht. Deshalb kann kaum jemand die Abnahme von eigener Leistungsfähigkeit, von kognitiven Fähigkeiten und von Selbständigkeit anders denn als schmerzlichen Verlust wahrnehmen und bewerten. Und Erfahrungen des Verlustes sind meistens mit Leiden verknüpft. Demenz bedeutet in der Regel Schmerz und Leid und Trauer. Dieses nicht einzugestehen wäre ein Zeichen mangelnden Respekts vor den Betroffenen und ihren Angehörigen. Gleichzeitig verweist die Demenz aber auf Dimensionen des Lebens, die oft übersehen werden. So beschreibt zum Beispiel Arno Geiger in seinem Roman »Der alte König in seinem Exil«, was er über das Leben der so genannten Gesunden durch den Umgang mit seinem dementen Vater alles erfahren hat: das Verwirrende der Welt, das Fragmentarische des Lebens, die grundsätzliche Heimatlosigkeit des Menschen, die positive Bedeutung der menschlichen Sterblichkeit. [8]
Abschiedliches Leben einüben
Je weniger man sich schon in gesunden Zeiten über Wissen, Leistung und Selbstbestimmung definiert und je weniger das Verständnis eigener Würde von diesen Werten abhängig gemacht wird, desto besser lässt sich wahrscheinlich eine dementielle Erkrankung ertragen. Die beste innere Vorbereitung auf ein Leben mit Demenz ist vielleicht die Einübung in ein »abschiedliches Leben, ... das auch in gesunden Tagen lernt loszulassen« [9]. Aus biblischer Sicht gründet das Loslassenkönnen in der Dankbarkeit für das eigene Leben mit all seinen Höhen und Tiefen. Wer auch die eigenen Fähigkeiten und Erfolge als Geschenk und Gnade Gottes empfinden kann, der hat weniger Grund zu hadern, wenn die Zeit kommt, in der man wieder loslassen muss, was einem gewährt wurde, ohne dass man irgendeinen Anspruch darauf gehabt hätte. Aus christlicher Sicht geschieht dieses Loslassen in dem Vertrauen darauf, dass es Gott ist, der unser Leben am Ende gut macht und vollendet.
Durch eine dementielle Erkrankung kommt manches zutiefst Menschliche deutlicher zum Vorschein als bei gesunden Menschen. So kann z. B. das tiefe Gefühl der Heimatlosigkeit und der inneren Unruhe, das einem bei Menschen mit Demenz häufig begegnet, in christlicher Perspektive als Sinnbild der existentiellen Heimatlosigkeit des Menschen auf Erden gedeutet werden. Diese Überzeugungen machen den alltäglichen Umgang mit der Krankheit Demenz nicht leichter, aber sie sind ein Gegengewicht zur der verzweifelten Frage: Was bleibt? Auch wenn ein Mensch alles verliert: seine Geschichte, die Kontrolle über sich selbst, seine Ausdrucksfähigkeit, seine Persönlichkeit, sein Leben, so geht er selbst doch nicht verloren, sondern wird von Gott auferweckt zum Leben in einem »geistlichen Leib« (vgl. 1. Kor 15, 42 ff.).
2.2 Was bedeutet die Diagnose »Demenz« für die Betroffenen?
Anzeichen einer beginnenden Demenz können sehr unterschiedlich sein, so dass nur eine ärztliche Diagnostik Gewissheit geben kann. Wenn sich bei älteren Menschen Anzeichen von Gedächtnis- oder Wortfindungsstörungen zeigen, sind diese ernst zu nehmen. Ein gewisses Maß an Vergesslichkeit kann im Alter zwar vollkommen normal sein, wenn aber weitere Auffälligkeiten hinzukommen, z. B. bislang nicht gekannte Stimmungsschwankungen, ein zunehmendes Misstrauen gegenüber anderen Menschen oder Überforderungssituationen bei der Bewältigung des Alltags, dann sollte eine ärztliche Abklärung Klarheit darüber verschaffen, ob eine dementielle Erkrankung vorliegt. Es kommt immer wieder vor, dass der Verdacht an einer Demenz erkrankt zu sein, sich in der ärztlichen Diagnostik nicht bestätigt, sondern eine andere Erkrankung vorliegt, die behandelt werden kann.
Auf die Diagnose »Demenz« reagieren die Betroffenen ganz unterschiedlich. Am Anfang steht meist eine Art Schockreaktion. Wenn diese abgeklungen ist, finden Betroffene häufig einen produktiven Umgang mit ihrer Krankheit, indem sie die Veränderungen an sich selbst aufmerksam beobachten, ihre kognitiven Mängel mit pragmatischen Hilfsmitteln ausgleichen, anderen über ihre Erkrankung berichten oder sogar in die Öffentlichkeit gehen, um Verständnis für die Krankheit »Demenz« zu wecken. Solche Menschen bereiten sich meist auch bewusst auf die späteren Phasen der Demenz vor, indem sie regeln, was sich noch regeln lässt. Andere Menschen, die mit der Diagnose »Demenz« konfrontiert werden, reagieren mit Selbsthass, verfallen in eine Art Apathie oder eine Depression oder belasten ihr Umfeld mit unberechtigten Vorwürfen, Gereiztheit und Aggressivität. Selbsttötungen von Demenzkranken können vorkommen, und sie ereignen sich meist in den ersten Monaten nach Feststellung der Diagnose. Dazu muss man wissen, dass gerade »zu Beginn der Erkrankung das Risiko der depressiven Störung hoch signifikant erhöht ist« [10]. Die depressive Symptomatik kann medikamentös behandelt werden und später wieder abklingen. Auch der Versuch, die Krankheit zu verdrängen und zu verleugnen, indem man Defizite auf eine vermeintlich feindliche Umwelt projiziert oder nach anderen Krankheitsursachen für die aufgetretenen Schwierigkeiten sucht, ist meist ein vorübergehendes Phänomen. Mit solchen Abwehrmechanismen versuchen sich die Betroffenen wahrscheinlich vor der zunächst als unerträglich empfundenen Bedrohung zu schützen. [11]
Insbesondere in der kritischen Phase, wenn sich die Diagnose Demenz bestätigt, treten für die Betroffen und ihre Angehörigen viele Unsicherheiten und Fragen auf. Viele Betroffene fühlen oft mit ihren Fragen allein gelassen und finden keinen Zugang zu einer unterstützenden Beratung, die eine möglichst sachliche Auseinandersetzung mit der neuen Situation begleitet. Dabei sind insbesondere psychologische, medizinische und sozialarbeiterische Fragestellungen berührt.
Der Gerontologe Andreas Kruse versteht die Konfrontation mit der Diagnose »Demenz« als eine Grenzsituation im Sinne von Karl Jaspers. Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass sich die Situation selbst nicht verändern lasse, so dass wir nicht sinnvoll durch Planen und Berechnung reagieren könnten, um sie zu überwinden. Eine Grenzsituation verlange vielmehr vom Menschen »eine neue Einstellung zu sich selbst und zu seiner Existenz« [12]. Ob diese Herausforderung gelingt, hänge von vielen Faktoren ab, z. B. vom sozialen Umfeld, vom bisherigen Selbstverständnis, vom Verlauf der Krankheit und von der Qualität der medizinischen Versorgung. Wichtig sei es auch, den eigenen Blick nicht nur auf die bevorstehenden Verluste zu richten, sondern auch auf das, was noch lange Zeit erhalten bleibe: die kognitiven Erinnerungen an früher, die eigene Gefühlswelt und emotionale Ansprechbarkeit, die Möglichkeit, Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen, Humor und Schlagfertigkeit, die Empfänglichkeit für Atmosphären sowie alle Erinnerungen des »Leibgedächtnisses«.
Studien zur Lebensqualität demenzkranker Menschen, die sich auf Patienteninterviews stützen, kommen zu folgendem Ergebnis: »Der Alltag der Erkrankten enthält noch zahlreiche Quellen des Wohlbefindens und der unmittelbaren Lebensfreude. Daher schätzen die meisten Befragten ihre Erfahrungen erheblich positiver ein, als dies von Angehörigen oder professionellen Helfern erwartet wird. Unter den Faktoren, die sich günstig auf die Lebensqualität auswirken, werden die ausreichende Verfügbarkeit ärztlicher Informationen, die Aufrechterhaltung von Aktivität, der sinnvolle Gebrauch der Zeit, die Entfaltung kreativer Fähigkeiten und die Möglichkeit zu freien Entscheidungen, vor allem aber die Bindung an Familie und Freunde, das Bewusstsein der sozialen Zugehörigkeit und das Gefühl des Gebrauchtwerdens genannt.« [13] Ein gutes Leben mit Demenz ist also noch lange Zeit möglich, wenn es Menschen gibt, die sich auf die Erkrankten einstellen und sie unterstützen.
2.3 Was bedeutet die Diagnose »Demenz« für die Angehörigen?
Demenz ist eine Krankheit, die nicht nur das Leben des Kranken, sondern auch das der Angehörigen radikal verändert.
Insbesondere sind die Ehepartnerinnen und Ehepartner, die Lebenspartner bzw. Lebenspartnerinnen und die Kinder von dementiell erkrankten Menschen betroffen. Fest geprägte Rollenerwartungen und Bilder vom jeweiligen Gegenüber geraten ins Wanken. Dadurch entstehen Unsicherheit und die Herausforderung, neue Umgangsweisen und Rollen erfinden und einüben zu müssen. Plötzlich braucht und beansprucht einen der oder die andere in noch nie da gewesener intensiver Weise. Die jeder Beziehung eigentümliche Balance von Nähe und Distanz gerät aus den Fugen und muss neu gefunden werden. Dabei werden manchmal auch ungelöste Konflikte, verdrängte Ängste, unerfüllte Sehnsüchte und schon lange zurückliegende Enttäuschungen wieder virulent. Angehörige stehen vor der schwierigen Aufgabe, zugleich Abschied von dem bisherigen Bild eines Menschen zu nehmen und den Respekt vor dem kranken Menschen, seiner Lebensleistung und seiner Geschichte zu bewahren. Das Erleben von Trauer und Überforderung sind in diesem Prozess unvermeidlich und kein Grund für Schuldgefühle.
Hinzu kommt oft die Notwendigkeit, den Alltag völlig neu zu organisieren und zu strukturieren, und zwar für eine unabsehbare Zeit. Die durchschnittliche Unterstützungsdauer bei pflegebedürftigen Menschen liegt bei mehreren Jahren, und bei Menschen, die aufgrund einer Demenz schon früher hilfsbedürftig werden, ist sie noch länger. Häufig rutschen die Angehörigen dementer Menschen in einer Art sozialer Isolation, weil sie den pflegebedürftigen Menschen nicht allein lassen können, weil sie sich aus Scham zurückziehen oder die innere Distanz zu den in der Welt der »Normalen« Lebenden immer größer wird. Selbsthilfegruppen oder Gesprächskreise für Angehörige demenzkranker Menschen können hier hilfreich sein. Man erhält dort zum einen praktische Hinweise (z. B. zu erfahrenen Fachärzten und Fachärztinnen, zu Leistungen der Pflegekassen oder zu den Vorteilen eines Schwerbehindertenausweises) und kann sich zum anderen über persönliche Erfahrungen austauschen und einander unterstützen.
Besondere Herausforderungen für den Partner oder die Partnerin
Für Eheleute oder Lebenspartner ist das Auftreten einer Demenz bei dem langjährigen Weggefährten oder der Weggefährtin besonders schwierig zu verkraften. Wenn ein Ehe- oder Lebenspartner von einer dementiellen Erkrankung betroffen ist, dann geht auch ein Teil des gesunden Partners diesen Weg. Ähnlich wie beim Verlust durch einen Todesfall fehlt plötzlich ein wesentlicher Teil des zurückbleibenden Partners, nämlich alles, was dieser in den liebvollen Blicken des Gegenübers von sich selbst erkannte. Aber anders als bei der Trennung durch Tod bleibt das Gegenüber in einer Trennung durch Demenz leiblich anwesend, und der gesunde Teil des Paares steht vor der komplizierten Aufgabe, zugleich Abschied nehmen und ganz für den anderen da sein zu müssen. Viele Partner und Partnerinnen von dementiell erkrankten Menschen beschreiben diese Erfahrung als eine tiefe Einsamkeit in Zweisamkeit, als eine Art Witwenstatus, ohne verwitwet zu sein. Eine Angehörige formuliert ihr Erschrecken darüber, dass der Partner wesentliche Aspekte der eigenen Identität vergessen hat, folgendermaßen: »Das war für mich ein Schock. Damit habe ich nicht nur ihn verloren, sondern ich habe mit dieser Äußerung ein Stück von mir verloren. Weil damit verloren ging, wie ich gesehen werden will ... Und er wusste es nicht mehr. Da habe ich gedacht: >Oh, jetzt gehen Stücke von uns beiden weg!< und man muss sich dann schon sehr, sehr lieben, um solche Dinge durchzuhalten.« [14] Die zunehmende Unerreichbarkeit eines Menschen, mit dem man sich irgendwann einmal »fast blind« verstanden hat, ist ein überaus schmerzlicher Prozess. Demgegenüber stehen aber auch Berichte von oft sehr unvermuteten und unmittelbaren Glückserfahrungen, Momente voller Nähe und tiefer, ermutigender Berührung. Es ist wichtig, über der Erfahrung von Schmerz und Leid diese unverfügbaren Momente von Erfüllung nicht aus dem Blick zu verlieren.Als besonders schwierig wird oft die erste Phase der dementiellen Erkrankung erlebt: In dieser Phase gilt es, nicht nur die eigene Verzweiflung, sondern auch die Verzweiflung des geliebten Partners auszuhalten. Um hier immer wieder Distanz gewinnen zu können, ist eine gute Kenntnis der Krankheitssymptome und des Krankheitsverlaufs unerlässlich. Dennoch bleibt es in hohem Maße belastend, wenn sich in eine vertrauensvolle Beziehung plötzlich Misstrauen und Aggressivität einschleichen oder wenn sich die erkrankte Person sogar von denen, die ihr am nächsten stehen, elementar bedroht fühlt. Wie soll man damit umgehen, wenn man sich selbst liebevoll und fürsorglich verhält und das Gegenüber verängstigt, abschätzig oder aggressiv reagiert? Da tauchen oft Fragen auf wie: Wo kommt denn all das her, was dieser Mensch da äußert? War es schon immer da und nur gut versteckt? Waren unser gegenseitiges Vertrauen und unsere Liebe zueinander vielleicht sogar eine Illusion? Es ist von großer Bedeutung, dass Angehörige verstehen, dass solche Fragen von einer dauerhaften Identität der Persönlichkeit ausgehen, die die Krankheit Demenz gerade zerstört. Manchmal ist es so, dass Kindheitserfahrungen wieder aufbrechen und sozusagen in der falschen Generation ausagiert werden, aber manchmal verändern dementiell erkrankte Menschen auch ihr Wesen und ihren Charakter auf vollkommen unerklärliche Weise. Die Unverständlichkeit dieser Krankheit kann wütend machen, und es ist nicht immer leicht, die Wut auf die Krankheit nicht an dem erkrankten Menschen auszulassen, der so überaus viel Geduld und Einfühlungsvermögen verlangt. Falls der Anteil von Menschen, die sich im Alter auf eine Jahrzehnte währende Partnerschaft verlassen können, geringer wird, wird sich dies vermutlich auch auf die Belastbarkeit von Beziehungen auswirken. Die Konsequenzen sind gegenwärtig noch schwierig zu prognostizieren.
Neue Möglichkeiten der Begegnung mit Angehörigen
Gelingt es jedoch, eine zufriedenstellende Betreuungslösung für den dementiell Erkrankten zu finden, die die Angehörigen nicht überfordert, können Beziehungen auch neue Qualitäten gewinnen: viele Angehörige beschreiben innige Momente, die sie mit den dementen Menschen erleben. Oft bringen sie zum Ausdruck, dass ihre Beziehungen reicher an Emotionalität und Zärtlichkeit geworden seien, nicht zu vergessen die komischen Momente, die das Leben mit einem dementiell erkrankten Menschen mit sich bringt. Auch gegenseitige Dankbarkeit kann manchmal in der Phase der Krankheit besser zum Ausdruck gebracht werden als in gesunden Zeiten. Viele Angehörige, die Erfahrungen im Umgang mit dementen Menschen haben, fühlten sich am Ende bereichert. Arno Geiger beschreibt in seinem Roman eindrücklich, wie das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Familie und er selbst durch den Umgang mit seinem dementen Vater wuchsen: »Es gibt da etwas zwischen uns, das mich dazu gebracht hat, mich der Welt weiter zu öffnen. Das ist sozusagen das Gegenteil von dem, was der Alzheimerkrankheit normalerweise nachgesagt wird - dass sie Verbindungen kappt. Manchmal werden Verbindungen geknüpft.« [15] Vielleicht ist es für die Kinder von Eltern mit Demenz aber auch leichter, solche bereichernden Erfahrungen zu machen als für Lebenspartner, die ja oft selbst schon in höherem Alter oder gebrechlich sind.
Besondere Herausforderungen für Kinder
Für die Kinder demenzkranker Eltern ist es ebenfalls schwer, diejenigen, die ihnen ihr Leben lang Halt gegeben haben und stark erschienen, nun so schwach und verwirrt zu sehen, aber meist erkranken die eigenen Eltern ja erst zu einem Zeitpunkt, wenn man bereits die Erfahrung eigener Unabhängigkeit machen konnte. Allerdings gibt es auch den seltenen Fall, dass bereits Eltern noch jugendlicher Kinder an Demenz erkranken. Dies wird von Jugendlichen als extrem bedrohlich und schamvoll erlebt. Sie brauchen in jedem Fall verständnisvolle und stabilisierende Begleitung.
Im Normalfall liegt die Herausforderung von Kindern dementer Eltern aber in der Organisation des Alltags. Das Lebenstempo und die Bedürfnisse von Menschen mit Demenzerkrankung lassen sich kaum in einen normalen Berufsund Familienalltag integrieren. Die meisten Menschen im mittleren Alter sind auch ohne einen pflegebedürftigen Menschen schon derart ausgelastet, dass einfach kein Raum für einen Menschen mit Demenz ist. Hinzu kommen mitunter noch erhebliche räumliche Distanzen. Darüber hinaus werden Kinder demenzkranker Eltern oft von der Frage bedrängt, ob sie selbst einmal an einer Demenz erkranken werden.
Für die Organisation des Alltags besonders belastend ist die manchmal kaum zu stillende Unruhe von Menschen mit Demenz. Wenn jemand ständig umherläuft, orientierungslos die Wohnung verlässt oder die ganze Nacht rumort und schreit, stellt sich die Frage nach einer medikamentösen Therapie oder nach einem Umzug in eine Pflegeeinrichtung in dringlicher Weise. Oft sind solche Überlegungen mit Schuldgefühlen verbunden, nicht genug Zeit zu haben, den Angehörigen »ruhig gestellt« oder »abgeschoben« zu haben oder den Anforderungen einfach nicht gewachsen zu sein. Ebenfalls ist es von Bedeutung, sich auf die oft nicht unerheblichen wirtschaftlichen Aufwendungen einzustellen, die im Zusammenhang mit einer Fremdbetreuung oder einem Umzug in eine Pflegeeinrichtung nötig werden.
2.4 Was helfen kann in einem Leben mit dementiell erkrankten Menschen
Ein Perspektivenwechsel
Hilfreich für das Leben mit einem dementen Angehörigen ist es, Wissen über die Krankheit zu erwerben und sich auf den Verlauf der Krankheit einzustellen. [16] In allen einschlägigen Veröffentlichungen zum Umgang mit dementiell erkrankten Menschen wird betont, wie wichtig es ist, die Perspektive zu wechseln und sich immer wieder neu auf die Welt des Menschen mit Demenz einzustellen. Normalerweise wird die unhintergehbare Fremdheit eines anderen Menschen ja durch dessen Selbstmitteilungen überbrückt. Die eingeschränkten Selbstmitteilungen demenzkranker Menschen sind aber auf die Interpretationskunst der ihnen nahe stehenden Menschen angewiesen, die diese auch erst erlernen müssen. Arno Geiger beschreibt die Voraussetzung gelingender Kommunikation mit seinem demenzkranken Vater folgendermaßen: »Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm. Dort drüben, innerhalb der Grenzen seiner geistigen Verfassung, jenseits unserer auf Sachlichkeit und Zielstrebigkeit ausgelegten Gesellschaft, ist er noch immer ein beachtlicher Mensch, und wenn auch nach allgemeinen Maßstäben nicht immer ganz vernünftig, so doch irgendwie brillant.« [17]
Rücksicht auf eigene Grenzen
Ebenso wichtig wie der Perspektivenwechsel ist aber der wachsame Blick auf die eigenen physischen, emotionalen und psychischen Grenzen bei der Pflege. Es gibt Pflegesituationen, die Angehörige überfordern, und es ist wichtig solche Überforderungssituation zu erkennen und geeignete Maßnahmen zu überlegen, diesen zu begegnen. Dafür ist es hilfreich sich über die oft recht zahlreichen entlastenden Unterstützungsangebote zu informieren und sie auf ihre Eignung zu prüfen. Neben verschiedenen ambulanten Unterstützungsangeboten kann auch ein Heimplatz in solchen Situationen die nötige Entlastung sorgen. Auch hier sollte die Entscheidung für eine Pflegeeinrichtung sorgfältig und gut überlegt getroffen werden. Manche demenzkranke Menschen fühlen sich in der Gemeinschaft anderer Demenzkranker weniger einsam. Dort können sie unter Umständen noch vorhandene soziale Kompetenzen besser einbringen als in der Umgebung von Gesunden.
Ein menschenfreundliches Verständnis der christlichen Gebote
Die meisten Angehörigen spüren deutlich die Verantwortung, die auf ihnen ruht, wenn nahe Angehörige an Demenz erkranken. Der weitaus größte Teil dementiell erkrankter Menschen wird von Angehörigen betreut und gepflegt, solange es irgendwie geht. Dies geschieht vor allem aus Liebe oder Zuneigung zu den erkrankten Menschen. Angehörige spüren in aller Regel aber auch eine moralische Verpflichtung, ihrem Partner beizustehen in guten wie in schlechten Tagen bzw. ihren Eltern etwas von dem zurückzugeben, was ihnen als Fürsorge und Aufopferung entgegen gebracht wurde, als sie noch Kinder waren. In Gesprächen mit Angehörigen wird immer wieder deutlich, dass sie in den christlichen Geboten formuliert finden, was für ihr Verhalten bestimmend ist. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang das Versprechen von Ehepartnern, einander treu zur Seite zu stehen, »bis dass der Tod euch scheidet«, sowie das vierte Gebot, »Vater und Mutter zu ehren«.
Diese ethische Orientierung wird im Alltag immer wieder auf harte Proben gestellt, insbesondere dann, wenn die dementen Personen ihre Angehörigen gar nicht mehr erkennen oder ihnen das Gefühl geben, sie machten alles falsch und andere (Pflege)Personen seien ihnen lieber. Es kommt sogar vor, dass demente Menschen in einem Pflegeheim neue Beziehungen eingehen, in denen für den früheren Partner kein Platz mehr zu sein scheint. Und genauso kann es sein, dass für pflegende Angehörige neue Beziehungen wichtig werden, in denen sie Verständnis und Unterstützung finden.
Die Selbstverpflichtung zur ehelichen Treue und das Gebot der Ehrung der Eltern werden heute in der Regel beide als ethische Maximen gedeutet, die auf Wechselseitigkeit hin angelegt sind, aber sie unterscheiden sich auch in einem wesentlichen Punkt: Das Gebot der Ehrung der Eltern spricht von einer Verpflichtung, die zeitlich versetzt zu erbringen ist, die Pflicht zur ehelichen Treue hingegen von einer dauerhaft wechselseitigen Verpflichtung. Eltern haben ihren Kindern gegenüber die Aufwendungen, Fürsorge und Liebe, die das Gebot der Ehrung der Eltern begründen, bereits erbracht. Deshalb behält das Gebot seine orientierende Kraft auch, wenn die Eltern ihre Kinder gar nicht mehr erkennen. Wie auch immer Eltern sich verändern mögen, dies hebt die Pflicht nicht auf, für sie zu sorgen. Ob diese grundsätzliche ethische Verpflichtung, sich um die Eltern zu kümmern, auch dann besteht, wenn die Eltern ihre Fürsorgepflichten gegenüber den Kindern zuvor in grober Weise verletzt haben, lässt sich nicht allgemein beantworten. Es ist jedenfalls verständlich, dass das Empfinden einer ethischen Verpflichtung gegenüber den eigenen Eltern bis zu einem gewissen Grad von den Erfahrungen in der Kindheit abhängt. Vom geistigen Zustand der alt gewordenen Eltern ist das Gebot, die Eltern zu ehren, jedoch unabhängig zu sehen.
Bei Eheleuten liegen die Dinge komplizierter. Die Krankheit der Demenz kann in einem solchen Maße mit Prozessen der Entfremdung verbunden sein, dass der gesunde Ehepartner das Gefühl bekommt: Den Menschen, an den ich mich einst gebunden habe, gibt es nicht mehr. Die Erkrankung des geliebten Partners oder der geliebten Partnerin kann als ein Weggehen in die Krankheit erlebt werden, so dass sich der Gesunde als der Verlassene fühlt. In solchen Fällen kann ein Konflikt entstehen zwischen der Aufgabe des Abschiednehmens und der Verpflichtung zu ehelicher Treue. Es ist durchaus verständlich, dass sich angesichts der Erfahrung schwerer Demenz die Frage stellt: »Kann ein Versprechen, das aus Liebe gegeben wurde, für immer bindend sein, wenn ein Mensch sich so verändert?« Oder: »Darf man einen Menschen, der dement ist, auch aus der Ferne lieben? In der Erinnerung?« [18] Solche Fragen können nicht pauschal beantwortet werden, aber es sind durchaus Situationen vorstellbar, in denen Ehepartner dem Geist des von ihnen gegebenen Eheversprechens eher entsprechen, wenn sie ihren Partner loslassen und in andere Hände geben, als wenn sie täglich unter der Entfremdung leiden. Nicht selten ist es auch so, dass ein Leben in einer stationären Pflegeeinrichtung einen neuen und konfliktreduzierten Umgang zwischen Eltern und Kindern ermöglicht, gerade dort, wo untragbare Belastungen wegfallen und eine neue Konzentration auf die Beziehungsqualität möglich wird.
Aus seelsorglicher Perspektive ist Angehörigen von Menschen mit Demenz deshalb folgendes zu sagen: Die grundsätzliche Orientierung am Versprechen lebenslanger Treue in einer Ehe und am Gebot der Ehrung der Eltern ist gut und richtig. Im Einzelfall muss diese Orientierung aber mit anderen Verpflichtungen abgewogen werden, insbesondere mit der Verpflichtung, die man gegenüber der eigenen Gesundheit hat. In der Seelsorge begegnen Pfarrerinnen und Pfarrern immer wieder Angehörige, die durch die langjährige Betreuung demenzkranker Menschen zu Hause derart überlastet und vereinsamt sind, dass sie selbst kaum noch schlafen, essen oder sich am Leben erfreuen können. Solche Formen der Aufopferung verlangt die christliche Ethik nicht. In den meisten Fällen findet sich eine für alle befriedigende Betreuungssituation. Ihre letzte Orientierung beziehen ethisch anspruchsvolle Lebenssituationen aus den Liebesgeboten, die Jesus Christus als die vornehmsten Gebote bezeichnet: »Du sollst lieben Gott, deinen Herrn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüte.« Und: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.« (Mt 22, 37 f.) Sowohl die Liebe zu Gott als auch der liebevolle Umgang mit sich selbst brauchen aber Freiräume, die es einem Menschen möglich machen, das eigene Leben dankbar zu genießen. Solche Freiräume dürfen, ja sollen sich Angehörige von Menschen mit Demenz immer wieder schaffen. Die Selbstliebe ist Jesus Christus zufolge nicht nur nicht verboten, sondern sie steht in enger Beziehung zur Nächstenliebe. Pflegende Angehörige tun deshalb gut daran, wenn sie großen Wert auf einen freundlichen Umgang mit sich selbst legen.
Kinder von Eltern mit Demenz stehen in aller Regel vor der Aufgabe, die Verpflichtung gegenüber ihren Eltern mit den sonstigen beruflichen und familiären Verpflichtungen in Einklang zu bringen. Manche beruflichen Anforderungen erlauben die zusätzliche Übernahme einer Pflege nicht oder nur in eingeschränktem Umfang, und so manche Familie kommt durch die dementen Großeltern an ihre Grenzen. Aber oft ist mehr möglich als man zunächst denkt, wenn die notwendigen »Umbaumaßnahmen« räumlicher und zeitlicher Art vorgenommen wurden. Der Grundsatz vom »Vorrang der häuslichen Pflege« entspricht nicht nur den Richtlinien der Pflegekassen, sondern in der Regel auch den Bedürfnissen der Erkrankten am besten, denen es schwer fällt ihre gewohnte und vertraute Umgebung zu verlassen. Allerdings steht ein für Angehörige entlastendes Betreuungsangeboten, das eine Berufstätigkeit ermöglicht nicht in allen Regionen ausreichend zur Verfügung.
Unterstützung
Angehörige von Menschen mit Demenz brauchen für die Bewältigung der ihnen gestellten Aufgabe jede nur denkbare Form der Unterstützung. Wichtig sind Angebote im Zwischenbereich der häuslichen und der institutionellen Pflege. Auch die Erreichbarkeit von Beratungs- und Betreuungseinrichtungen muss verbessert werden, besonders im ländlichen Raum. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für Menschen aus dem Freundeskreis oder der Nachbarschaft, die betreuende oder pflegerische Aufgaben für Menschen mit Demenz übernehmen. Dass bisher nur von »Angehörigen« gesprochen wurde, ist der Tatsache geschuldet, dass diese in der Regel die Hauptlast der Pflege tragen. Die soziale Leistung, die zunehmend auch Freundinnen und Freunde sowie Nachbarn und Nachbarinnen erbringen, sollte aber ebenso gewürdigt werden. Wie unterstützende Maßnahmen für pflegende Angehörige aus Sicht der evangelischen Kirche konkret aussehen sollten, wird im Schlussteil dieser Schrift entfaltet.
2.5 Überlegungen zur geistlichen Dimension der Pflege
Der oft beschriebene »Pflegenotstand« ist nicht nur ein Problem für die erforderliche Unterstützung pflegebedürftiger Menschen, sondern auch für im Pflegebereich berufstätige Menschen. Schlechte Bezahlung, mangelnde Anerkennung, Personalmangel, restriktive Zeitvorgaben, interprofessionelle Konflikte - all das erschwert die Arbeit professioneller Pflegekräfte. Diese Realitäten können und sollen nicht geleugnet werden. Aber die Aufgabe der Pflege bedürftiger Menschen kann auch als sehr befriedigend und sinngebend erlebt werden, denn sie ermöglicht zutiefst menschliche Begegnungen und ethisch sowie religiös bedeutsame Erfahrungen.
Arno Geiger befragt seinen bereits dementiell erkrankten Vater einmal, was für ihn das Wichtigste im Leben sei. Der Vater formuliert daraufhin, vermutlich stellvertretend für viele Demenzkranke: »Wichtig ist, dass man um dich herum freundlich redet. Dann geht vieles. - Und was magst du weniger? - Wenn ich folgen muss. Ich mag es nicht, wenn man mich herumhetzt.« [19]
Diese Aussagen machen deutlich, von welch überragender Bedeutung Freundlichkeit, Wohlwollen und Zugewandtheit für die Pflege demenzkranker Menschen sind. Für diese atmosphärischen Realitäten haben Menschen mit Demenz noch sehr lange einen untrüglichen Sinn. Ein Pfleger beschreibt die Welt eines Pflegeheimes als eine »entrückte Zeitlupenwelt ..., in der alles Gefühl und nichts mehr Vernunft ist.« [20] Aus christlicher Sicht sind solche Gefühlswelten oder Atmosphären geistliche Wirklichkeiten. Wenn im Neuen Testament immer wieder dazu aufgefordert wird, in der Liebe Jesu Christi zu bleiben (z. B. Johannes 15,9), als sei diese Liebe ein Raum, so können Räume, in denen freundlich um einen herum geredet wird, durchaus zu Erfahrungsräumen der Atmosphäre der Liebe werden. Die persönlichen Anforderungen und den persönlichen Gewinn des Umgangs mit den Patienten beschreibt derselbe Pfleger folgendermaßen: »Wenn ich vor Schichtbeginn auf die Station komme, muss ich mich selbst draußen vor der Tür stehen lassen mit meinen Launen, meinen Befindlichkeiten, meinen Problemen. Es ist wichtig, dass ich hier auf der Station ruhig und aufgeräumt bin ... Wenn man sich Zeit für sie nimmt, liebevoll und einfühlsam mit ihnen umgeht, bekommt man es tausendfach zurück.« [21]
Für Pflegepersonen mit explizit christlichem Selbstverständnis geht die Verheißung, die auf ihrer Tätigkeit liegt, noch weiter. Im Matthäus-Evangelium beschreibt Jesus Aspekte der Pflege als Möglichkeiten der Begegnung mit ihm selbst. »Ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben ... Ich bin nackt gewesen und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen und ihr habt mich besucht. ... Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern und Schwestern, das habt ihr mir getan.« (Auszüge aus Mt 25, 35 - 40) In einer solchen geistlichen Perspektive verliert die mühsame und zeitraubende Pflege viel von ihrer Banalität. Wer Menschen dazu verhilft, dass sie in einem Raum liebevoller Zuwendung ihr Leben verbringen können, der leistet nicht nur einen wesentlichen Beitrag zur Bewahrung von deren Würde, sondern wendet sich in der Hinwendung zu den bedürftigen Menschen auch Christus zu.
Allerdings ist es für die Erfahrbarkeit der ethischen und religiösen Relevanz pflegerischer Arbeit notwendig, dass in der Pflege Arbeitsbedingungen geschaffen werden, unter denen die Pflegekräfte ihren eigenen ethischen Orientierungen auch Folge leisten können. Wenn zu der fachlich wie emotional hoch anspruchsvollen Arbeit noch Schuldgefühle und Zweifel an der Sinnhaftigkeit des eigenen Tuns hinzukommen, ist die ursprüngliche Berufsmotivation des Pflegeberufes kaum durchzuhalten. »Innere oder oft auch äußere Kündigungen« [22] sind dann die Folge. Pflegekräfte brauchen neben einer angemessenen Bezahlung Freiräume für »Gefühlsarbeit«, um der Persönlichkeit der pflegebedürftigen Menschen gerecht werden und die Pflegetätigkeit als befriedigend erleben zu können: »Die gezielte Anwendung von Gefühlsarbeit erleichtert die Arbeit der Pflegenden und schafft Zufriedenheit auf Seiten der Betroffenen und der Pflegefachpersonen. Gelungene Gefühlsarbeit ist folglich ein integraler Bestandteil guter Pflege.« [23] Um der hohen Verantwortung, die beruflich pflegende Menschen für Andere übernehmen, gerecht werden und um den berechtigten Erwartungen und Bedürfnisse erfüllen zu können ist es erforderlich, dass die Pflegekräfte ausreichend Zeit haben.