Wenn die alte Welt verlernt wird
Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe, EKD-Text 120, Hrg. EKD und Diakonie Deutschland, Februar 2014, ISBN 978-3-87843-031-5
Vorwort
Wir leben in einer alternden Gesellschaft. Die demografische Entwicklung stellt unser Sozial- und Gesundheitssystem vor vollkommen neue und drängende Aufgaben. Eine dieser Aufgaben besteht darin, die Unterstützungssysteme für die künftig stark anwachsende Zahl von pflegebedürftigen Menschen wirkungsvoll zu stärken und neue Betreuungsformen und pflegerische Angebote zu entwickeln. Unter den Pflegebedürftigen sind dementiell erkrankte Menschen noch einmal eine besondere Gruppe. Auch ihre Zahl wird nach allen Prognosen stark ansteigen. Für ihre Betreuung ist unser Gesundheitssystem allerdings erst unzureichend vorbereitet.
Dies betrifft auch die Ausstattung der Pflegeangebote mit qualifiziertem Personal und mit finanziellen Ressourcen. Mit der Weiterentwicklung der Pflegeversicherungsgesetzgebung hat die Politik begonnen, auf die absehbare Entwicklung zu reagieren. Es bleibt noch vieles zu tun!
Über die Frage der Ressourcen hinaus geht es auch um die konzeptionelle Weiterentwicklung von Betreuungsangeboten: Pflege muss auf die Problemlagen von Familien und begleitenden Nächsten abgestimmt sein und damit erheblich stärker personenbezogen reagieren können als bislang gewohnt.
Neben diesen Fragen der Ausstattung und der Konzeption gibt es aber einen noch grundlegenderen Bereich, der unserer Aufmerksamkeit bedarf. Es geht um unser Bild der Demenzerkrankung und des dementiell erkrankten Menschen. Der demenzkranke Mensch stellt unser Bild des starken, leistungsfähigen, seiner selbst mächtigen Menschen in Frage, er fordert uns in besonderer Weise heraus, die Würde des Menschen als Menschen, unabhängig von Leistung, Bewusstheit und Fähigkeiten, zu achten. Auch in diesem Sinne ist der »Umgang mit Demenz« eine »gemeinsame Aufgabe« unserer Gesellschaft, wie es der Untertitel dieser Schrift sagt.
Der hier vorliegende Band nimmt sich genau dieser Aufgabe an. Er wird gemeinsam vom Rat der EKD und der Diakonie Deutschland herausgegeben und vereint einen von der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD erarbeiteten und mit der Diakonie Deutschland abgestimmten Text mit einer Sammlung von guten Beispielen im Umgang mit Demenz in Einrichtungen der Diakonie. Ebenfalls enthalten sind Informationen über den Zugang zu weiteren Hilfsangeboten für ratsuchende Menschen. Die gemeinsame Herausgeberschaft des Rates der EKD und der Diakonie Deutschland macht auch deutlich, dass sich die Kirchen und die Diakonie der demografischen Herausforderung stellen und in ihren Gemeinden, Einrichtungen und Werken daran mitwirken, Ideen und Konzepte zu entwickeln und praktisch umzusetzen.
Unser Text nähert sich dem Thema Demenz über die Perspektive der betroffenen Menschen: Was heißt es an Demenz zu erkranken? Was bedeutet es für Angehörige miterleben zu müssen, wie der Vater oder die Mutter, die Partnerin oder der Partner, Ehemann oder Ehefrau in einem zunächst schleichenden Prozess immer mehr an kognitiven Fähigkeiten einbüßt? Was geschieht, wenn die gewohnte gemeinsame Welt, wie es im Titel unserer Schrift heißt, Schritt für Schritt »verlernt wird«?
Der Text gibt Informationen über die pflegerischen, medizinischen und rechtlichen Aspekte der Demenzerkrankung. Er gibt Hinweise zu Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung und zu Fragen der Betreuung. Über diese Informationen hinaus bietet der Text aber in seinem Kern eine christliche, eine evangelische Perspektive auf die Demenzerkrankung. Diese Perspektive ergibt sich aus dem inhaltlichen Kern des Evangeliums von Jesus Christus: Der Text verankert die Wahrnehmung des demenzerkrankten Menschen in einem Menschenbild, in einer Anthropologie des verletzlichen und schutzbedürftigen Lebens. Die Würde und die Selbstbestimmung des verletzlichen Lebens sind, so entwickelt es unser Text, in unbedingter Weise zu achten. Diese Würde des verletzlichen Lebens realisiert sich in den sozialen Beziehungen eines ganzen gelebten Lebens, in Ehe und Partnerschaft, in Familie und Freundschaft, in Beruf und Engagement. Aber: so tief, wie die Menschenwürde sozial verankert ist, so weit reicht sie über den Bereich des Sozialen hinaus. Sie ist nach christlicher Überzeugung gegründet in der unbedingten schöpferischen Liebe Gottes, die jeden Menschen umfängt, wie sie sich gezeigt und bewährt hat im Weg Jesu: In Kreuz und Auferstehung, im Zerbrechen des alten Menschen und in der Überwindung des Todes.
In dieser Hinsicht zielt der Respekt vor der Würde des verletzlichen Lebens zunächst auf die Abwehr des verfügenden Zugriffs auf das Schwache und Schutzbedürftige. Gerade in diesem Respekt liegt eine der entscheidenden Quellen für die Anerkennung von Autonomie und Selbstbestimmung.
Dies kann aber nicht nur sozusagen negativ, nur in der Schutzdimension, ausgedrückt werden, so wichtig und zentral dies ist. Die Achtung vor der Würde des verletzlichen Lebens ohne Ansehen seiner physischen und kognitiven Leistungsfähigkeit bedarf auch der positiven Aufnahme in guten und konstruktiven Ideen für menschenwürdige Pflege und Betreuung, für ein Miteinander der Generationen und die Gemeinschaft von demenzerkrankten und »gesunden« Menschen. In diesem Sinne haben die demenzerkrankten Menschen und hat die Aufgabe des Umgangs mit pflegebedürftigen Menschen ihren Platz in der Mitte unserer Gesellschaft, unseres Gemeinwesens und auch in der Mitte unserer Kirchen und Werke. Der Rat der EKD und die Diakonie Deutschland wollen sich gemeinsam dieser Aufgabe stellen: In der Gestalt ihrer Gemeinden und diakonischen Einrichtungen, im Zusammenwirken mit gesellschaftlichen Partnern, in der gemeinsamen Verantwortung auch im politischen Raum unseres Gemeinwesens.
Die Broschüre »Wenn die alte Welt verlernt wird« richtet sich an ratsuchende Betroffene als eine Ermutigung, sich vertieft mit dem Thema Demenz auseinanderzusetzen. Sie richtet sich aber ebenso an Verantwortliche und Mitarbeitende in der Kirche und an diejenigen, die Verantwortung tragen in Politik und Verwaltung und in den unterschiedlichen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens. Der Text möchte Impulse dafür geben, weitere Angebote und Arbeitsformen für die Begleitung demenzkranker Menschen und ihrer Angehörigen zu entwickeln und die rechtlichen, organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen dafür bereit zu stellen.
Der Rat der EKD und die Diakonie Deutschland danken der Kammer für Öffentliche Verantwortung, besonders dem Vorsitzenden, Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Hans-Jürgen Papier, und der stellvertretenden Vorsitzenden, Frau Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler, für den hier vorgelegten Text. Wir hoffen und wünschen, dass dieser Text einen Beitrag zu einer langsam in Gang kommenden und höchst wichtigen gesellschaftlichen Debatte sein möge, der Debatte darüber, wie wir in einer alternden Gesellschaft leben wollen. Der kirchliche Beitrag soll aus der Botschaft des Evangeliums geschöpft sein und gleichwohl auch von denen gehört und in seinen Argumenten gewürdigt werden können, die den Glauben und die Hoffnung der Christinnen und Christen nicht teilen.
Landesbischof
Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Vorsitzender des Rates
der Evangelischen Kirche in Deutschland
Pfarrer
Ulrich Lilie
Präsident Diakonie Deutschland