Wenn die alte Welt verlernt wird
Umgang mit Demenz als gemeinsame Aufgabe, EKD-Text 120, Hrg. EKD und Diakonie Deutschland, Februar 2014, ISBN 978-3-87843-031-5
5 Ethische Aspekte der Demenzerkrankung: Menschenwürde, Personsein, Individualität und Leiblichkeit
Zum Irritierenden und Beängstigenden an der Demenz gehört, dass sie sich im Verlust von geistigen Fähigkeiten manifestiert, in denen man traditionell ein Wesensmerkmal des Menschen im Vergleich zu anderen Lebewesen gesehen hat. Demenz scheint so gesehen ein eingeschränktes, defizitäres Menschsein zur Folge zu haben. Auch die Menschenwürde wird teilweise mit derartigen Fähigkeiten wie z. B. mit der Autonomie eines Menschen in Verbindung gebracht. Dies wirft die Frage auf, ob eine Demenzerkrankung die Würde der betroffenen Menschen tangiert. Ähnliche Fragen stellen sich im Blick auf die Individualität von Menschen, die an Demenz leiden. Auf diese nehmen wir Bezug, wenn wir von Menschen als Personen sprechen. So bedeutet »die Person eines Menschen achten«: seine Individualität achten, d. h. was er will, wie er fühlt, wie er denkt, wie er andere und sich selbst sieht, bis hin zu seiner religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung. Sind Menschen mit fortgeschrittener Demenz noch dieselben Personen wie vor ihrer Erkrankung? Sind sie überhaupt noch Personen? In solchen Fragen zeigt sich, dass die Demenzerkrankung eine fundamentale Herausforderung an unser Verständnis des Menschen darstellt.
Anthropologische Erörterungen begreifen in der Regel den Menschen von seinen Eigenschaften und Fähigkeiten her: seiner Vernunft- und Sprachbegabung, seiner Freiheit und Autonomie, seinem Transzendenzbezug, seiner Symbolisierungsfähigkeit als Kulturwesen, seiner Geschichtlichkeit, aber auch seinem Gefangensein in seiner menschlichen Natur, seiner Triebhaftigkeit oder seiner Eigenart als Mängelwesen. Wo dem Menschen eine Sonderstellung im Sinne des Würdebegriffs zuerkannt wird, da geschieht dies zumeist aufgrund solcher Eigenschaften. Dies zieht regelmässig die Frage nach dem Status von Menschen nach sich, die nicht über diese Eigenschaften verfügen. Die Tatsache, dass auch sie qua Menschsein von dieser Sonderstellung nicht ausgenommen sind, wirft die Frage auf, ob diese nicht in etwas anderem als in spezifischen Eigenschaften oder Fähigkeiten begründet ist, über die nicht alle Menschen verfügen.
5.1 Demenz und Menschenwürde
Der Mensch gehört sowohl der natürlichen als auch der sozialen Welt zu. Dementsprechend muss unterschieden werden zwischen Menschsein im biologischen Sinne und Menschsein im sozialen Sinne, d. h. im Sinne der Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft. Man nähert sich dem Begriff der Menschenwürde, wenn man fragt, in welchen Hinsichten das Menschsein im sozialen Sinne missachtet werden kann. Offensichtlich kann dies auf zweierlei Weise geschehen: Zum einen kann Menschen die Anerkennung als Menschen verweigert werden, und sie können als Nicht-Menschen oder »Untermenschen« behandelt werden, wie dies auf dem Hintergrund der nationalsozialistischen Rassenideologie mit bestimmten Gruppen von Menschen geschehen ist; zum anderen können Menschen zwar als Menschen anerkannt, aber nicht als Menschen geachtet werden, indem elementare Pflichten verletzt werden, die wir gegenüber Menschen haben, wie etwa die Pflicht, einen Menschen nicht zu erniedrigen, oder die Pflicht, einen Menschen nicht zu foltern. Nimmt man beides zusammen, dann ergibt sich eine einfache Definition dessen, was es heisst, ein Mensch im sozialen Sinne zu sein: Mensch zu sein heisst, ein Wesen sein, dem aufgrund natürlicher menschlicher Eigenschaften die Anerkennung und Achtung als Mensch geschuldet ist. Nichts anderes besagt der Begriff der Menschenwürde. Denn Menschenwürde zu haben heisst genau dies: jemand zu sein, dem die Anerkennung und Achtung als Mensch geschuldet ist. Das bedeutet, dass die Menschenwürde nicht als ein Zweites zum Menschsein hinzukommt, was die Möglichkeit offen ließe, dass es Wesen gibt, die zwar Menschen sind, aber keine Menschenwürde besitzen, und was dann die Frage aufwerfen würde, aufgrund welcher besonderen Bedingungen, Eigenschaften oder Fähigkeiten Menschen über ihr Menschsein hinaus auch noch Würde besitzen. Vielmehr ist die Menschenwürde essentiell im Menschsein enthalten.
Einen Hinweis gibt hier nicht zuletzt das Wort »Mensch«, das in bestimmten Kontexten ein nomen dignitatis, d. h. ein Würdeprädikat ist, das bestimmte Pflichten beinhaltet. Das zeigt sich etwa in dem Ausruf »Das sind doch Menschen!« in Anbetracht der Erniedrigung oder Folterung von Menschen. Damit wird eingeklagt, dass die Betreffenden als Menschen anerkannt und geachtet werden müssen und daher nicht in dieser Weise behandelt werden dürfen. Hier gibt es einen offensichtlichen Unterschied zu Wörtern wie »Tier« oder »Pflanze«, die Gegenstände der natürlichen Welt bezeichnen und keinen solchen Würdegehalt haben. Die Sonderstellung des Menschen in Gestalt seiner Würde ist bereits in unserer Sprache enthalten. [52]
Weil Menschsein auf Anerkennung und Achtung angewiesen ist, ist es in so tiefer Weise verletzlich. Menschen kann, wie gesagt, diese Anerkennung und Achtung verweigert werden. Allerdings hebt diese Verweigerung die Pflicht nicht auf, sie als Menschen anzuerkennen und zu achten. Sie nimmt ihnen also nicht ihre Würde. Denn die bloße Missachtung einer Norm setzt diese Norm nicht außer Kraft. Hier liegt die Pointe von Art. 1 des Deutschen Grundgesetzes, wenn darin formuliert wird: »Die Menschenwürde ist unantastbar«, und nicht im Sinne eines Gebots formuliert wird: »Die Menschenwürde soll oder darf nicht angetastet werden.« Die Menschenwürde im Sinne geschuldeter Anerkennung und Achtung als Mensch kann einem Menschen durch nichts genommen werden, mag er noch so sehr erniedrigt oder misshandelt werden.
Die entscheidende Frage ist damit, welches die natürlichen Eigenschaften sind, aufgrund deren Wesen die Anerkennung und Achtung als Menschen geschuldet ist. Gehören dazu Bewusstsein, Erinnerungsvermögen oder die Fähigkeit zur Selbstbestimmung? Dann müssten wir Neugeborenen, Komatösen und Dementen, ja selbst Schlafenden das Menschsein und die Menschenwürde absprechen, was wir ersichtlich nicht tun. Tatsächlich sind es jene Eigenschaften, aufgrund deren sie uns leiblich als Menschen gegenwärtig sind. Es ist diese ihre leibliche Präsenz als Menschen, aufgrund derer ihnen sozial die Anerkennung als Menschen im Sinne von Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft geschuldet ist mitsamt allem, was dies an Pflichten ihnen gegenüber beinhaltet. Das gilt auch für Menschen mit fortgeschrittener Demenz.
Wenn die Menschenwürde essentiell im Menschsein enthalten ist, dann hat dies zur Konsequenz, dass mit der Infragestellung der Würde von Menschen in Tat und Wahrheit ihr Menschsein in Frage gestellt wird, d. h. ihre Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft. Diskussionen darüber, ob alle Menschen Würde haben oder nur solche, die über bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten verfügen, ebnen daher - zumindest in der Tendenz - der Exklusion verschiedenster Kategorien von Menschen den Weg, d. h. ihrem Ausschluss aus dem Kreis der Menschen.
In christlicher Perspektive hat die Fundiertheit des Menschseins in der Anerkennung ihr Urbild in der Anerkennung, mit der Gott sich auf den Menschen - auf jeden Menschen - bezieht und ihn in die Gemeinschaft mit sich beruft. In der Schöpfungserzählung am Anfang der Bibel wird dies so zum Ausdruck gebracht, dass Gott den Menschen zu seinem Bilde schuf (Gen 1,27), d. h. als ein Wesen, das Gemeinschaft mit ihm haben kann. Dies bestimmt die christliche Perspektive auf den Menschen: Vor aller menschlichen Anerkennung und unabhängig von ihr sind das Menschsein und die Würde eines jeden Menschen in der Beziehung fundiert, mit der Gott sich auf ihn bezieht. So begriffen heißt die Würde eines Menschen achten: ihn als jemanden achten, den Gott ins Leben gerufen und zur Gemeinschaft mit sich bestimmt hat, und zwar unabhängig von spezifischen menschlichen Eigenschaften, in denen Menschen sich unterscheiden können. Diese Würde ist daher unverlierbar, und sie geht auch mit einer Demenzerkrankung nicht verloren.
5.2 Demenz und Individualität
Viele Menschen fragen, ob Menschen im Stadium fortgeschrittener Demenz noch Personen sind. Bis vor nicht allzu langer Zeit galt es als selbstverständlich, dass alle Menschen Personen sind, also auch Demente, Komatöse oder Säuglinge. Heute ist dies in der medizin- und bioethischen Diskussion strittig geworden. Auch hier liegt der Grund darin, dass das Personsein von Menschen, d. h. ihre Individualität, an Eigenschaften wie Bewusstsein, Rationalität, Erinnerungsvermögen usw. festgemacht wird, über die Menschen im Stadium fortgeschrittener Demenz nicht verfügen. Diese Auffassung bezieht ihre vordergründige Plausibilität aus der Frage, wie es über die Zeit hinweg so etwas wie eine Identität der Person geben kann. Die Antwort hierauf ist: dadurch, dass sie sich, als gegenwärtiges Bewusstsein, in der Erinnerung frühere Bewusstseinszustände als ihre eigenen zurechnet und im Vorblick künftige Bewusstseinszustände als die ihrigen antizipiert. Das heißt: Die Person existiert als Bewusstsein und erfasst sich als Bewusstsein. Ihre zeitliche Kontinuität reicht so weit, wie die ihr bewussten Zustände in Vergangenheit und Gegenwart reichen. Nach dieser Auffassung hört mit fortschreitender Demenz die personale Identität eines Menschen auf zu existieren. Also verdienen demente Menschen auch nicht dieselbe moralische Berücksichtigung, welche wir Personen schulden.
Demgegenüber ist daran zu erinnern, dass der Begriff der Person ursprünglich über die christliche Theologie in unser kulturelles Bewusstsein getreten ist, nämlich über die Auseinandersetzungen, die in der Alten Kirche um die Trinitätslehre geführt wurden. Dabei ging es darum, die Dreiheit von Vater, Sohn und Heiligem Geist so zu denken, dass dabei die Einheit und Einzigkeit Gottes gewahrt blieb. Die Formel, die hierfür gefunden wurde, lautete: Drei Personen in einer göttlichen Substanz. Der Personbegriff bezeichnete dabei die innere Selbstbeziehung Gottes im Sinne wechselseitiger Anerkennung - des Sohnes durch den Vater, des Vaters durch den Sohn usw. -, und das bedeutete, dass es Personsein nur in der Beziehung auf andere bzw. zu anderen Personen, d.h. innerhalb einer Gemeinschaft von Personen gibt. Dieses Verständnis der Person wurde dann auf den Menschen übertragen. Auch hier gilt dann, dass es Personsein nur innerhalb einer Gemeinschaft von Personen gibt, die sich wechselseitig in ihrer Individualität anerkennen. Nach christlichem Verständnis verdankt sich dabei das Personsein eines jeden Menschen in letzter Instanz nicht menschlicher Anerkennung, sondern der Anerkennung durch Gott, der den Menschen in die Gemeinschaft mit sich beruft. Legt man dieses Verständnis der Person zugrunde, dann gibt es keinen Grund dafür, warum die Achtung ihrer Individualität nicht auch Menschen geschuldet sein soll, die an Demenz leiden. Demenz kann zwar zu Veränderungen der Persönlichkeit führen, aber sie bedeutet nicht den Verlust des Personseins. Denn dieses hat ein Mensch nicht aus sich selbst, sondern als Mitglied der Persongemeinschaft, der er angehört und die sich auf ihn als diese Person in ihrer Individualität bezieht. Seine sich über die Zeit hinweg erhaltende Identität als Person wird nicht über seine eigenen Bewusstseinsakte gestiftet, so dass sie mit der Trübung oder dem Verlust des Bewusstseins verschwindet, sondern sie ist gewissermaßen in dem »Blick« verankert, mit dem andere sich auf ihn beziehen. So nehmen Angehörige den dementen eigenen Vater immer noch als dieselbe Person wahr, mit der sie ein Leben lang verbunden waren, auch wenn sich seine persönlichen Eigenschaften durch die Demenz verändern.
In christlicher Perspektive gilt für das Personsein dasselbe wie für das Menschsein: In letzter Instanz verdankt sich das Personsein eines jeden Menschen nicht menschlicher Anerkennung, sondern der Anerkennung durch Gott, der den Menschen in die Gemeinschaft mit sich beruft.
5.3. Die Selbstbestimmung von Menschen mit Demenz achten
In der neueren Medizinethik gilt die Achtung der Selbstbestimmung eines Patienten als eine der wichtigsten Normen. Selbstbestimmung meint dabei: nicht andere, und hier insbesondere der Arzt, sollen darüber bestimmen, welche medizinischen Behandlungen und Eingriffe an dem Patienten vorgenommen werden, sondern der Patient selbst soll das Bestimmungsrecht hierüber haben.
Der Patient kann dieses Bestimmungsrecht an den Arzt delegieren, z. B. wenn er sich mit einer Entscheidung überfordert fühlt. Aber außer in besonderen Situationen, wie sie z. B. in der Notfallmedizin gegeben sind, darf der Arzt eine medizinische Maßnahme nicht ohne Einwilligung des Patienten vornehmen.
Das Prinzip der Achtung der Selbstbestimmung des Patienten wurde im Gegenzug zu einer früher verbreiteten paternalistischen Haltung formuliert, bei der ein Arzt in durchaus fürsorgerischer Absicht ohne Einwilligung des Patienten Entscheidungen im Hinblick darauf trifft, was das Beste für den Patienten ist. Dieser historische Entstehungszusammenhang des Selbstbestimmungsprinzips hat teilweise zu der Meinung geführt, dass zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge ein Spannungsverhältnis, wenn nicht gar ein Gegensatz besteht. Doch ist leicht zu sehen, dass dies nicht zutrifft. Vielmehr ist Selbstbestimmung in vielen Fällen auf Fürsorge angewiesen. [53] So gehört zu den Fürsorgepflichten des Arztes die umfassende Aufklärung des Patienten darüber, was ein medizinischer Eingriff - und was umgekehrt dessen Unterlassung - für das Leben des Patienten bedeutet. Erst hierdurch wird der Patient befähigt, eine selbstbestimmte, in eigener Einsicht gründende Entscheidung zu fällen.
Aber auch über die Medizinethik hinaus gilt Selbstbestimmung in unserer Kultur als ein hoher Wert. Jeder Mensch soll selbst darüber bestimmen können, wie er sein Leben gestaltet, welchen Stellenwert er Dingen in seinem Leben zumisst und worin er Sinn und Erfüllung sucht. Von daher legt es sich nahe, dem Prinzip der Selbstbestimmung auch für den Umgang mit Menschen mit Demenz einen hohen Stellenwert zuzumessen.
Demenz ist eine progressiv verlaufende Krankheit. In einem frühen Stadium sind Menschen in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen, und hier ist ihre Selbstbestimmung in derselben Weise zu achten wie bei gesunden Menschen. In einem fortgeschritteneren Stadium aber sind Menschen mit Demenz vielfach überfordert, wenn sie eigene Entscheidungen treffen sollen. Schon die Auswahl einer Mahlzeit auf einer Speisekarte im Restaurant kann zu einer solchen Überforderung werden. Ähnliches gilt, wenn sie entscheiden sollen, ob ein geplanter Ausflug zum Ziel X oder zum Ziel Y gehen soll. Es fällt ihnen schwer zu antizipieren, was eine solche Alternative bedeutet. Trotzdem ist ein respektvoller Umgang mit den Meinungs- und Willensäußerungen demenzkranker Menschen unbedingt geboten.
Das Prinzip der Achtung der Selbstbestimmung eines Menschen steht in dem umfassenderen Zusammenhang der Achtung der Individualität eines Menschen. Letztere bezieht sich auf mehr als nur auf dessen Selbstbestimmung. Die Individualität eines Menschen achten heißt: achten, was er will, wie er fühlt, wie er denkt, was ihm Freude macht, was ihn beschäftigt, sorgt oder bedrückt usw.. Individualität in diesem weiten Sinne haben auch Menschen mit Demenz. Allerdings haben sie mit fortschreitender Krankheit zunehmend Schwierigkeiten, ihre Individualität zu artikulieren. Individualität erschließt sich im Modus der Frage: Was willst Du? Wie denkst Du darüber? Was beschäftigt Dich? Auch derartige Fragen können Menschen mit fortschreitender Demenz überfordern. Das verlangt für den Umgang mit ihnen ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen. Hilfreich kann es dabei sein, ihnen Brücken zu bauen hin zu ihren eigenen Wünschen, Bedürfnissen und Vorlieben, die ihnen im Augenblick nicht mehr gegenwärtig sind. Beim Beispiel der Speisekarte im Restaurant könnte dies etwa mit dem Satz geschehen: »Du hast doch um diese Zeit immer gerne Spargel gegessen. Wäre das nicht etwas für Dich?« Was gesunde Menschen zu Recht als übergriffig zurückweisen würden, das kann Menschen mit Demenz aus der Überforderung heraushelfen, die die Artikulation ihrer Wünsche und Bedürfnisse für sie bedeutet.
Normen, denen wir im Umgang mit gesunden Menschen einen hohen Stellenwert beimessen, wie das Prinzip der Achtung der Selbstbestimmung, können im Umgang mit Menschen mit fortschreitender Demenz an Bedeutung verlieren. Doch was bleibt, ist die Tatsache, dass auch diese Menschen Personen mit einer eigenen Individualität sind, die es zu achten gilt.
5.4 Die Fragmentarität des menschlichen Lebens
Ein wesentliches Kennzeichen der menschlichen Existenz ist die Bruchstückhaftigkeit des Lebens. Die Erfahrung des Zerfalls und des Stückwerkcharakters des Lebens reflektiert die Bibel in eindrücklichen Bildern, z.B. »Ich bin geworden wie ein zerbrochenes Gefäß« (Ps 31, 13) oder »Unser Wissen ist Stückwerk« [54] (1. Kor 13, 9). Tödliche Krankheiten, aber auch eine dementielle Erkrankung, machen den Wunsch, das eigene Leben abgerundet und in gewisser Weise vollendet beschließen zu können, auf schmerzliche Weise zunichte. Die Begegnung mit Demenz erinnert damit an die grundsätzliche Fragmentarität des Lebens; sie wird nach außen hin sichtbar und wirkt bedrohlich. Es wird spürbar: das Leben ist nichts, worüber Menschen letztendlich verfügen können. Durch die Begegnung mit Demenz wird an die christliche Einsicht erinnert, dass das Leben des Menschen Fragment bleibt: sein irdisches Leben ist kein geschlossenes Ganzes. [55] Dennoch hat dieses Leben ein Ziel, dieses liegt aber nicht in ihm selbst. In den Zeugnissen der Bibel wird die Klage über den Verfall der leiblichen Existenz des Menschen vielmehr immer wieder unterbrochen von Aussagen des Vertrauens in die Möglichkeiten Gottes, der vollenden wird, was er mit jedem Menschen auf einmalige Weise begonnen hat. Bei Paulus heißt es über unsere sterbliche leibliche Existenz: »Wenn unser irdisch Haus, diese Hütte, zerbrochen wird, so haben wir einen Bau, von Gott erbaut, ein Haus, nicht mit Händen gemacht, das ewig ist im Himmel.« (2. Kor 5, 1) Aus theologischer Perspektive macht diese Hoffnung deutlich, »dass die fragmentarische Existenz von Menschen mit Demenz keine letztgültige Relevanz hat, denn die christliche Anthropologie hält die Zuversicht und das Vertrauen auf Vollendung offen ,..« [56], darauf dass Krankheit und Tod nicht das letzte Wort haben. [57] Das Leben ist vielmehr Teil einer umfassenderen Geschichte Gottes mit den Menschen. [58] Die biblische Botschaft, dass gerade der Gefolterte, der am schändlichen Kreuz frühzeitig Gestorbene der Messias Gottes ist (1 Kor 1, 24), weist darauf hin, dass auch Verletzlichkeit und Schwäche zum Leben der Menschen vor Gott gehören und in Gottes Weisheit geborgen sind. Diese Einsicht kann dazu helfen, freier und offener zu werden in der Begegnung mit der Krankheit.
Da die Gottebenbildlichkeit nicht in bestimmten Fähigkeiten und Eigenschaften des Menschen begründet ist, sondern in der Beziehung Gottes zum Menschen, kommt sie Menschen mit und ohne Demenz gleichermaßen zu. Niemand ist vom Personsein und seiner Würde ausgeschlossen. Die Krankheit »Demenz« verliert mit dieser Sicht der Würde des Menschen gerade auch in seiner Bruchstückhaftigkeit den Stachel der Vernichtung des Selbstseins. Nach christlichem Verständnis ist die Bruchstückhaftigkeit des Lebens deshalb kein Mangel, auch wenn sie häufig als solcher erlebt werden mag. Demenzkranke Menschen sind »in ihrem gebrochenen Sein als vollwertige Individuen zu betrachten, ohne ihre Bruchstückhaftigkeit als zu behebende Mängel zu therapieren.« [59]
Gerade in der Verletzlichkeit, in der Angewiesenheit menschlichen Lebens, kann dessen Würde entdeckt werden. Das Festhalten an der Würde des Menschen, auch in seinem Ausgeliefertsein an seine Leiblichkeit, kann einen Weg zur Annahme des Lebens in seiner Bedürftigkeit und seiner Bruchstückhaftigkeit bahnen. Damit besteht die Chance, nicht mehr einem überfordernden Menschbild nachzujagen, das Leid und Schwäche verdrängt. Aus christlicher Sicht wird mit der Wertschätzung des endlichen, schwachen, verletzlichen Leibes erfahrbar, was Starke und Schwache, Helfende und Hilfe Benötigende vereint. Das Leben ist etwas anderes und mehr als ein Kreisen um die eigene Selbstbestimmung. Gerade in der Verletzlichkeit des Lebens und in der Fürsorge, die diese erfordert, entsteht etwas, das lebenswert ist: die liebende Hingabe an einen anderen Menschen und die Wahrnehmung seiner Würde.