Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft
Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, GT 22, hrsg. EKD und DBK, Februar 2014
Gemeinsame Verantwortung heißt, durch Bildung die persönliche Entwicklung und den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt zu fördern.
9. Förderung durch Bildung
Bildung und Qualifizierung sind wesentliche Voraussetzungen für Beschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt. Mangelnde oder unzureichende Bildung wirkt sich aber nicht nur in der Erwerbsbiographie des Einzelnen, sondern im gesamten Leben aus. Denn Bildung dient nicht nur der Vermittlung von Wissen und Fähigkeiten, sondern sie dient der Persönlichkeitsentfaltung und ist maßgeblich für gesellschaftliche Teilhabe. Sie ist entscheidend für die persönliche Entwicklung, eine dynamische und erfolgreiche Wirtschaft und die Zukunft der Gesellschaft. Deshalb ist die Realisierung einer Bildungsgesellschaft eine der zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Unser Verständnis von Bildung muss auf die gesellschaftlichen Veränderungen wie den demographischen Wandel, den weiter steigenden Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund und auf die im Zuge der Globalisierung und des technischen Fortschritts entstandene weltweite Informations- und Wissensgesellschaft reagieren. Diese Veränderungen stellen die Menschen vor die große Herausforderung, Wissen sowie die Fähigkeit, das erworbene Wissen anzuwenden, im Lebenslauf ständig anzupassen und durch Lernen zu erweitern. Die daraus abgeleitete Idee vom lebenslangen oder lebensbegleitenden Lernen unterstreicht, dass Bildung ein anhaltender, die gesamte Lebensspanne umfassender Prozess ist. Bildungspolitik ist so verstanden wichtiger Teil einer vorsorgenden Sozialpolitik.
Zur Realisierung einer Gesellschaft, die Bildung von Anfang an und für alle ermöglicht, muss einerseits mehr Geld für Investitionen in Bildung zur Verfügung gestellt, andererseits aber auch die bisherige Verwendung finanzieller Mittel im Bildungsbereich überdacht werden. Der Idee eines befähigenden und vorsorgenden Sozialstaates folgend, sollte dementsprechend vor allem am Anfang der Bildungsbiographie investiert werden.
In den ersten Lebensjahren ist zunächst die Familie der vorrangige Bildungsort. Diese Zeiten, die Familien mit ihren Kindern verbringen, werden zunehmend durch frühkindliche Bildungsangebote ergänzt. Doch vor allem im Bereich der frühkindlichen Bildung bestehen in Deutschland erhebliche Defizite. Kinder von Eltern, die bereits selbst keinen berufsqualifizierenden Abschluss erworben haben, stehen bei uns in großer Gefahr, ein Leben lang in der Bildungsarmut zu verbleiben. Die Statistiken zeigen, dass Bildungsarmut im Elternhaus die Zukunftsaussichten von Kindern stärker gefährdet als materielle Armut und meist beides miteinander einhergeht. Für die kindliche Entwicklung wirken sich darüber hinaus mangelnde Gesundheitsvorsorge und schwierige Familienbeziehungen nachteilig aus. Durch Formen aufsuchender Elternarbeit und Erziehungshilfe für sozial schwache Familien sowie einer intensiveren Verknüpfung zwischen Bildungseinrichtungen und Elternhaus könnten hier bessere Startchancen eröffnet werden.
Und auch hier ist das moralisch Richtige zugleich das volkswirtschaftlich Effiziente: Investitionen in frühkindliche Bildung verhindern, dass Kinder aus benachteiligten Familien bereits beim Eintritt in die Grundschule kaum noch aufzuholende Sprach- und Entwicklungsdefizite haben; sie eröffnen damit nachhaltig Selbstentfaltungsspielräume und ermöglichen soziale Teilhabe. Zugleich sparen sie Ausgaben für spätere nachsorgende sozialstaatliche Fürsorge, weil die bisherige Vererbungskette von Armut durchbrochen wird. Vergleichbares gilt für den Zusammenhang von Bildungsstand und individuellem Gesundheitszustand. Die Fähigkeit, sich gesundheitsrelevantes Wissen zu beschaffen, dieses zu bewerten und umzusetzen, fördert gesundheitsbewusstes Verhalten. Dies wirkt sich nicht nur positiv auf die individuelle Gesundheit aus, sondern entlastet die Gesellschaft und das Gesundheitssystem.
Wenn auch Bildung weit über die frühkindliche Bildung und Schul- und Berufsausbildung hinausreicht, so wird jedoch in dieser ersten Phase der Bildungsbiographie die Basis für selbstständiges Lernen und damit die wesentlichen Voraussetzungen für das Weiterlernen geschaffen. Auch deshalb darf ein Scheitern in der frühen Phase von Schule und Ausbildung nicht zur Sackgasse werden. Die sozialen Chancen des Einzelnen sind in unserer hochentwickelten Leistungs- und Wissensgesellschaft stark von seiner individuellen Bildung abhängig. Die Bildungspolitik darf sich deshalb nicht einseitig auf den Wissenschaftler, den Ingenieur und den hochqualifizierten Facharbeiter fokussieren. Es sind mehr Durchlässigkeit im gesamten Bildungssystem und stärkere Anstrengungen bei der Bildungsförderung auch in der Breite notwendig.
Auch die berufliche (Weiter-)Bildung gewinnt angesichts der rapiden Weiterentwicklung des Wissens immer mehr an Bedeutung. Deshalb müssen vor allem Ältere und Personen mit niedrigen Berufsabschlüssen durch zielgenaue Angebote zur beruflichen Weiterbildung ermutigt werden. Lernen muss auch für Menschen in der spät- und nachberuflichen Phase attraktiv bleiben, etwa zum Erhalt der Selbstständigkeit, zur persönlichen Entwicklung und Lebensbereicherung sowie zur Weitergabe von Wissen, Kompetenzen und Erfahrungen. Die Möglichkeiten für das Lernen im gesamten Lebenslauf müssen verbessert und attraktiver gestaltet werden, damit die Begabungen und Potentiale von Jung und Alt zur Geltung gebracht und entwickelt werden können. Auch hier ist der Blick vor allem auf Personen mit niedrigen Berufsabschlüssen zu richten. Sie müssen zur Weiterbildung ermutigt werden, um zu verhindern, dass ihre Potentiale ungenutzt bleiben. Bildung ist ein wichtiges Fundament für ein erfülltes Leben.