Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft
Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, GT 22, hrsg. EKD und DBK, Februar 2014
Gemeinsame Verantwortung heißt, die mit dem demographischen Wandel einhergehenden sozialen Belastungen gerecht zu verteilen.
6. Demographischer Wandel
Der demographische Wandel ermöglicht den Menschen nicht nur ein längeres Leben, er bringt vielmehr auch Chancen für die Gesellschaft mit sich. Allerdings werfen die Herausforderungen des demografischen Wandels Fragen der Gerechtigkeit auf. Die gegenwärtige Stabilisierung der Bevölkerungszahl darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Deutschland laut Statistischem Bundesamt weiterhin vor einem beträchtlichen Bevölkerungsrückgang steht. Gleichzeitig wird sich die Altersstruktur der Bevölkerung in den kommenden Jahrzehnten drastisch verändern; das gilt insbesondere für das Zahlenverhältnis der Personen im Rentenalter zu denen im Erwerbsalter. Die deutsche Bevölkerung schrumpft und altert zugleich.
Auch eine engagierte Familienpolitik wird die gegenwärtige demographische Entwicklung nicht kurzfristig umkehren können. Wenn es auch unbestritten ist, dass vor allem die umlagefinanzierten solidarischen Sicherungssysteme durch die demografische Entwicklung vor große finanzielle und personelle Herausforderungen gestellt sind, werden sie auch in Zukunft an Solidarität und Gerechtigkeit auszurichten sein. Hierzu bedarf es eines Miteinanders der Generationen und einer gerechten Verteilung der finanziellen Belastungen. Dazu gehört zum Beispiel eine deutlichere Berücksichtigung des Beitrags, den Familien mit Erziehungs- und Pflegeleistungen erbringen.
Die Finanzierung der gesetzlichen Rente wird vor allem angesichts des ungünstigen Verhältnisses zwischen der steigenden Zahl der Rentenempfänger und der geringer werdenden Zahl an Beitragszahlern zunehmend schwierig. Vor diesem Hintergrund erfolgten verschiedene Reformen, die die demografische Entwicklung stärker berücksichtigen und durch stabile Beitragssätze eine übermäßige Belastung der Erwerbstätigen verhindern. Damit verbunden ist zwangsläufig eine Absenkung des Nettorentenniveaus, weshalb neben die Gesetzliche Rentenversicherung eine zweite, kapitalgedeckte Säule tritt. Allerdings ist diese nicht obligatorisch und beispielsweise bei geringen Rentenanwartschaften wegen ihrer Anrechnung auf die Grundsicherung im Alter oft nicht attraktiv.
Um eine zu starke Absenkung des Rentenniveaus zu vermeiden, wurden außerdem die Verlängerung der Lebensarbeitszeit und die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre notwendig. Doch muss alles dafür unternommen werden, dass diese Altersgrenze prinzipiell von allen Berufstätigen auch erreicht werden kann. Sonst würde die Rentenreform für viele infolge individueller Abschläge nur eine Rentenkürzung bedeuten. Dies wiegt besonders schwer für die unteren Einkommensgruppen, weil sie eher selten über andere Rücklagen verfügen und häufig besonders gesundheitsbelastende Tätigkeiten ausüben.
Doch Anpassungsmaßnahmen werden im Rentensystem weiterhin unvermeidlich sein. Deshalb muss über mehr Flexibilität in Bezug auf das Renteneintrittsalter und neue Formen biografisch angepasster Gestaltung des Arbeitslebens und der Arbeitsbelastung sowie über altersgerechte berufliche Aktivität ohne starre Altersgrenzen intensiv nachgedacht werden.
Die weiterhin zunehmenden beruflichen Flexibilisierungsanforderungen (sowohl mental als auch örtlich) verlangen eine stärker am Lebensverlauf der Beschäftigten orientierte Gestaltung der Arbeit. Gefordert ist zum einen die Möglichkeit zu mehr individueller Flexibilität der Arbeitszeiten in bestimmten Lebensphasen, zum Beispiel mit Rücksicht auf die familiäre Situation beziehungsweise das Alter des Erwerbstätigen. Zum anderen muss der Notwendigkeit einer mehrfachen Weiterqualifizierung bzw. Umschulung im Laufe eines Berufslebens verstärkt Rechnung getragen werden. Lebensbegleitende Bildungsmaßnahmen müssen deshalb als sozialstaatliche Aufgabe begriffen und aktiv öffentlich gefördert werden. Zu verlangen ist dabei auch eine stärkere Einbeziehung von bislang gering Qualifizierten, denn der Kampf gegen die Bildungsarmut ist zugleich ein wesentliches Mittel zur Überwindung von Armut generell.
Die Rentenreform 1957 war ein großer Erfolg, wurde doch die Rentenhöhe spürbar angehoben und das drängende Problem der Altersarmut überwunden. Gleichzeitig gelang es durch die Einführung der dynamischen Anpassung der Rentenhöhe an die Bruttolohnentwicklung, die wachsende Diskrepanz zwischen den im wirtschaftlichen Aufschwung stark stei40 Gemeinsame Verantwortung heißt, Demographischer Wandel genden Löhnen und den dahinter zurückbleibenden Renten aufzuheben. Auch wenn die Altersarmut heute nur begrenzt ein Problem darstellt, so droht sie doch in den nächsten 10 bis 15 Jahren in unsere Gesellschaft zurückzukehren. Denn es ist ein Anstieg des Anteils der Versicherten mit geringen Rentenansprüchen zu erwarten. Ursachen für diese geringeren Rentenanwartschaften sind einerseits die Absenkung des Rentenniveaus, andererseits aber auch veränderte Erwerbsbiografien und Erwerbsformen. So kommt es zu Erwerbsunterbrechungen, etwa durch Arbeitslosigkeit, aber auch durch Pflege- und Erziehungszeiten. Gleichzeitig ist die Zahl der Geringverdiener zu berücksichtigen, deren Einkommen schon während der Erwerbstätigkeit in nicht wenigen Fällen unzureichend ist. Doch im Alter bedarf es einer Absicherung für diejenigen, die ihr Leben lang mit niedrigem Einkommen gearbeitet und vorgesorgt haben. Wenn sie im Alter nicht besser dastehen als jene, die sich wenig oder gar nicht um ihre Alterssicherung gekümmert haben, verliert das Rentensystem seine gesellschaftliche Akzeptanz und seine sozialethische Begründung.
Neben der Anerkennung der monetären Beitragsleistungen zur Rentenversicherung ist eine weitergehende Anerkennung des generativen Beitrags zur Rentenversicherung erforderlich. In der umlagefinanzierten Rente ist eine angemessene Berücksichtigung generativer Beiträge in Form der Anerkennung von Kindererziehungszeiten unabdingbar. Das würde der zugrunde liegenden Vorstellung eines Drei-Generationen-Vertrages systemgemäß entsprechen. Dennoch fand die Anerkennung von Kindererziehungszeiten zunächst keinen Eingang in die Gesetzliche Rentenversicherung und auch spätere Reformen berücksichtigen familiale Leistungen nur unzureichend. Es ist gut, wenn die bestehende Ungleichbehandlung von Erziehungszeiten vor und nach 1992 nun endlich korrigiert wird. Auch ist zu prüfen, inwiefern Versorgungslücken durch Pflegezeiten in der Rente Berücksichtigung finden können.