Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft
Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, GT 22, hrsg. EKD und DBK, Februar 2014
Gemeinsame Verantwortung heißt, an der Gestaltung einer europäischen Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft mitzuwirken.
10. Europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft
Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Integration Europas ist so weit fortgeschritten, dass bei allen Fragen stets die europäische Dimension mitbedacht werden muss. Wie sehr die Staaten Europas mittlerweile miteinander verwoben sind, zeigt sich derzeit in der sogenannten Eurokrise, deren Bewältigung die Mitgliedstaaten der Europäischen Union vor große Herausforderungen stellt. Trotz umfangreicher Rettungsmaßnahmen für zahlungsunfähig gewordene Staaten ist bisher keine grundlegende Besserung der Situation eingetreten; die wirtschaftliche und soziale Situation in einigen Ländern des Südens ist weiter angespannt. Dies stellt den Zusammenhalt innerhalb der Union auf eine harte Probe. Während in den Staaten, die mit ihren finanziellen Garantien Hilfe leisten, die Bereitschaft zur Unterstützung brüchig ist, wehren sich die Hilfeempfänger gegen die Sparauflagen mit dem Ziel der Verschuldungsbegrenzung und Haushaltskonsolidierung, da sie wirtschaftliche Einbrüche befürchten müssen. Das Europäische Gemeinschaftsgefühl bleibt auf der Strecke. Deshalb ist die Bewältigung der Eurokrise nicht nur eine wirtschaftliche und finanzielle Frage, sondern eine essentielle Frage nach dem Zusammenhalt Europas.
Bei der Lösung der wirtschaftlichen und finanziellen Probleme müssen daher vor allem die Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität zur Geltung und die verschiedenen Interessen miteinander in Einklang gebracht werden. Im Sinne der Solidarität dürfen die von der Krise betroffenen Länder nicht fallen gelassen werden. Echte Solidarität nimmt dabei in den Blick, dass die Unterstützung tatsächlich den Schwachen und nicht nur den in die Krise geratenen Banken in den Geberländern zugutekommt. Die Rettungsmaßnahmen verfolgen jedoch oftmals ein starkes Eigeninteresse der reicheren Länder.
Es ist richtig, dass Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen Stärke und der damit einhergehenden besonderen Verantwortung Haftungsrisiken im Rahmen der Maßnahmen zur Stabilisierung einzelner Krisenländer und der Währungsgemeinschaft insgesamt übernommen hat. Die Prinzipien von Solidarität und Subsidiarität beinhalten jedoch eine Gegenseitigkeit, die über die bloße Hilfe des Stärkeren für den Schwachen hinausgeht. Auch Hilfeempfänger müssen selbst Verantwortung übernehmen. Mittel- und langfristig führt kein Weg daran vorbei, die Staatshaushalte zu konsolidieren. Dabei muss jedoch auch beachtet werden, dass dieses Ziel durch radikale kurzfristige Kürzungen konterkariert werden kann. Zudem ist darauf zu achten, dass die Lasten dieser Konsolidierungspolitik gerecht verteilt werden. Im Sinne der Subsidiarität und der Eigenverantwortung müssen Bewältigungsstrategien entwickelt werden, die falsche Anreizwirkungen vermeiden und durch Reformen den gefährdeten Ländern eine langfristige Perspektive auf eine nachhaltige wirtschaftliche Konsolidierung eröffnen. Auch in der notwendigen Fortentwicklung der europäischen Integration müssen beide Aspekte, Solidarität und Verantwortung, gleichermaßen berücksichtigt werden. Deshalb ist es richtig, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) mit dem Fiskalpakt zu verbinden. Nur so wird Europa zu einer wirklichen Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft weiter zusammenwachsen.
Bei den schwierigen Verhandlungen über die Bewältigung der Eurokrise darf nicht vergessen werden: „Das historische Werk der europäischen Einigung darf keinesfalls auf den wirtschaftlichen Aspekt verkürzt werden.“[2] Die Geschichte hat uns gelehrt: Europa war und ist eine Gemeinschaft des Friedens und gemeinsamer Werte und Grundüberzeugungen, und die europäische Einigung ist von dem Willen getragen, das Schicksal auch gemeinsam in die Hand zu nehmen und zu gestalten. Dabei trägt Deutschland eine besondere Verantwortung, um die europäische Idee einer Friedensgemeinschaft weiterzuentwickeln.
Ein weiteres Element darf in der innereuropäischen Krise nicht in Vergessenheit geraten: Europa als der reichste Kontinent der Welt darf sich selbst nicht genug sein. Er trägt Verantwortung in und für die Welt. Das gilt nicht nur außen- und sicherheitspolitisch, sondern vor allem auch wirtschafts-, sozial- und entwicklungspolitisch. Deshalb sollte Europa in den weltweiten Veränderungsprozessen eine wichtige Funktion einnehmen. Die in Europa gewachsenen Traditionen einer Wirtschaft, die den sozialen Ausgleich nicht als Zusatzaufgabe sieht, sondern in den Wirtschaftsprozess einbaut, können helfen, eine globale Wirtschaft zu entwickeln, in der wirtschaftlicher Wohlstand, ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit gleichermaßen zentrale Säulen bilden. Deshalb kommt der Europäischen Union eine große Verantwortung zu, auch auf globaler Ebene eine Form des Wirtschaftens zu fördern, die jedem Menschen auf der Erde nützt.
Fußnote:
2 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover / Bonn 1997 (Gemeinsame Texte, 9), Nr. 82.