Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft
Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, GT 22, hrsg. EKD und DBK, Februar 2014
Warum wir uns gemeinsam zu Wort melden
Im Jahr 1997 haben der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz ihr gemeinsames Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit vorgelegt. Seitdem haben sich im Bereich der Wirtschaft und des Sozialen viele und tief greifende Veränderungen und neue Herausforderungen ergeben, vor deren Hintergrund wir uns erneut zu Wort melden.
Vor allem ist in diesen 17 Jahren immer stärker ins allgemeine Bewusstsein getreten, wie sehr unser wirtschaftliches Handeln und soziales Leben inzwischen von den Triebkräften der Globalisierung bestimmt werden. Das Kapital kann sich heute weitgehend schrankenlos in der Welt bewegen und die Realwirtschaften scheinen von den gewaltigen globalen Finanzströmen dominiert zu sein. Das führt dazu, dass sich mehr denn je nicht nur die Unternehmen, sondern auch die Nationalstaaten in einem internationalen Wettbewerb befinden. Bei aller positiven Bedeutung der Finanzmärkte, die die Entwicklung vieler Länder erst ermöglichen, ist aber durch ihre gegenwärtige Funktionsweise die Welt nicht nur nicht sicherer, sondern im Gegenteil fragiler geworden. Die gewaltigen Veränderungen bekommen auch die Arbeitnehmer zu spüren, denn im Kern gilt: Während das Kapital global agiert, bleibt der Faktor Arbeit an die Realwirtschaft gekoppelt; Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind nach wie vor in hohem Maße ortsgebunden.
All das hat uns die 2007/08 von den USA ausgehende internationale Finanzmarktkrise mit erschreckender Deutlichkeit vor Augen geführt. Die damals die öffentlichen Debatten beherrschenden ökonomischen Modelle suggerierten eine verantwortbare Beherrschbarkeit auch größter Risiken auf den Finanzmärkten. Als diese Illusion wie eine Seifenblase zerplatzte, waren die Staaten zu umfassenden Rettungsmaßnahmen gezwungen. Ohne das Geld der Steuerzahler zur Rettung privater Banken wären viele Staaten kollabiert. An den Folgen tragen viele Länder bis heute. Auch führt die europäische Staatsschulden-Krise immer noch zu wirtschaftlichen und sozialen Belastungen. Immer deutlicher stellt sich deshalb heute die Frage nach den noch vorhandenen Spielräumen politischen Handelns.
Aber die Schicksale der Völker sind heute nicht nur in ökonomischer Hinsicht miteinander verknüpft. Die wachsenden globalen Umweltprobleme, insbesondere der Klimawandel, vergrößern die bestehenden sozialen Ungleichgewichte und gefährden letztlich die Lebensgrundlagen der gesamten Menschheit. In ökologischer Hinsicht ist die Belastbarkeitsgrenze unseres Planeten erreicht. Diese Herausforderung ist nur zu bestehen, wenn die Staaten bereit sind, fair zusammenzuarbeiten. Das 21. Jahrhundert braucht ein weit stärkeres Maß an internationaler und weltgemeinschaftlicher Kooperation als vergangene Zeiten. Zu dem hierzu erforderlichen Dialog der Nationen und Kulturen möchten auch die Kirchen ihren Beitrag leisten.
Die globalisierte Welt bringt weitere neue Chancen, aber auch Gefahren mit sich. Einerseits eröffnen sich den armen Ländern neue Entwicklungschancen, andererseits zeigen sich aber auch neue Formen der Ausbeutung von Mensch und Natur. In Deutschland und den meisten anderen Ländern der OECD ist in den letzten Jahrzehnten die Volkswirtschaft gewachsen, aber auch die Ungleichheit in der Einkommens- und Vermögensverteilung hat zugenommen. Gleichzeitig haben diese Länder Zuwanderungen von Menschen aus anderen Kulturkreisen erlebt, was die gesellschaftliche Vielfalt erhöht, aber auch zu neuen sozialen Konflikten führt. Zudem steht Deutschland mehr noch als andere hoch entwickelte Länder vor der Herausforderung eines dramatischen demografischen Wandels, der die Sozialstruktur unserer Gesellschaft tief greifend verändern wird und unsere sozialen Sicherungssysteme auf eine große Belastungsprobe stellt.
Auf viele dieser Faktoren – die Globalisierung, die wirtschaftliche Krisenanfälligkeit, die Bedrohung durch den Klimawandel, Probleme der sozialen Inklusion und Integration, den demografischen Wandel und die wachsenden sozialen Ungleichgewichte – hat der deutsche Gesetzgeber in den letzten zehn Jahren mit weitreichenden Veränderungen des überkommenen Wirtschafts- und Sozialmodells reagiert. Diese Maßnahmen haben in Politik und Gesellschaft zum Teil sehr kontrovers geführte Diskussionen ausgelöst. Die einen sprachen von überfälligen, teilweise noch zu zögerlichen Anpassungsmaßnahmen an veränderte Realitäten, während die anderen kritisierten, die Politik folge einem verfehlten neoliberalen Paradigma. Diese Auseinandersetzungen haben durch die internationale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise der Jahre 2007–2009 und auch die Krise in Europa weiter an Dynamik gewonnen. Die positive Bedeutung sozialstaatlicher Instrumente zur Krisenbewältigung (z. B. des Kurzarbeitergeldes) ist wieder deutlicher ins Bewusstsein geraten.
So stellen sich heute dringliche Fragen nach dem sozialen Zusammenhalt, aber auch den gemeinsam geteilten Werten in unserer Gesellschaft wie Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit. An der in unserer Gesellschaft notwendigen Debatte über diese Fragen wollen wir uns als Kirchen mit diesem Papier beteiligen. Die folgenden Thesen sollen zur breiten gesellschaftlichen Diskussion anregen und damit Politik möglich machen.