Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft

Initiative des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung, GT 22, hrsg. EKD und DBK, Februar 2014

Orientierung aus christlicher Verantwortung

Für die Bewältigung der Herausforderungen, vor denen wir stehen, bedarf es eines möglichst hohen Maßes an Sachkompetenz. Im Diskurs um Sachfragen müssen die besten Lösungen gefunden werden. Hinter den Sachfragen stehen aber immer auch Orientierungsfragen, die ebenfalls zu reflektieren sind. Welchen Zielen soll wirtschaftliches Handeln dienen? Und welche Priorität kommt den jeweils unterschiedlichen Zielen zu? Um für diese Fragen eine Basis zu gewinnen, bedarf es ethischen Orientierungswissens. Eine Gesellschaft tut gut daran, solches Orientierungswissen zu pflegen und weiterzuentwickeln. Wir wollen im Folgenden einen Beitrag zu dieser gesamtgesellschaftlichen Aufgabe leisten, indem wir einige wesentliche Gesichtspunkte zum Ausdruck bringen, die für die auf der biblischen Überlieferung gründende christliche Tradition von besonderer Bedeutung sind. Ihre ethischen Konsequenzen sind auch jenseits religiöser Überzeugungen nachvollziehbar. Wir sind deswegen überzeugt davon, dass sie nicht nur für Christen, sondern für alle Menschen guten Willens von besonderer Relevanz sind.

„Wer ist denn mein Nächster?“ (Lk 10,29). So spitzt Lukas das von Jesus erzählte Gleichnis vom Barmherzigen Samariter zu, das für die christliche Ethik von zentraler Bedeutung ist. Die klare Antwort, die das Gleichnis gibt, hat auch für die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, eine hohe Relevanz: Wer mein Nächster ist, hängt nicht von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religion oder Kultur oder von der Herkunft aus einem bestimmten Kontinent ab. Das Gebot der Nächstenliebe gilt vielmehr universal. Wenn wir heute über Fragen der Wirtschaft nachdenken, dann bildet die gesamte Menschheitsfamilie unseren Verantwortungshorizont.

Als Christen sagen wir: Der Weg zu Gott führt zum Mitmenschen oder aber er führt ins Leere. Gott ist Mensch geworden und hat sein Ebenbild, den Menschen, jedem Menschen zur Sorge und Verantwortung anvertraut. Deswegen hat das Doppelgebot der Liebe für uns zentrale Bedeutung: Gott lieben ist unmöglich, ohne auch den Nächsten zu lieben. Das ist der tiefste Grund dafür, dass wir uns als Kirchen zu Wort melden, wenn Armut und Ungerechtigkeit verhindern, dass alle Menschen in Würde leben können.

Angesichts von Unrecht und Not kann es keine Haltung der Gleichgültigkeit geben. Eine solche Gleichgültigkeit wäre verantwortungslos. Sie wäre eine moderne Wiederholung der im Alten Testament berichteten Frage des Kain an den Herrn: „Bin ich der Hüter meines Bruders?“ (Gen 4,9). Es gehört zur ältesten Tradition der Menschheitsgeschichte wie auch zum jüdisch-christlichen Erbe, sich Rechenschaft zu geben in Form ethischer Reflexion: Rechenschaft über ein gutes und gerechtes Zusammenleben, Rechenschaft über Wege und Institutionen, die Solidarität und die Orientierung am Gemeinwohl fördern, Rechenschaft über ein gutes Wirtschaften und einen Staat, der seine Aufgaben nachhaltig zu erfüllen vermag.

Als Christen leben wir aus der festen Zuversicht, dass die Welt in Gottes guter Hand liegt. Aus solcher Gewissheit wächst der Mut zu entschiedenem Handeln, auch gegen Widerstände. Wir sind davon überzeugt, dass die Grundorientierungen des christlichen Glaubens einen festen und fruchtbaren Boden zur Bewältigung der Herausforderungen der Zukunft bieten.

Diese Gewissheit ist untrennbar verknüpft mit der Frage, wie auch unter sich verändernden sozialen Verhältnissen die Werte der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit im Blick behalten werden können. Diese Frage hat uns schon beim Gemeinsamen Wort 1997 beschäftigt; sie ist auch die Leitfrage dieser gemeinsamen Thesen, und genau hier sehen wir unseren besonderen gesellschaftlichen Auftrag als Kirchen. Wir beanspruchen keine herausgehobene Kompetenz in ökonomischen oder technischen Sachfragen, und wir verfolgen auch kein bestimmtes politisches Programm. Aber der biblische Schöpfungsauftrag, die Erde zu hüten und zu bebauen (Gen 2,15), die Frage Gottes an den Menschen „Wo ist dein Bruder Abel?“ (Gen 4,9) und das Gebot christlicher Nächstenliebe, das am Beginn der Gleichniserzählung vom Barmherzigen Samariter aus dem Neuen Testament ins Gedächtnis gerufen wird, haben stets auch eine soziale und politische Dimension. Auch strukturelle Ursachen menschlicher Not müssen wahrgenommen werden, wenn solche Not überwunden werden soll. „Die Christen können nicht das Brot am Tisch des Herrn teilen, ohne auch das tägliche Brot zu teilen“, heißt es in unserem Gemeinsamen Wort von 1997. Und weiter: „Ein weltloses Heil könnte nur eine heillose Welt zur Folge haben.“[1] Diesem Anspruch fühlen wir uns nach wie vor verpflichtet, denn als Christen stehen wir unter der Verheißung der Bergpredigt: „Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden“ (Mt 5,6). Diese Verheißung darf nicht einfach und folgenlos in die Ewigkeit abgeschoben werden; sie hat hier und jetzt Konsequenzen.

Unsere Thesen sind getragen von der Überzeugung, dass ein von Solidarität und Gerechtigkeit getragenes Gemeinwesen im Sinne aller Glieder der Gesellschaft ist, ob arm oder wohlhabend. Die von guten Vernunftgründen gestützte biblische Option für die Armen, die wir hier wie im Gemeinsamen Wort 1997 ausdrücklich unterstreichen, ist eine Option für die ganze Gesellschaft. In dieser Option liegt der Keim zur Heilung, wenn der Prophet Jesaja in der Sprache des Glaubens eindrucksvoll dazu auffordert, „an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn Du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte und Deine Wunden werden schnell vernarben. Deine Gerechtigkeit geht dir voran, die Herrlichkeit des Herrn folgt dir nach“ (Jes 58,7–8).

Wir halten daher an den grundlegenden ethischen Perspektiven fest, die wir 1997 formuliert haben. Angesichts der sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Veränderungen und Herausforderungen wollen wir ausgehend von dieser gemeinsamen Grundlage erneut die Frage erörtern, wie eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit für unsere sich wandelnde Gesellschaft gestaltet werden kann. Dazu haben wir gemeinsam zehn Thesen formuliert.

Fußnoten:

  1. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland / Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Hannover / Bonn 1997 (Gemeinsame Texte, 9), Nr. 101.
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