Für uns gestorben
Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015
»Für uns gestorben« – Fragen und Anstöße
Wenn man sich den Hintergrund einer langen Auslegungs- und Frömmigkeitsgeschichte der biblischen Texte vergegenwärtigt hat, lassen sich die wichtigsten gegenwärtigen Fragen an den Sinn von Jesu Leiden und Tod besser beantworten. Einige paradigmatische Fragen, die gegenwärtig in Gemeinden gestellt werden, sind im folgenden Kapitel aufgegriffen und werden ebenso paradigmatisch beantwortet. So entsteht im Gesamt der Antworten auf diese Fragen die eine Antwort auf die grundlegende Frage: "Für uns gestorben" - Was heißt das heute? Wie können wir mit neuen Worten, aber auch mit neu verstandenen alten Worten darüber reden?
Ist Jesus von Nazareth wirklich gekreuzigt worden?
Nichts ist so unstrittig wie die Antwort auf diese Frage. Sie lautet schlicht: "Ja!" Im Blick auf die rare Quellenlage ist die Kreuzigung das einzige auch durch außerbiblische Dokumente belegte Datum, das im Blick auf das Leben Jesu Christi sicher verbürgt ist.Wer ist für seinen Tod verantwortlich zu machen, die römischen oder die jüdischen Autoritäten?
Die Überlieferungen bieten ein vielschichtiges Bild und machen nicht eine Gruppe allein für den Tod verantwortlich. Das ist sehr genau zu beachten. Denn mit einer einseitigen Schuldzuweisung an die jüdischen Autoritäten ist in der Geschichte schrecklicher Missbrauch getrieben worden. Wer die Schuld einer bestimmten Gruppe zuweisen möchte, übersieht, dass es hier um das Versagen des Menschen überhaupt geht: Menschen haben Jesus angeprangert. Menschen haben ihn vor Gericht gestellt. Menschen haben ihn verurteilt. Menschen haben ihn ans Kreuz geschlagen. Menschen haben ihn im Stich gelassen und die Flucht ergriffen. Menschen haben ihn verleugnet. Menschen haben ihn verraten. Menschen haben als Mitläufer zugesehen und einfach dagestanden, als er starb. Das hätte ebenso ich, das hättest ebenso du sein können. Deshalb stellt sich jedem Menschen die Frage, inwiefern er mit seinem Tun und Lassen und mit seinen Einstellungen dazu beiträgt, durch Unrecht, durch Gewalt, durch Gedankenlosigkeit gegenüber anderen Menschen Jesus Christus gleichsam immer wieder ans Kreuz zu schlagen.
Warum musste Jesus überhaupt sterben?
Er wurde angeklagt, sich als Sohn Gottes und König der Juden zu begreifen. Das war für die einen Majestätsbeleidigung. Für die anderen war es Gotteslästerung. Und es barg die Gefahr des politischen Aufruhrs. So viel zum offiziell formulierten "rechtlichen" Anklagegrund.
Im Horizont der neutestamentlichen Texte musste er sterben, um den Menschen eine neue Lebensperspektive zu eröffnen. Mit seinem Leiden und Sterben, in dem Gott gegenwärtig war, sollte er die heillose Situation von Menschen überwinden. Deren heillose Situation besteht darin, dass ihre Beziehung zu Gott, zu anderen und zu sich selbst durch Sünde gestört ist oder zerstört wird. Sünde ist dabei viel mehr als ein moralisches Fehlverhalten. Sünde ist der Inbegriff aller nur denkbaren Formen absichtlicher oder auch unabsichtlicher Lieblosigkeit, die das Leben zersetzen: Lüge, Hass, Trägheit, falscher Stolz, Nachlässigkeit, Gewalttätigkeit, Ignoranz, Missgunst ... Diese Formen haben ihren tiefsten Grund darin, dass sich Menschen in übersteigerter Weise mit sich selbst beschäftigen und alles und jeden, auch Gott, instrumentalisierend auf sich selbst beziehen. Auf diese Weise plant ein Mensch nach eigenem Gutdünken andere Menschen und Gott ein oder aus - zugunsten eines ihm selbst möglichst immer noch mehr Leben ermöglichenden Masterplanes. Damit verstellt er sich den Ort, der ihm in der Welt zukommt und sein Dasein lebens- und liebenswürdig macht. Durch seine Lieblosigkeit beschädigt der Mensch auch sein eigenes Leben. Er schädigt die von Gott den Mitmenschen zugesprochenen Lebensperspektiven oder macht sie sogar zunichte. Es ist wichtig, die so entstehende tiefe Schuld, mit der Menschen Gott, ihren Mitmenschen und Mitgeschöpfen und sich selbst unendlich viel schuldig bleiben, immer wieder beim Namen zu nennen. Wird diese Schuld verleugnet oder relativiert, kann nicht mehr verständlich werden, weshalb Gott sich in entsprechende Schuldverstrickungen hineinbegeben hat und genötigt war, sie selbst aufzulösen.
War Jesus klar, dass er in Jerusalem sterben würde?
Jesus musste wegen seiner religionspolitisch brisanten Predigt ebenso wie wegen seines provokativen Verhaltens (Reinigung des Tempels; Bruch der Sabbatruhe; Praxis der Sündenvergebung) damit rechnen, eines unnatürlichen Todes zu sterben. Es wäre sehr merkwürdig gewesen, wenn ihm diese Konsequenz nicht vor Augen gestanden hätte.
Wird durch die Lehre vom Kreuz nicht ein allzu dunkles Menschenbild gezeichnet?
Die Tatsache der menschlichen Schuld lässt sich nicht durch den Aufweis von Beispielen der Mitmenschlichkeit relativieren. Wir alle leiden unter unbewältigter Schuld und ihren Folgen. Wie zerstörerisch das ist, wird gerade an der Beschäftigung mit dem Tod und der Auferstehung Jesu erkennbar. Nicht erst eine hohe Sensibilität für all das, was dringend an Schuld vergeben werden müsste, aber nicht vergeben werden kann, führt zum Kreuz. Es ist meist umgekehrt: Die Sensibilität für die Überwindung der Schuld wird durch das Kreuz überhaupt erst geweckt und verstärkt. Eine der entscheidenden Stärken des Wortes vom Kreuz besteht darin, die Tiefen des menschlichen Elends und seiner Abgründe offen beim Namen nennen zu können. Das Wort vom Kreuz ist nicht bloß eine Defizitanzeige, die vor Augen führt, wie elend es auf der Welt zugehen kann. Es ist mehr als ein Appell an die Bereitschaft zur Humanisierung und zur Ächtung solcher Grausamkeiten, wie sie durch die Hinrichtung am Kreuz offenbar werden. Gott wäre nicht verstanden, wenn man ihn auf die Rolle des kritischen Beobachters unmenschlicher Abgründe und Untaten, die Menschen an Menschen begehen, festlegen wollte. Vielmehr engagiert sich Gott selbst wirksam - unter ganzem Einsatz seiner selbst - gegen diese Abgründe und Untaten.
Wieso musste Jesus Christus deswegen sterben? Ging das nur so?
Was heißt: Nur so? Gott hat sich im Geschick Jesu Christi mit letzter Konsequenz an unser Geschick gebunden. Deshalb hat er sich in Christus kreuzigen lassen. Es ist für uns ein großer Trost, dass er gerade so den tödlichen Kreislauf der Schuld aufgebrochen und sich dorthin begeben hat, wo die menschliche Schuld buchstäblich in der Schande der Hinrichtung besiegelt wird. Gott will Menschen aus der Einsamkeit und den verhängnisvollen Irrwegen der Schuld und schließlich ihrem Todesgeschick herausholen. Deshalb kann er nicht als ein besorgter Zuschauer agieren.
Kann man nicht auch an den christlichen Gott glauben, ohne dem Tod Jesu eine so hohe Bedeutung beizumessen?
Die Bedeutung des Todes Jesu darauf zu reduzieren, dass er eben nur in der letzten Konsequenz seiner beeindruckenden Lebenshaltung sterben musste, macht aus seinem Tod einen Märtyrertod höherer Ordnung, nicht weniger, aber eben auch nicht mehr. Diese Auffassung ist zwar frei von der Herausforderung, Gott und Mensch in einer Person zusammenzudenken. Das mag in religiöser Hinsicht bequemer sein. Aber das religiös Bequemere ist oftmals nicht das, was auf Gott und die Welt zutrifft. Vor allem aber: Die Einschätzung des Todes Jesu als Tod eines bemerkenswerten Märtyrers kann sich selbst unter großen Interpretationsanstrengungen kaum auf biblische Texte berufen. Denn die Evangelien sind nach den Erkenntnissen der Forschung auf die Passionsgeschichten hin geschrieben worden. Es ist nun einmal so: Paulus interessiert an der "Biographie" Jesu vor allem dessen Tod und Auferstehung. Allerdings war auch für Paulus entscheidend, wer da starb. Genau das erzählen die Evangelienberichte, die der Passionsgeschichte vorausgehen.
Wollte Gott Blut sehen, um seinen Zorn zu besänftigen?
Blut ist Träger des Lebens. Und um das Leben ging es Gott. Diese Auffassung ist der Grund, weshalb in den biblischen Texten vom Blut die Rede ist. Und wenn in diesen Texten vom Zorn Gottes die Rede ist, dann ist damit kein mit Rachegefühlen verknüpfter Wutausbruch im Blick. Gottes Zorn richtet sich nämlich gezielt gegen alles, was dem Leben zusetzt und es entwürdigt. Er richtet sich gerade gegen jene, die Blut sehen wollen. Gott will Leben sehen und kein Blut - ein Leben, das seine Schöpfung achtet und würdigt! Zorn meint hier, dass Gott an dieser Stelle auf keinen Fall Kompromisse eingeht und mit sich reden lässt. Zorn ist die definitive und endgültige Absage an alles, was diese Schöpfungsperspektive Gottes durchkreuzen will. Es ist eine Absage an Menschen, die in allen psychischen und körperlich grausamen Formen - und mögen diese auch noch so subtil sein - ihre Mitmenschen bis aufs Blut bekämpfen.
Die feministische Theologie hat darauf aufmerksam gemacht, dass hinter der Vorstellung eines zornig aufbegehrenden Gottes ein Gottesbild steht, bei dem unterdrückerische und bisweilen sogar sadistisch anmutende Vaterbilder auf Gott projiziert wurden. Von einem solchen verzerrten Gottesbild her begründet sich die Annahme, dass Erlösung vom "Vater" nur gegen ein ihm dargebrachtes Opfer angeboten werde. Demgegenüber muss immer wieder daran erinnert werden, dass alles, was Gott tut, aus Liebe zum Menschen geschieht und dass Gott sich im Sohn selbst dem Leiden aussetzt.
Hat Gott ein Menschenopfer gefordert?
Schon weil Gott selbst im Tod Jesu zur Stelle ist, kann man so nicht fragen. Bereits das Alte Testament verbietet Menschenopfer, das Neue Testament erst recht. Wenn überhaupt, dann müsste die Frage lauten: Hat Gott sich selbst um der Menschen willen zum Opfer gemacht?
Wieso ist aber im Neuen Testament und auch danach in Liedtexten und sogar in Predigten vom Opfer die Rede?
Das Opfermotiv ist einer von mehreren Deutungsversuchen des Todes Jesu. Es dient wie alle Deutungsversuche dazu, sich dem Verständnis der Bedeutung dieses Todes anzunähern. Dabei führt das Opfermotiv besonders eindringlich die Bedingungslosigkeit der Hingabe vor Augen, in der Gott in Jesus Christus für die Menschen eintritt. Das Opfermotiv bietet freilich keine erschöpfende Deutung des Todes Jesu. Das biblische Repertoire an Deutungsmotiven bietet weitere wichtige Möglichkeiten der Erschließung, so die Motive vom Passalamm, vom Loskauf, von der Stellvertretung und von der Neuschöpfung. Jedes dieser Motive stellt auf seine Weise ein entscheidendes Moment des Todes Jesu in den Vordergrund.
Lässt sich nur mit biblischer Sprache ausdrücken, was es heißt, dass Jesus Christus für uns gestorben ist?
Nein, diese Motive bilden zwar das Grundrepertoire. Sie sind insofern leitende Kriterien, um zu verstehen, worum es im Tod Jesu Christi geht. Ihre Bedeutung erschließt sich jedoch oftmals erst durch längeres Nachdenken. Die Kontexte, in denen sie unmittelbar verständlich gewesen sind, sind den Menschen des 21. Jahrhunderts oft fremd geworden. Deshalb gilt es, Deutungsfiguren zu finden, die für die jeweilige Zeit erschließen können, was früher durch diese Motive unmittelbar deutlich wurde.
Dazu zwei Beispiele: In Basel gab es, wie in vielen anderen mittelalterlichen Städten, einen berühmten Totentanz, den "Tod von Basel". Das verlorene Fresko an einer Friedhofsmauer ist in Fragmenten und Zeichnungen überliefert. In einer zeitgenössischen Predigt wird dieses uralte Bild aufgegriffen nd das Kreuz Christi selbst als Totentanz gedeutet: Im Unterschied zu allen gemalten Totentänzen tanze im Kreuz Christi Gott, jedoch so, dass er nicht nach der "Pfeife des Todes", sondern "aus der Reihe" tanze, um den Todesreigen aufzubrechen und die Menschen ins Leben zu führen. Von Picasso gibt es ein Bild, auf dem Jesus wie ein Stierkämpfer eine Hand vom Kreuz reißt, seinen Lendenschurz wie eine rote Capa einem vorbeistampfenden Stier vor die Nüstern hält, um ihn von dem von ihm tödlich bedrohten Pferd abzulenken. Damit soll klar werden: Gott wirft sich im Lebenskampf für die Verlierer wie ein Stierkämpfer in die Bresche, um die Tötungslust der Aggressiven von den Schwachen weg auf sich selbst zu lenken. Im Gespräch mit der Bibel neue Bilder zu suchen, ist die Aufgabe, vor die jeder Christ und jede Christin gestellt ist.
Wenn uns die biblischen Motive so fremd sind, ist es dann nicht besser, auf sie zu verzichten?
Biblische Motive sollten unsere Aufmerksamkeit immer beanspruchen, und das umso mehr, wie wir sie als fremd empfinden. Über das Gewicht der Sühnopfervorstellung gehen die Auffassungen freilich auseinander. Einige behaupten, gerade das Sühnopfer sei von herausragender Bedeutung und dürfe nicht durch andere Deutungsmotive in seiner zentralen Stellung relativiert werden. Andere meinen, das Sühnopfer sei bedeutsam, aber neben anderen Deutungsfiguren von gleichem Gewicht. Wieder andere halten die Deutung des Kreuzes als Sühnopfer für nicht mehr nachvollziehbar. Zwar könne verstanden werden, welche Bedeutung dem historischen Vorgang der Hinrichtung am Kreuz und den damit verbundenen Praktiken beigemessen wurde. Aber wie dies angehen könne, dass das Leben Jesu Christi als Sühnopfer am Kreuz durch das Todesgeschick hindurch zur Versöhnung mit Gott und zum ewigen Leben aller Menschen führe, bleibe ganz unklar. Besonders kritische Stimmen bestreiten, dass die Figur des Sühnopfers jemals verstanden worden sei, und bezweifeln, dass sich mit dieser Deutung etwas ausrichten lasse.
Was klärt dann die Deutungsfigur des (Sühn-)Opfers überhaupt?
Sie verdeutlicht, wie sehr sich Gott in Jesus Christus den Menschen hingibt. Außerdem gehört sie zum jüdischen Erbe des Christentums, mit dem wir aus vielerlei Gründen besonders pfleglich umgehen sollten. Auch wenn die Opfer im Jerusalemer Tempel nach dessen Zerstörung eingestellt wurden, spielen sie bis auf den heutigen Tag in der Sprache und im Denken des rabbinischen Judentums eine zentrale Rolle - wie eben auch in einigen Texten des Neuen Testamentes, obwohl Jesus schon vor der Zerstörung als das Ende aller dieser Opfer bekannt wurde.
Was kann die Figur vom Passalamm erklären, als das Jesus bezeichnet wird?
Die Figur des Passalamms hat einen bestimmten Hintergrund in der Frühgeschichte Israels: seinen Auszug aus Ägypten. Angespielt wird an ein archaisches Ritual (vgl. Ex 12). Es soll deutlich werden: So wie das Blut eines Lammes, einst in Ägypten an die Türschwellen gestrichen, den Eintritt des Todesengels in das Haus verhinderte, so befreit der Tod Christi vom drohenden Tod.
Hat das traditionelle Motiv des Loskaufs heute noch einen nachvollziehbaren Sinn?
Das Loskaufmotiv birgt manches Missverständnis. Problematisch wird es vor allem dann, wenn man zu rechnen beginnt und gar einen Preis des Leidens Christi gegen die Summe menschlicher Schuld abzuwägen versucht. Die Passion Jesu Christi kann nicht nach den Maßstäben eines ökonomischen Handels zwischen Gott und Mensch verstanden werden. Das Kreuz ist kein Handelsplatz für Vergebungsprozesse. Hier werden keine Schuldmengen gegeneinander aufgewogen und miteinander abgeglichen. Recht verstanden, bietet das Loskaufmotiv ein entscheidendes Moment zum Verständnis des Kreuzes Jesu Christi. Es führt nämlich vor Augen: Der Mensch ist endgültig, definitiv, "gegen Quittung" frei. Gott gibt es ihm sozusagen "schriftlich". Darüber hinaus kann das Loskaufmotiv mit der Befreiung aus der Sklaverei assoziiert wurde. Das Kreuz als Loskauf zu deuten besagt dann: Das Kreuz befreit aus der Gefangenschaft in Sünde, Schuld und Tod.
Kann Gott die Menschen erst wieder lieben, nachdem Jesus Christus für ihre Sünden gestorben ist?
Es verhält sich umgekehrt. Weil Gott die Menschen liebt, ist Jesus Christus für ihre Sünden gestorben. Daran wird deutlich, wie sehr Gott die Welt liebt, und es wird zugleich deutlich, welchen Einsatz die Sünde des Menschen der Liebe Gottes abverlangt.
Musste Jesus Christus sterben, weil Gott als ein "gerechter" Gott dies so fordert?
Ja, so kann man es sehen. Aber es ist dabei äußerst wichtig, Gottes Gerechtigkeit von Gottes Liebe her zu verstehen. Dann wird deutlich: Es ist keine strafende Gerechtigkeit, in deren Namen Jesus Christus gestorben ist. Vielmehr ist es eine Gerechtigkeit, die in der Hingabe des Lebens Jesu Christi das feindlich Getrennte zusammenführt und versöhnt. So trägt Gottes Gerechtigkeit dafür Sorge, dass auch Menschen versuchen können, ihrem Leben gerecht zu werden. Jesus Christus ist mitten hinein gegangen in ungerechte Lebensverhältnisse, um sie von innen heraus zu verändern. Dafür hat er in ungerechten Verhältnissen aufgeräumt und sich für Regeln nur so lange eingesetzt, wie sie den Menschen lebensdienlich sind. Das wird in vielen seiner Gleichniserzählungen deutlich. Gerecht ist, was jeden Tagelöhner satt werden lässt, auch wenn die einen viel, die anderen wenig arbeiten (vgl. Mt 20,1-16). Gerechtigkeit nach biblischem Verständnis ist daran zu messen, ob man noch dem Schwächsten gerecht wird.
Musste Gott durch den Tod Jesu versöhnlich gestimmt werden?
Wer auf Gottes Liebe achtet und von ihr ausgeht, wird so nicht mehr fragen. Es ist bedauerlich, dass das in der christlichen Tradition immer wieder übersehen worden ist. Wenn überhaupt, dann ist die versöhnte Haltung Gottes der Grund dafür, dass er in Jesus Christus in den Tod geht. Trotz des Schmerzes über unser selbstverschuldetes Elend und unsere Schuld ergreift Gott die Initiative zur Versöhnung.
Und was ist mit der menschlichen Freiheit?
Gottes Versöhnung in Jesus Christus zum Heil der Welt gilt schon, bevor sie Menschen überhaupt zur Kenntnis nehmen. Sie gilt auch jenen, die sie abschlagen. Gott ist von Anfang bis Ende der Autor der Versöhnung. Wo sein Versöhnungsangebot bejaht wird, folgt die Zustimmung zur eigenen Versöhnung mit großer Selbstverständlichkeit. Wer glaubt, fängt nicht erst an, sich mit sich selbst, anderen und Gott zu versöhnen. Vielmehr fällt es ihm in hellen Augenblicken wie Schuppen von den Augen, dass er schon mit Gott versöhnt ist. Dafür muss er sich nicht mehr entscheiden, wie in den großen und kleinen Entscheidungen seines alltäglichen Lebens. Ich kann einfach anerkennen, dass ich schon längst versöhnt bin. Das macht mich frei, mein Leben entsprechend zu gestalten. - Zu wissen, dass im Entscheidenden schon für mein Leben gesorgt ist: Welche Nachricht könnte einem Menschen größere Gestaltungsfreiheit eröffnen?
Erkenne ich im Kreuz nur, dass ich versöhnt bin, oder bewirkt das Kreuz das auch?
Es gibt theologische Auffassungen, die davon ausgehen, das Kreuz sei nicht der Ort, wo Versöhnung bewirkt werde. Vielmehr werde von dorther nur erkannt, was Versöhnung Gottes sei. Eine Deutung, die behaupte, das Kreuz bewirke Versöhnung in Form eines stellvertretenden wirksamen Eintretens Gottes, suggeriere faktisch religiöse Magie. Es könne nicht einleuchten, dass der Tod einer Person vor 2000 Jahren jetzt noch als Lebensdatum real wirke. Er sei auch damals nicht in dieser Weise wirksam gewesen. Er wirke allein dadurch, dass an diesem Vorgang für den Menschen deutlich wird, dass Gott die Sünde vergeben will.
Man muss sagen, dass diese Alternative sehr unglücklich ist. Sie übersieht den unlöslichen Zusammenhang zwischen Bewirken und Erkennen. Weil das Kreuz Versöhnung bewirkt, gibt es Versöhnung auch zu erkennen. Und weil das Kreuz Versöhnung zu erkennen gibt, bewirkt es sie auch.
Biblische Texte betrachten immer wieder den Glauben als Voraussetzung dafür, dass Menschen an dem, was Christus für sie getan hat, teilhaben. Was wird dann aus denen, die nicht an Gott, geschweige denn an Jesus Christus glauben?
Christus ist ganz gewiss für alle Menschen gestorben, nicht nur für die Christen. Sein Eintreten will allen Menschen zugutekommen. Diese grenzüberschreitende Kraft kann sein Tod gerade deshalb entwickeln, weil Gott selbst höchstpersönlich im Tod Jesu von Nazareth zur Stelle war und so den Tod überwunden hat.
Es ist nicht die Aufgabe christlicher Verkündigung, mit dem Ausschluss von dem ewigen Leben zu drohen. Der christliche Glaube freut sich nicht an Ausschlüssen, sondern möchte andere für die Freude am ewigen Leben und damit am Leben gewinnen. Deshalb wirbt er bei jenen, die nicht glauben, für die Auferstehung von den Toten, die schon jetzt zu einer Auferstehung in das Leben führen kann. Er wirbt dafür, sich bereits als Versöhnte anzuerkennen und entsprechend zu leben. Und er gibt niemanden, der nicht an Jesus Christus glauben kann, der endgültigen Gottesferne preis. In der klassischen Theologie hat sich diese Hoffnung in dem Gedanken ausgesprochen, noch nach seinem Tod könne ein Mensch Vertrauen zu Christus fassen.
Was ist aber mit den Menschen, die vor Jesu Geburt gelebt haben?
Für ihr gelebtes Leben gilt: Sie haben ihr Leben im Bewusstsein mit Gott oder aber jenseits dieses Bewusstseins gelebt, mit all ihren Hoffnungen, Sorgen, Enttäuschungen, dem Elend und der Heiterkeit. Im Hinblick auf das ewige Leben kann gesagt werden: Sie haben an der mit dem Kreuz verknüpften Hoffnung auf Auferstehung teil. Sie gilt für sie nicht weniger als für die Menschen, die nach Jesu Geburt lebten, leben und leben werden.
Wieso verknüpft sich mit dem Tod Jesu von Nazareth ausgerechnet der Gedanke der Neuschöpfung? Tod und Schöpfung scheinen doch das genaue Gegenteil zu sein.
Isoliert als Akt der Tötung betrachtet, ist die Kreuzigung sicher kein Schöpfungsakt. Aber durch Gott ist dieser Tod ein wirksamer Tod für alle Menschen, und zwar in dem Sinne, dass der endgültige Tod selbst zu Tode kommt und so seine definitive Macht über die Menschen verliert. Diese Überwindung des Todes hat mit Gottes Schöpferkraft zu tun. Den Tod dieser einen gerechten Person sich so ereignen lassen, dass er den Tod aller anderen Menschen in sich zusammenfasst, die ihrem Leben nicht gerecht werden, das kann nur Gott, der aus nichts etwas machen kann. Gott stellt zwischen Christus und allen anderen Menschen einen in höchstem Maße kreativen Zusammenhang her. Seine Gerechtigkeit, seine Lebenskraft springt auf sie über.
Was ist gemeint, wenn gesagt wird, am Kreuz ereigne sich "ein fröhlicher Wechsel und Streit"?
Diese schon früh in der christlichen Tradition verwendete Redeweise hat vor allem Martin Luther geschätzt und immer wieder bekräftigt. Er beschreibt mit dem Motiv des fröhlichen Wechsels einen doppelten Tausch der Positionen. Christus tauscht am Kreuz seine Position des Gerechten, Freien usw. mit unserer Position der Ungerechten und Unfreien ein. Und wir tauschen dabei unsere Position gegen seine ein und werden vor Gott als Gerechte und Freie betrachtet. Von diesem Positionswechsel her lässt sich die Rede von der "Stellvertretung Jesu Christi" gut erschließen.
Stellvertretung - was soll das im Blick auf den Tod Jesu Christi heißen? Muss nicht jeder seinen eigenen Tod sterben?
Ja und nein. Die Stellvertretung Jesu entbindet Menschen nicht vom Sterben. Aber sie können durch sie anders sterben. Anders gesagt: Jeder muss seinen eigenen Tod sterben. Aber der Tod verliert den Fluch, das endgültige Aus der Lebensperspektive eines Menschen zu sein. Diesen Fluchtod als Quittung menschlicher Schuld ist Jesus Christus stellvertretend gestorben. Durch diese Stellvertretung Jesu Christi stirbt ein Mensch nun in bester Gesellschaft mit Gott, der im Tod mit zur Stelle ist.
Nochmals anders gesagt: Der Tod hat nicht mehr das letzte Wort über einen Menschen. Sondern Gott hat das letzte Wort über den Tod. Es bleibt für den Menschen, der stirbt, ein nur vorläufiger Tod.
Ist damit die Stellvertretung nicht schon als Deutungsfigur erledigt?
Nein, der Sprachgebrauch der Bibel macht keine Vorschriften, mit welchen Deutungsfiguren ihre Aussagen sachgerecht interpretiert werden können. Es gibt in den biblischen Texten Wendungen, in denen das Stellvertretungsmotiv prägnant erkennbar ist. So ist - vor allem bei Paulus - häufig davon die Rede, dass Christus für uns gestorben und auferstanden sei bzw. statt unser dahingegeben worden sei. Dieses Motiv kann dann in verschiedene Richtungen entfaltet werden. Die mehrdimensionale Eigenart des Ausdrucks Stellvertretung muss dabei vor Augen stehen. Sie ist nicht so leicht zu begreifen: Es schwingen Repräsentanz, Vertretung in Abwesenheit, Ersatz, Einsatz, Fürsorge und Platzhalterschaft mit.
Warum ist es dennoch wichtig, von Stellvertretung zu reden?
Der Ausdruck Stellvertretung erklärt nicht alles. Er ist aber eine Art Merkposten. Dieser Merkposten macht darauf aufmerksam, den Tod Jesu Christi nicht in einem äußerlichen Sinne misszuverstehen. Es ist nicht so, dass Jesus Christus lediglich etwas extrem Lästiges für alle anderen Menschen erledigt und insofern an deren Stelle tritt. Es geht um mehr. Man hat deshalb gerne von einer Existenzstellvertretung oder einer Stellvertretung im Blick auf die Situation des Menschen gesprochen.
So hat Stellvertretung ein exklusives Moment. Den das menschliche Leben endgültig vernichtenden Tod ohne jede Hoffnung müssen Menschen nicht sterben. Und sie müssen auch nicht höchstpersönlich als schuldig gewordene Menschen für sich selbst vor Gott dastehen. Hier tritt Christus fürbittend exklusiv für sie ein.
Darin hat Stellvertretung aber auch ein inklusives Moment. Christus bezieht Menschen als ihr Stellvertreter in seine Lebens- und Leidenszusammenhänge mit ein und ist deshalb, gleichgültig, ob sie heiter und in vollen Zügen ihr Leben genießen oder aber leiden, deren Verbündeter und ganz für sie da. Er teilt mit ihnen seine Lebensleidenschaft, all das, womit er elende und unwürdige Lebensverhältnisse zurechtbringt. Beide Momente müssen stets aufeinander bezogen werden, sonst kommt es zu Missverständnissen.
Zu welchem Missverständnis kommt es, wenn die Exklusivität der Stellvertretung zu stark betont wird?
Dann wäre es keine Stellvertretung mehr, sondern ein Ersatz. Christus ersetzte mich dann in allem, im Leben und im Sterben. Wenn Christus an unserer Stelle sterben würde, dann würde er auch an unserer Stelle auferstehen. Aber davon hätten wir nichts. Dann wäre Jesus mit einem Arzt zu vergleichen, der die Medikamente vor den Augen des Patienten gleich selbst verzehrt, um ihm dann lächelnd mitzuteilen, schon das würde ihm helfen.
Zu welchem Missverständnis kommt es, wenn die Inklusivität der Stellvertretung zu stark betont wird?
Dann wäre es keine Stellvertretung mehr, sondern Solidarität. Aber eine bloße Solidarität kann uns nicht aus Schuld und Tod retten.
Was bedeutet eine Stellvertretung, die exklusiv und inklusiv sein soll?
Es geht darum, dass das, was Jesus Christus ist, tut und lässt, auf mich in dem, was ich bin, tue und lasse, bezogen wird. Dabei werde ich im Tod Jesu Christi heilsam von dem, was er erleidet, ausgeschlossen. Ich muss da nicht selbst zur Stelle sein, weil er schon da ist. Insofern ist die Stellvertretung exklusiv. Er statt meiner! Zugleich bin ich mit einbezogen in die neuen Lebenszusammenhänge, die Jesus eröffnet. Insofern ist seine Stellvertretung inklusiv. Er für mich mir zugute! Das meint Paulus, wenn er sagt, dass nun nicht mehr ich lebe, sondern Christus in mir lebt: "Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben." (Gal 2,20). Schlicht gesprochen: Christus ist statt meiner für mich gestorben, und ist für mich so auferstanden, dass er lebt und eben deshalb auch ich mit ihm leben kann.
Mit welchem Recht kann Jesus überhaupt für alle Menschen stellvertretend eintreten?
Die klassische Theologie hat sich redlich Mühe gegeben, das durch eine Art Verwandtschaftsbeziehung darzustellen. Er teilt mit uns sein Menschsein. Er ist über Adam und Eva mit uns allen verschwistert und kann in eine Art kollektiver Sippenhaft genommen werden. Es besteht eine von Gott ins Leben gerufene Rechtsbeziehung zwischen ihm und uns. Hier hilft - in Grenzen - die Figur der Identifikation. Gott identifiziert ihn mit uns Sündern. Eine solche Identifikation ist möglich, weil Jesus Mensch ist. Diese Figur vermeidet die Vorstellung, dass hier einer ein bestimmtes Schuldquantum für uns übernehmen müsste. Sie vermeidet die Vorstellung, dass der Tod Christi materiell begangene Schuld ausgleichen müsste. Es geht um die Folgen unserer Schuld, die er auf sich nimmt.
Jesu Tod gibt uns neues Leben, heißt es. Neues Leben, Neuschöpfung, was bedeutet das für uns?
Entscheidend ist: Die Person, die neu geschaffen wird, bin ich selbst. Neuschöpfung ist ein Akt der Versöhnung. Sie ist also keine Schöpfung aus dem Nichts in dem Sinne, dass jemand ganz anderes an meine Stelle tritt. Wenn ein Mensch glaubt, dann wird für ihn unter den Bedingungen des sterblichen endlichen Daseins realisiert, dass er schon versöhnt ist. Das Leben wird dadurch nicht unbedingt einfacher. Aber dieser Mensch wird alles anders wahrnehmen und deuten. Jeden, dem er begegnet, nimmt er dann als jemanden wahr, für den Christus einen wirksamen Tod gestorben ist. Gott hat für dessen womöglich tötende Distanz zu Gott bereits im Tod Christi ein Grab geschaufelt. So orientiert sich sein Leben neu. Es erweitert sich. Es wird anspruchsvoller. Auch wenn es nicht einfacher wird, wird es auf jeden Fall intensiver und reicher.
In welchem Verhältnis steht der Tod von Menschen, die ihr Leben für andere riskieren, zum Tod Jesu Christi?
Man kann den Tod Jesu nicht auf eine Ebene mit dem Lebensopfer von Menschen stellen. Wer andere durch den Einsatz und Verlust seines eigenen Lebens rettet, stellt damit eine beeindruckende Selbstlosigkeit unter Beweis. Aber sein Tod bildet nur in einem sehr äußerlichen Sinne eine Analogie zum Tod Jesu Christi. Denn diejenigen, für die ein Mitmensch stirbt, müssen früher oder später dennoch sterben.
Wie ist dann der biblische Satz zu verstehen, dass der, der Jesus nachfolgen wolle, sein Kreuz auf sich nehmen solle (vgl. Mk 8,34)?
Diese Aufforderung bedeutet: Es gibt in der Nachfolge Jesu keine Situation, in der sich ein Mensch von Jesus distanzieren kann, um sein Leben zu retten. Jedenfalls ist das keine heilsame Weise, sein Leben retten zu wollen. Wer es so retten will, der verliert es, behauptet das Neue Testament (vgl. Mk 9,35). Er verliert es, weil er jene Identität verliert, die sein Leben frei und zu einem menschlichen Leben macht. Es gibt also tragische, aber auf keinen Fall methodisch anzusteuernde Situationen, in denen ein Mensch sein Leben verliert. Versucht ein Mensch in solchen Situationen, dem Leiden auszuweichen und Haut und Haare zu retten, wird er daran höchstwahrscheinlich zerbrechen. Darauf wird angespielt.
Zu welchen Missverständnissen kommt es, wenn Jesu Hingabe und sein Weg ans Kreuz zum ethischen Vorbild erklärt werden?
Mit der Hingabe seines eigenen Lebens für andere ist Jesus Christus immer wieder als Vorbild für die unterschiedlichsten Formen menschlicher Selbstaufopferung in Anspruch genommen worden. Menschen haben sich in ihrer Selbstverleugnung in der Nachfolge seines Leidens gesehen. Nicht selten sind dabei Situationen entstanden, in denen das Leiden verklärt und zum Merkmal der Selbstverleugnung gemacht worden ist. Dann konnte es geschehen, dass Menschen unter Berufung auf den Weg Jesu regelrecht zur Selbstverleugnung genötigt wurden. Die feministische Theologie hat herausgestellt, wie vor allem Frauen in eine solche Opferrolle gedrängt wurden. Wo der Verweis auf Jesu Hingabe und Opfer auf diese Weise benutzt wird, entwickelt er sich zum lebensweltlichen Druckmittel. Dieser Funktionalisierung des Todes Jesu Christi widerspricht die evangelische Theologie heute entschieden. Die Mechanismen eines unterdrückenden Opferverständnisses sind durch Christi Leiden und Sterben gerade überwunden worden.
Wenn von Christus gesagt wird, er sterbe und sei von den Toten auferstanden, und Menschen dasselbe hoffen dürfen, ist dann nicht auch möglich, Jesus Christus als Exempel zu verstehen?
Es gibt Deutungen, die den Tod Jesu als Prototyp von Tod und Auferstehung verstehen möchten. Der Tod Jesu ist dann exemplarisch auf alle weiteren Sterbefälle zu beziehen. Diese Deutung entfernt sich von den biblischen Texten. Die Vertreterinnen und Vertreter dieser Konzeption sagen das auch und erklären, diese Deutung sei eine konsequente Fortentwicklung der Pointe, dass Gott Heil zusagt - in einen veränderten Lebenskontext hinein. Darüber ist zu streiten!
War und ist das Grab Jesu Christi leer?
Drei Dinge sind hier wichtig: Ein leeres Grab als solches kann niemals ein historischer Beweis dafür sein, dass Jesus Christus auch wirklich auferstanden ist. Denn der Leib Jesu Christi könnte immer auch auf andere Weise "abhanden" gekommen sein.
Zweitens ist wichtig: Der Vorgang der Auferstehung Jesu Christi lässt sich historisch als solcher nicht begreifen. Die Auferstehung ist nämlich etwas anderes als die Wiederbelebung eines Leichnams. Die Wiederbelebung eines Leichnams würde den Tod lediglich rückgängig machen und einen Zustand wiederherstellen, der vor dem Tod bestanden hatte. Ein wiederbelebter Leichnam muss und wird jedoch wieder sterben. Damit wäre zu wenig gewonnen.
Drittens: Es ist für die Auferstehungshoffnung nicht konstitutiv zu wissen, ob das Grab voll oder leer war. Entscheidend ist die erkennbare Identität des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Das Neue Testament berichtet, wie der Auferstandene unter die Jünger tritt und sie ihn wiedererkennen.
Was stiftet denn die Identität zwischen dem gestorbenen Jesus und dem auferstandenen Christus?
Gottes Handeln allein stiftet diese Identität.
Hat die Überwindung des Todes Gott verändert?
Ja und nein! Mit der Überwindung des Todes ist etwas sehr Neues in Gott. Im Leben und Sterben Jesu Christi lässt sich Gott selbst in einzigartiger Weise auf die Welt ein und lässt sein eigenes Wesen dadurch unverbrüchlich bestimmt sein. Insofern "ja". Zugleich ist es aber nichts vollständiges Neues in dem Sinne, dass Gott sich danach nicht wieder erkennen könnte. Insofern: "Nein". Aus geschichtlicher Perspektive kennt Gott seit dem ersten Karfreitag der Weltgeschichte nun den Tod eines Menschen von seiner Innenseite her. Aus der Perspektive der Ewigkeit Gottes muss mit Mut zur Spekulation gesagt werden: Gott lebt selbst immer schon in lebendiger Dynamik, entfaltet in sich selbst in seinem Leben in ewiger Veränderung neue Lebensperspektiven. Es bleibt nicht monoton alles gleich in Gott. Indem er die Welt geschaffen hat, sich für diese Welt interessiert, mit Menschen Geschichte macht, Bünde schließt, Positives wie Vernichtendes erlebt, verändert sich das Leben Gottes immer schon sozusagen tagtäglich, und zwar so, dass ihm die Dynamik von Leben und Tod nicht gänzlich unbekannt ist.
"Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber" (2Kor 5,19), sagt Paulus. Aber wie können Gott und Mensch wirklich zusammenkommen, ohne dass Gott als Person in sich gespalten ist?
Es gab und gibt unterschiedliche Vorschläge, mit dieser Herausforderung umzugehen. Es reicht, nur einige vor Augen zu führen.
Die klassische Theologie hat vor allem das Gottsein Jesu Christi betont. Dann wurde der ewige Sohn Gottes in der göttlichen Dreieinigkeit Mensch, und zwar so, dass er alle Wesenszüge eines Menschen angenommen hat: Sehen, Riechen, Schmecken, Atmen, Herzklopfen, also vollkommene menschliche Leiblichkeit. Er hat das allerdings so getan, dass er prinzipiell über seine göttlichen Eigenschaften wie Allwissenheit, Allmacht, unendliche Gerechtigkeit weiter verfügte.
Heute wird eher von der menschlichen Person Jesu Christi her gedacht. Favorisiert wird oftmals die Auffassung, Jesus werde von Gott als Sohn Gottes angenommen, gleichsam adoptiert. Diese Position war allerdings in der christlichen Antike mit guten Gründen kritisiert und ausgeschlossen worden (vgl. oben die Ausführungen zum Neuen Testament, S. 35f.). Attraktiv, aber auch umstritten, war es seit der frühen Neuzeit, die herausragende Stellung Jesu Christi durch ein einzigartig ausgeprägtes menschliches Bewusstsein von Gott zu erklären. Jesus war im besten Sinne des Wortes frommer als alle anderen. Seine intensive Frömmigkeit wurde dann als ein Sein Gottes in ihm interpretiert.
Einige Popularität hat schließlich mit Aufkommen der 1970er Jahre die Behauptung gewonnen, Gott habe sich mit Jesus Christus identifiziert: dadurch bestätige Gott Jesus von Nazareth als seinen Sohn.
Geht das nicht auch einfacher? Wieso muss Jesus Christus überhaupt wahrer Gott und zugleich wahrer Mensch sein?
Nein, Jesus Christus ist nicht einfach zu haben. Denn ein den Tod überwindendes Leben ist nicht einfach zu haben. Nur Gott kann dem Tod seine Macht nehmen, das Leben früher oder später zu schädigen und dem Leben der Menschen früher oder später ein Ende zu setzen.
Das Persongeheimnis Jesu Christi lässt sich am besten erhellen, wenn wir in ihm zwei sich in seinem Dasein verbindende und kreuzende Bewegungen erkennen: die Bewegung Gottes zum Menschen und zugleich die Bewegung des Menschen zu Gott.
In ihm kommt Gott zu den Menschen, aber in ihm findet auch der Mensch zu Gott. Jesus Christus repräsentiert in seiner Person den uns suchenden und liebenden Gott. Und zugleich repräsentiert er den Menschen vor Gott - den Menschen in seiner ursprünglichen geschöpflichen Bestimmung. So ist er in einer Person Anwalt Gottes vor den Menschen und Anwalt der Menschen vor Gott: wahrer Gott des Menschen und wahrer Mensch Gottes. In seinem Tod und in seiner Auferstehung treffen diese beiden Bewegungen am innigsten zusammen.