Für uns gestorben
Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015
II.1. Voraussetzungen
1. »Für uns gestorben« – Voraussetzungen
Man versteht die klassischen Antworten auf die Frage nach dem Sinn von Leiden und Sterben Jesu Christi, wie sie bis auf den heutigen Tag biblische Texte, theologische Tradition, kirchliche Verkündigung und evangelische Frömmigkeit prägen, nicht ohne einen sehr gründlichen Blick in die biblischen Texte, insbesondere in die Voraussetzungen neutestamentlicher Reflexion über das Geschehen, wie sie sich in der dem Judentum wie Christentum gemeinsamen Heiligen Schrift des Alten Testamentes finden. Vor allem die Voraussetzungen der Deutung der Passion Jesu durch den Opferkult im Jerusalemer Tempel sind heute den meisten Angehörigen beider Religionen tief fremd geworden, aber ohne diese Voraussetzungen lässt sich die kanonische Deutung der Ereignisse nicht verstehen und ein christlicher Glaube mit Bezug auf die ganze Bibel nicht leben.
1.1 Die Kreuzigung Jesu als vorgegebene Tatsache
Jeder Ansatzpunkt des Nachdenkens über den Sinn von Christi Leiden und Sterben war und ist seine Kreuzigung. Es lässt sich historisch kaum bestreiten, dass Jesus von Nazareth um das Jahr 30 n. Chr. durch die Hand der Römer vor den Toren der Stadt Jerusalem gekreuzigt wurde. Zu eindeutig sind die Belege, zu vielfältig die Zeugnisse. Streiten mag man über die näheren Umstände seiner Hinrichtung und den Anteil der jüdischen und der römischen Autoritäten an seiner Verurteilung. Aber dass Jesus ans Kreuz geschlagen und gewaltsam getötet wurde, kann als historisches Faktum gelten.
Schwieriger wird es, wenn man dieses historische Ereignis nach seinem Sinn befragt — nach dem »Warum?«. Denn der »Sinn« einer Sache erschließt sich nur im Zusammenhang; und weshalb ein leidvolles und schockierendes Ereignis möglicherweise nicht sinnlos, sondern sinnvoll war, offenbart sich erst vom Ende her.
So kann es nicht überraschen, dass nicht einmal die Frauen und Männer, die Jesus von Galiläa an begleitet hatten, das Kreuzesgeschehen von sich aus begreifen konnten. Die einen erlitten das Sterben Jesu in Verzweiflung, die anderen flohen schockiert. Sinnstiftend und erhellend waren für sie nach allen neutestamentlichen Zeugnissen erst die Ereignisse seit dem Ostermorgen. Durch diese wurde nicht nur das Grab Jesu geöffnet, sondern zugleich auch Augen und Einsicht der Menschen, die fortan als Zeugen seiner Auferstehung den Gekreuzigten verkündigten. Erst im Licht der Auferweckung Jesu erhellte sich das Dunkel seines grausamen Sterbens.
1.2. Es gibt zwei Wege, über den Kreuzestod nachzudenken
Seitdem gibt es beim Verständnis des Kreuzestodes Jesu zwei Möglichkeiten: Entweder man fragt nach dem Sterben Jesu, ohne auf die Realität seiner Auferstehung zu schauen, oder man versucht, das Zeugnis der frühen Christen über den Kreuzestod unter der Voraussetzung ihres Bekenntnisses zur Auferstehung nachzuvollziehen. Anders formuliert: Entweder nähert man sich der Kreuzigung Jesu von Nazareth allein auf der Basis der historisch plausibilisierbaren Fakten und unter Ausschluss der frühchristlichen Glaubenserfahrungen, oder man untersucht — ebenfalls mit den Mitteln der historischen Forschung und Quellenanalyse — die ältesten Zeugnisse vom Kreuzesgeschehen in ihrem Gesamtzusammenhang und aufgrund ihrer eigenen Erkenntnisvoraussetzungen. Beide Wege kann man gehen, man muss sie nur klar unterscheiden.
»Musste Jesus sterben, um den himmlischen Vater mit der Welt zu versöhnen? Hat Gott ein Menschenopfer gefordert? Wollte er Blut sehen, um von seiner Feindschaft gegen die Sünde ablassen zu können? Sollte man das frühchristliche Sühneverständnis und Opferdenken heute nicht endgültig aufgeben?« Die meisten Verständnisprobleme unserer heutigen Debatte über das Kreuzesgeschehen rühren von der Vermischung der beiden Wege her. Christus ist »für uns gestorben«; so wird es in Röm 5,6.8; 2Kor 5,14 und lThess 5,10 ausdrücklich formuliert. Dass er für uns gestorben ist, lässt sich nur dann erkennen und nachvollziehen, wenn man sich — zumindest gedanklich — auch auf den Erkenntnisgewinn einlässt, den die ersten Christengemeinden aus seiner Auferweckung durch Gott gewonnen haben. Umgekehrt erübrigen sich viele Anfragen an die neutestamentliche Deutung des Kreuzesgeschehens von selbst, wenn man lediglich von der historischen Hinrichtung Jesu von Nazareth als eines Menschen »wie du und ich« ausgehen will. Auch dann ist sein konsequentes Leben bis hin zur Bereitschaft seines Lebenseinsatzes für Gott und die Menschen beeindruckend; sein Kreuz kann aber nicht mehr in gleicher Weise als »heilvoll«, »versöhnend« und universal bedeutsam verstanden werden, wie es die ersten Christen bezeugten. Auch wenn man die Auferweckung Jesu durch Gott ausklammert, muss man die wegweisenden Lehren und das vorbildliche Leben des Nazareners keineswegs als gescheitert ansehen; man bekommt aber nicht mehr die Hoffnungsperspektive und heilvolle Wirkung in den Blick, die das Christusgeschehen für die Auferstehungszeugen hatte.
Im Folgenden wird konsequent der zweite Weg beschritten, also von den Aussagen der neutestamentlichen Zeugen ausgegangen. Was sind dann aber die Grundlagen einer Kreuzestheologie, wie sie sich bereits in den ältesten frühchristlichen Schriften, Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, entfaltet findet?