Für uns gestorben
Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015
IV. »Für uns gestorben« – Frömmigkeitsgeschichtliche Einblicke
"Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen" (EG 81, Text: Johann Heermann [1585-1647]) Dem Gefolterten und Gekreuzigten gegenüberstehend, erkennt der Sänger seine eigene Schuld, die Christus stellvertretend trägt: "der Mensch verdient den Tod und ist entgangen, Gott wird gefangen." Gott selbst ist es also, der für den Menschen leidet. Diese Erkenntnis führt den Sänger zur Anbetung der Liebe, die das vollbracht hat, und zur Frage, wie er deren Taten "im Werk erstatten" könne. "Alles" will der Sänger wagen, keinen Schmerz scheuen, doch er weiß, dass er es nur mit der Hilfe des Heiligen Geistes vermag, der ihn zum Guten führt - bis er schließlich vor dem Thron des auferstandenen Jesus steht, "auf meinem Haupt die Ehrenkrone", um dort, "wenn alles wohl wird klingen", Lob und Dank zu singen.
"O Haupt voll Blut und Wunden" (EG 85, Text: Paul Gerhardt [1607-1676]) Der singende Einzelne betrachtet das Haupt, das Gesicht des Gekreuzigten, das deutlich die Spuren "des blassen Todes Macht" zeigt. Er weiß: "ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast." In diesem Wissen bittet er den erbarmenden, gnädigen Gott in immer neuen Wendungen um seine Nähe, um den ständigen Anblick dieses "Leidens für mich", in dem sein ganzes Heil zu finden ist, indem er schließlich auch sich selbst erst wahrhaft findet (Strophe 7). Darum will der Mensch beim sterbenden Christus ausharren und wünscht nichts mehr, als dass der Gekreuzigte auch in seinem eigenen Sterben zugegen sein möge, damit der Anblick von Christi Kreuzesnot ihn aus seiner Angst reiße, "kraft deiner Angst und Pein" - "wer so stirbt, der stirbt wohl".
"Du großer Schmerzensmann" (EG 87, Text: Adam Thebesius [1596-1652]) Die Gemeinde dankt dem "Herrn Jesus", dem "unbefleckten Lamm" für alles Leiden, für Angst, Kampf und Tod, die unser Trost sind, unser Heil, unser Leben. "In deinen Banden ist die Freiheit uns gegeben", im Leben und im Sterben - "lass uns auf deinen Tod den Trost im Tode gründen". In dieser Einsicht in das "für uns" und in dieser Hoffnung auf die Hilfe im Angesicht des Todes stellt die Gemeinde ihr Geschick dem Herrn anheim: "bind uns, wie dir's gefällt; hilf, dass wir kreuzigen durch dein Kreuz Fleisch und Welt."
"Jesu, deine Passion" (EG 88, Text: Sigmund von Birken [1626-1681]) Der Mensch bittet um Christi Beistand bei dem Versuch, sich Leiden und Sterben des Erlösers zu vergegenwärtigen, er möchte, dass seine Seele alle Einzelheiten der Passion erkenne, doch auch deren Ursache, seine Sünde, und deren Frucht, die Liebe Gottes. Ein solcher Anblick soll ihn vor künftiger Sünde bewahren, er soll ihn lehren, sein eigenes Kreuz in Demut und Geduld zu tragen, "dass ich dir geb Lieb um Lieb", bis er ihn "dort", im Gottesreich, mit "besserem Dank" lobe.
Gemeinsam ist diesen Chorälen, dass sie die Singenden direkt unter das Kreuz führen und dort Christi Leiden als Leiden "für uns" betrachten. Die Betrachtung geschieht im dankbaren Wissen, dass Christus stellvertretend leidet, dass es "unsere" Sünde ist, die ihn an das Kreuz brachte. Immer hat die Betrachtung Folgen für das Leben der Singenden - und noch mehr für ihr Sterben, das im Blick auf das Kreuz ein getrostes Sterben ist. Diese Lieder können den Glauben prägen, wenn Menschen es zulassen, wenn sie sich auf diese Glaubenssprache einlassen. Doch nicht jeder und jede kann und mag sie heute noch singen.
Allerdings gibt es auch andere prägende Einflüsse, und so hatte und hat der Alltag des Glaubens - auch des Glaubens an das "Für uns gestorben" - unterschiedliche Gesichter. Die Gestaltungsformen, aber auch die Anfragen der Gegenwart sind leichter zu verstehen, wenn man die großen Veränderungen im Glaubensalltag betrachtet, die immer wieder anderen Akzentuierungen in der lebenspraktischen Umsetzung des Vertrauens auf Tod und Auferstehung Christi. Es wird schließlich deutlich werden, dass Spuren aller dieser Frömmigkeitsformen bis heute Teil des Glaubenslebens der evangelischen Christenheit in Deutschland sind.
1. Die Reformation und die Gesten des Glaubens
Im Leben der Glaubenden in den protestantischen Kirchen hatte sich durch die Reformation Vieles gewandelt: Viele Gottesdienste in bestimmten Landstrichen erinnern, auch wenn das Abendmahl gefeiert wird, an die Schlichtheit der mittelalterlichen Predigtgottesdienste. Sie werden in der Sprache der Gemeinden gefeiert, mit Liedern, die die Menschen mitsingen können. Das Wort steht im Mittelpunkt, vor allem das Evangelium von der Vergebung aller Sünden und der Überwindung des Todes für alle, die an Jesus Christus glauben, an seinen Kreuzestod und sein Auferstehen "für uns". Lutherische Kreuzestheologie war in Gestalt der einschlägigen Lieder präsent: "Christ lag in Todesbanden, für unsre Sünde gegeben, der ist wieder erstanden und hat uns bracht das Leben" (EG 101). Das Leben hat den Tod verschlungen, die Nacht der Sünden ist vergangen, aus dem Tod ist ein Spott geworden. Christus allein hat die Erlösung vollbracht, ein für alle Mal. Die Hinwendung zu den Heiligen als Helfern in allerlei Nöten ist weggefallen, Gott selbst ist für die Glaubenden zu jeder Zeit in allen Fragen ansprechbar. Seelenmessen und Wallfahrten gelten zunehmend als Aberglauben, viele Segensgesten und das Sich-Bekreuzigen werden zunehmend als "papistisch" angesehen und geraten in Verruf. Die Pfarrer büßen ihren Nimbus ein, an Christi statt vor der Gemeinde zu stehen und das Opfer darzubringen, und werden stattdessen - vor allem im 18. Jahrhundert - mehr zu Lehrern, die über die rechte Lehre und über die Moral ihrer Gemeinden wachen.
Gleichzeitig bringen sie den Gemeindegliedern die Worte der Bibel in der Übersetzung Luthers näher - die Heilige Schrift erfährt, durch die Weiterentwicklung des Buchdrucks, große Verbreitung. Schon bald kommen die ersten Gesangbücher als Andachts- und Gebetbücher hinzu, ebenso die Katechismen Martin Luthers. Die Botschaft von der Rechtfertigung aller Glaubenden durch Christi Sterben und Auferstehen ist das immer von Neuem eingeschärfte Zentrum der Theologie. Sie befreit die Christen von der Vorstellung, durch häufiges Beichten und durch Bußleistungen ihr Seelenheil selbst verdienen zu müssen. Sie vergewissert sie ihres künftigen Lebens im Gottesreich allein aus Gnade. Doch ebenso schärfen die Pfarrer ihren Gemeinden die Verantwortung ein, die jeder Christenmensch für seine Glaubenspraxis hat.
1.1 Das erste Ergebnis: Reduktion der Vielfalt und neue Formen
Die Veränderungen haben verschiedene Resultate: Die Glaubenden fühlen auf neue Weise Zuversicht. Sie vertrauen darauf, dass die Erlösungstat Gottes jedem von ihnen gilt und sie alle befreit. Ihr Gottesverhältnis bedarf keines Mittlers mehr. Wichtig ist nurmehr Christus, der Glaube allein an ihn genügt. Zugleich reduziert die Reformation damit die Möglichkeiten, den eigenen Glauben auszudrücken: Der religiöse Alltag der evangelischen Christen ist - im Vergleich zur katholischen Fülle der möglichen Helfer in der Not und zum Gestenreichtum des römischen Ritus - deutlich spröder geworden und wird es im Laufe des 18. Jahrhunderts noch mehr. Bald bilden sich jedoch eigene Formen aus, in denen die Menschen ihren Glauben leben und mit denen sie auf die Gewissheit, dass Christus "für uns gestorben" sei, antworten können. Ein solches Antworten ist ebenso Bedürfnis der Gemeinden wie Forderung der Theologen. Denn, so schärfen die Pfarrer immer wieder ein: Die Taufe schenkt dem Menschen zwar einen neuen Anfang, setzt ihn aber damit zugleich auf einen neuen Weg, den Weg der Heiligung. Die Gläubigen seien, so kann es Luther formulieren, ein angefangenes, nicht aber ein bereits vollbrachtes Werk Gottes, ihr Leben sei nicht Frömmigkeit, sondern ein Fromm-Werden (WA 7,337,5ff.). Jedem Einzelnen ist es damit aufgegeben, sich - in dankbarer Antwort auf das Geschenk der Erlösung - in seinem Alltag um seine Heiligung zu bemühen und, unmittelbar zu Gott, seine Spiritualität zu praktizieren.
1.2 Das zweite Ergebnis: Die Entstehung persönlicher Frömmigkeit und die häusliche Andacht
Der Gedanke des Priestertums aller Getauften hatte die Folge gehabt, dass die Differenz und die Grenze zwischen Klerus und Laien aufgehoben waren. Jeder Mensch ist nun ohne die Mittlerschaft eines anderen und auch außerhalb des Raumes der Kirche imstande und gerufen, auf das Geschenk von Gottes Gnade, auf die in Christus geschehene Erlösung zu antworten. Martin Luther kann sich sogar eine Gestalt des Gottesdienstes außerhalb der Kirche, in Hausgemeinschaften vorstellen. So eine private Hausgemeinschaft ist für ihn eine "kleine Kirche". Die Pfarrer fordern also ihre Gemeinden zu häuslichen Andachten auf, nicht nur, weil diese Andachten Räume gelebter Frömmigkeit sind, sondern ebenso, weil sie den Gläubigen notwendiges theologisches Wissen vermitteln.
Die Großfamilie findet sich darum morgens und abends zur täglichen Andacht ein, mit allen Hausbewohnern, auch den Knechten und Mägden. Unter der Leitung des Familienvorstands beginnen sie stets mit der Erinnerung an ihre Taufe, die ihnen Anteil gibt an der Erlösung durch Christi Sterben und Auferstehen. Sie beten gemeinsam, es werden biblische Texte oder Abschnitte aus Erbauungsbüchern gelesen, der Hausvater legt Katechismusstücke in einer christlichen Vermahnung aus. Gemeinsam singen sie die Choräle und Lieder aus dem Gesangbuch, die Texte können sie meist auswendig. Außerdem wacht der Hausvater als "Haus-Bischof" über den regelmäßigen Gottesdienstbesuch und den regelmäßigen Abendmahlsempfang. In diesem allen ist die entscheidende Mitte die Christusbotschaft, die Zusicherung des Kreuzestodes und der Auferweckung Christi "uns zugute", auf die sich alle Zuversicht im Leben gründet. Aus dieser Mitte heraus leben die Menschen ihren "vernünftigen Gottesdienst" (Röm 12,1) im Alltag.
Der Sonntagsgottesdienst mit dem Abendmahl als mit dem Verzehr von Brot und Wein verbundene Zueignung des Todes Christi und der Vergewisserung der Sündenvergebung ist in jeder Woche Höhepunkt und Ziel der privaten Frömmigkeit. Der Karfreitag wird liturgisch nicht in der Weise hervorgehoben, wie es die katholische Frömmigkeit beispielsweise durch das Zelebrieren von Kreuzwegen oder durch die Kreuzesverehrung tut. Das bedeutet aber nicht, dass den Evangelischen die Botschaft weniger wichtig wäre: Die gelebte protestantische Frömmigkeit ist aus dem Besonderen, der Inszenierung im äußeren Raum der Kirche, in den Alltag und nach innen gewandert, in das Haus, in den Menschen hinein.
2. Das 17. und 18. Jahrhundert: Innerlichkeit und vernünftige Distanz
Diese Tendenz verstärkt sich durch die Einflüsse von Pietismus und Aufklärung, allerdings geht nun die Gestaltung der Frömmigkeit in den Städten andere Wege als in den ländlichen Regionen, in denen die Gemeinden stärker an den hergebrachten Formen festhalten. Der Karfreitag gewinnt in dieser Zeit an Bedeutung, indem er sich inhaltlich zunehmend den Bußtagen annähert; zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird er in den meisten protestantischen Gebieten ein ganzer Feiertag, was, nebenbei, ein nicht unwichtiges Unterscheidungsmoment gegenüber den katholischen Gemeinden darstellt. Die Bedeutung der häuslichen Andachten wächst unter dem Einfluss des Pietismus, allerdings sind es nun weniger die Hausgemeinschaften, die sie feiern, als vielmehr die kleinen Zirkel der wahrhaftig Frommen, die sich als den Ausgangspunkt einer erneuerten und frömmeren Kirche sehen.
2.1 "Sie wandeln auf Erden und leben im Himmel ..." - Der Pietismus
Die Christen, die der Arzt Christian Friedrich Richter 1704, in der Blütezeit des Pietismus, so besingt (bis 1993 im Evangelischen Kirchengesangbuch, Nr. 265), müssen den Kreuzestod Christi kaum eigens bedenken - Christus ist zu ihrer Erlösung gestorben, das haben sie immer im Bewusstsein, und leben es oft in einer sehr innigen, von Ernst und Trauer bestimmten Kreuzesfrömmigkeit. Wichtig sind aber vor allem die Folgen, die dieses Handeln Gottes in ihrem Leben hat: stete innerliche Sündenerkenntnis und aufrichtige Reue, Streben nach wahrhaftiger Liebe zu Gott und dem Nächsten, Reinigung und Heiligung und zugleich das Wissen um den inneren Reichtum, den Glanz des "inwendigen Lebens", der freilich außen nicht erkennbar ist. "Sonst sind sie wohl Adams natürliche Kinder und tragen das Bildnis des Irdischen auch." Die Christen leben als Menschen unter ihresgleichen, "nur dass sie die Torheit der Weltlust verlachen". Denn: "innerlich sind sie aus göttlichem Stamme", die Engel sind ihre Brüder, mit denen gemeinsam sie Gottes Lob singen. "Sie stehen in Leiden und bleiben in Freuden, sie scheinen ertötet den äußeren Sinnen und führen das Leben des Glaubens von innen." Darum werden sie schließlich mit dem offenbar werdenden Christus triumphieren und zierende Lichter am Himmel sein. Mit diesem Ziel vor Augen wählen sie den verborgenen Weg Christi, "wenngleich uns die Schmach deines Kreuzes entstellt: hier übel genennet und wenig erkennet, hier heimlich mit Christo im Vater gelebet, dort öffentlich mit ihm im Himmel geschwebet".
Da die sichtbare Teilhabe an Christi Sieg über Sünde und Tod der Zukunft im Gottesreich vorbehalten bleibt, soll der Christ auf dieser Erde die innerlich brennende göttliche Flamme nicht zu deutlich zeigen. Außerdem bleibt das demütige Bemühen um Heiligung seine Aufgabe, die Absonderung von den Weltkindern, Entsagungsübungen, das bewusste Empfinden von Reue und Zerknirschung und das Befördern einer Gottessehnsucht, die der Umwelt erkennbar sein soll. Die Erfüllung dieser Aufgaben führt bei vielen zu einer insgesamt karfreitäglichen Prägung der inneren wie äußeren Haltung, an der die Zeitgenossen zunehmend Anstoß nehmen.
2.2 "Aus seinem Andenken Weisheit schöpfen" - Die Aufklärung
Das kultivierte, aufgeklärte und wohlhabende Bürgertum distanziert sich von der oft als manieriert und unaufrichtig erlebten pietistischen Frömmigkeit und verknüpft Frömmigkeit mit einer vernünftigen, dem Gemeinwohl förderlichen Moralität. Der Tugendkatalog der antiken Tradition soll beachtet und die Achtsamkeit für die Stimmen von Vernunft und Gewissen soll verstärkt werden, auch in den Fragen des Glaubens. An die Stelle häuslicher Andachten treten immer häufiger gesellige, der Hebung von Bildung und Tugend dienende Zusammenkünfte. Außerdem entwickelt sich eine Neigung zur Naturfrömmigkeit, zu einer Gottesverehrung, die auf dem Osterspaziergang ebenso ihren Ort haben kann wie im österlichen Gottesdienst. Der Sonntag dient der Auferbauung, der Stärkung der individuellen Frömmigkeit und der Tugend, und es ändert sich die Art, wie er von den Christen erlebt wird. Ihre Blickrichtung verschiebt sich: Sie bemühen sich weniger um eine mitempfindende Vergegenwärtigung der Heilsereignisse, sondern fragen eher nach deren Folgen für das Leben des Menschen. So werden die kirchlichen Feiertage immer mehr zu "Menschheitsfesten".
Deutlich wird diese Gewichtsverlagerung beispielsweise in der 1797 erschienenen Schleswig-Holsteinischen Kirchen-Agende von Georg Christian Adler. Die ausformulierten Texte für die Abendmahlsfeiern sprechen, wie es die Tradition vorgibt, vom Tod Jesu "für die Menschen" und das dadurch erworbene Heil. Dann aber fordern sie die Gemeinde nicht zum Glauben oder zur Dankbarkeit auf, sondern sie mahnen, dies zu "erwägen" oder zu "bedenken". Vor allem aber betonen sie die Bedeutung von Jesu Lehre, "welche die beste, sicherste Anweisung zur wahren Glückseligkeit ist". Sie weisen auf das Vorbild hin, das Jesus in seiner Geduld, Sanftmut und Hoffnung gegeben habe, und wollen zu dem Entschluss anleiten, ebenso gesinnt zu sein, wie Jesus es war, "damit ihr einst auch so ruhig und selig sterben könnt, wie er gestorben ist". Sie wollen das Vertrauen in Gott stärken, sie wollen ermuntern zur Nachfolge Jesu, zur Bruderliebe und Versöhnlichkeit und sie wollen die Hoffnung auf Unsterblichkeit feiern. Eine Segensformulierung für den Karfreitag lautet denn auch: "Jesu Christi Leben sei das Vorbild unsers Lebens, und unser Ende werde, wie sein Ende war!" Entsprechendes ist in dem Eingangsgebet für die Passionszeit zu lesen, dem die Überschrift dieses Abschnittes entnommen ist. Und in einer Umschreibung des zweiten Artikels des Glaubensbekenntnisses heißt es, wiederum "Lehre" und "Vorbild" stark betonend:
"Wir bekennen und glauben, dass Jesus Christus Gottes Sohn und sein glaubwürdigster Gesandter an die Menschen sei, dass er dazu in die Welt gekommen, um die Menschen von dem Elende der Sünde zu befreien, dass er zu diesem Zweck Gottes Willen gelehrt, und seine Lehre durch den Tod am Kreuze bestätigt habe, am dritten Tage aber von den Toten wieder auferstanden und zur größten Herrlichkeit bei Gott erhöht worden sei, um uns dadurch den Trost der Vergebung der Sünden und die Hoffnung des ewigen Lebens zu verbürgen. Daher wir uns auch verbunden fühlen, ihn als unsern Erlöser zu verehren, und seine Lehre als die vollkommenste Anweisung zur wahren Glückseligkeit anzunehmen und zu befolgen."
Insgesamt ist die Frömmigkeit nun stärker österlich geprägt, wichtiger als die Empfindung der Gottessehnsucht sind die fromme Gesinnung und ein dementsprechendes Tun. In der Feier des Abendmahls wird der Gemeinschaftsaspekt hervorgehoben, die individuelle Zueignung des Sterbens Christi "für uns" und damit die Zueignung der Sündenvergebung tritt demgegenüber zurück. Ebenso ist zu beobachten, dass der Gottesdienstbesuch in den Städten zurückgeht, denn an die Stelle des Kirchganges treten hier vielfach religiöse Lektüre und familiäre Hausmusik, dazu andere, der Tugend und der Bildung förderliche Formen von Geselligkeit. Die Bedeutung des Kreuzes wird damit nicht geleugnet, doch bekommt sie einen anderen Stellenwert.
3. Das 19. und 20. Jahrhundert: Grenzen und Wandel
Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wendet sich nach den "höheren Ständen" nun auch die städtische Unterschicht von den traditionellen Formen geistlichen Lebens ab. Neben der stärker in den Traditionen verwurzelten Landbevölkerung praktizieren lediglich die Menschen aus dem Mittelstand noch tägliche Andachten unter Beteiligung der Familie: Sie beten Morgen- und Abendgebet und Tischgebete, sie singen miteinander Choräle und lesen in der Bibel, im Gesangbuch sowie in Kalendern und Andachtsbüchern oder -blättern, die nun in größter Vielfalt von zahlreichen Bibel- und Traktatgesellschaften vertrieben werden. Häufig gehören sie den neugegründeten kirchlichen Vereinen an, die nicht nur nach außen karitativ, missionarisch, gesellschaftspolitisch oder kulturell wirken, sondern die ebenso nach innen wirken wollen und bei ihren Mitgliedern die Erkenntnis der eigenen Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit zu fördern suchen. Wichtig wird in dieser Zeit auch die kirchliche Presse, die entscheidend dazu beiträgt, eine protestantische Identität zu formen, die sich zunehmend nach außen hin abgrenzt. Innerhalb dieser Grenzen formt sich immer deutlicher eine protestantisch geprägte Frömmigkeit, die häufig einen starken Bezug zur Kirche aufweist. Daneben existiert die pietistische Spiritualität, nun in Gestalt einer "erweckten" Frömmigkeit ebenso fort wie die Bildungsreligion der höheren Schichten - einschließlich Goethe- und Schillerkult als Ausdruck einer weltbejahenden "Weltfrömmigkeit".
Im Laufe des 20. Jahrhunderts verändern sich, angestoßen zunächst durch die Weltkriege und den gesellschaftspolitischen Wandel, die Strukturen, in denen sich diese Gestalten geistlichen Lebens entwickelt hatten. Damit verändern sich auch die Ausprägungen der gelebten Frömmigkeit und ihre Inhalte. Vieles Traditionelle, wie das selbstverständliche Zugehörigkeitsgefühl zur Kirche am Ort, geht trotz intensiver Bemühungen verloren, manches in anderen Traditionen Beheimatete, wie die Feier der Osternacht, wird neu gewonnen. Das Resultat sind am Ausgang des 20. Jahrhunderts viele Veränderungen und manche offenen Fragen.
3.1 "Ich, ich und meine Sünden" - das 19. Jahrhundert
Zwei große Strömungen bestimmen die Frömmigkeitspraxis der evangelischen Gemeinden in dieser Zeit. Auf der einen Seite bestärken in den Städten viele Prediger das liberale Bürgertum in seiner Zuversicht, inmitten der Welt Gott nahekommen zu können, in der Natur ebenso wie in der von Menschen geschaffenen Kultur. Hier konzentriert sich die ausdrückliche Erinnerung an das Leiden und Sterben Christi immer mehr auf die wenigen Wochen im Kirchenjahr, die mit ihren Lesungen und Liedern unmittelbar daran erinnern, auf die Passionssonntage also und besonders auf den Karfreitag. Die Wiederentdeckung der Passionen Johann Sebastian Bachs durch Felix Mendelssohn Bartholdy tut ein Übriges.
Auf der anderen Seite wird von etlichen Kanzeln das ganze Jahr über der strenge, richtende Gott verkündigt, dessen Zorn über die Sünde das Sterben Christi notwendig mache. In Christi Auferstehen zeige sich, so wird den Gemeinden tröstend versichert, dann jedoch die Überwindung von Sünde und Tod, beides werde im Abendmahl angeeignet. Natürlich ist die Abendmahlsfeier am Tag der Kreuzigung von besonderer Bedeutung (häufig ist sie überdies die einzige im Jahr), sodass sich in den Gottesdiensten am Karfreitag beide Strömungen zusammenfinden.
Der Karfreitag wird damit für alle Protestanten zum wichtigsten Feiertag des Jahres, nicht nur innerhalb der Kirche, sondern auch in der Gesellschaft. Er darf nicht entweiht werden durch Feste, Lärm oder Geschäftigkeiten. Wirtshäuser und Theater sind geschlossen, die Arbeit ruht. Dem ernsten Anlass - das Sterben Christi für alle vom Menschen begangenen Sünden - wird durch festliche, dunkle Kleidung, durch ernste Gesichter, durch gesetztes Verhalten Rechnung getragen. Vor allem wird gemeinsam mit der Familie der Abendmahlsgottesdienst aufgesucht, denn die Teilnahme am Mahl gewährt eine Art Generalreinigung, die Vergebung jeder Entfernung von Gott, jeder Sünde in Haltung und Tat, in "Gedanken, Worten und Werken". Das Mahl, das diese Vergebung schenkt, ist eine gewichtige Gabe, auf deren Empfang sich der Mensch vorbereiten will und muss, die also nicht leichthin zu begehren und zu empfangen ist. Vor allem wird die Gabe als ein höchst wirksames Gnadenmittel gesehen, das für ein ganzes Jahr Befreiung schenkt - darum ist es der Gemeinde kostbar.
Wer "das Geheimnis, das Gott vom Himmel gab", empfangen hat, wie es im 1819 entstandenen Abendmahlslied von Ernst Moritz Arndt heißt (EG 213), kann Ängste, Schmerzen und Jammer abwerfen, denn der "Wunderborn im Blut, die sel'ge Himmelsspeise" gibt auf "verborgne Weise" Anteil am höchsten Gut. Der Gläubige ist, ein für alle Mal, freigekauft "mit teurem Lösegeld", wie Albert Knapp 1823 dichtet (bis 1993 im Evangelischen Kirchengesangbuch Nr. 414), darum bittet er seinen Erlöser: "lass mich nie vergessen meine Schuld und deine Huld", und die Gemeinde stimmt ein in den Vorsatz "in dir leben und in dir erblassen, das sei bis zur letzten Stund unser Wandel, unser Bund".
3.2 Das neuentdeckte Kirchenjahr - das 20. Jahrhundert
In den ländlichen Regionen bleiben die Wertschätzung der Karwoche und des Karfreitags als höchster Feiertag sowie die Karfreitagsbräuche noch bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus erhalten: Alltagspflichten ruhen, Wäsche zu waschen wäre eine Entweihung des Tages, "leichte" Musik ist verpönt, es gibt andere Nahrung als sonst (am Gründonnerstag muss es grüne Gerichte geben, wie Spinat mit Ei, am Karfreitag nur einfache, karge Nahrung, selbstverständlich wird auf Fleisch verzichtet). In den Städten dagegen wird die Distanz zum Glauben und seinen Ausdrucksformen bei vielen größer, so treten um die Jahrhundertwende allein in Berlin 10.000 Arbeiter aus der Kirche aus.
In dieser Situation bemühen sich verschiedene Gruppen und Gemeinschaften um eine Reform des Gottesdienstes, in der Hoffnung, dass eine reichere Liturgie das Innere der Gläubigen erreichen und sie zu einer neuen Hinwendung zu Gottesdienst und Kirche bewegen möge. Diese Bemühungen werden vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg deutlich verstärkt. Oft werden sie angenommen, zunächst vielleicht vor allem auf der Suche nach festem Halt, später auch aus Faszination durch den wiederentdeckten Reichtum der Liturgie. Dieser Prozess wird unterstützt durch das Aufkommen der ökumenischen Bewegung, die die Abneigung gegen alles "Katholische" mindert, auch die Deutschen Evangelischen Kirchentage sind an dieser Entwicklung nicht unwesentlich beteiligt.
So nehmen viele evangelische Kirchen vorreformatorische Formen für die Passionszeit und den Karfreitag in ihre Gottesdienste auf: Passionswege, Passionsandachten oder Hungertuch-Meditationen, die auf die Karwoche hinführen, am Karfreitag selbst die Verwendung schwarzer Paramente an Kanzel und Altar, das Verhängen des Altars, das Löschen aller Kerzen, das Schweigen der Orgel. Über die Kirche hinaus gewinnt die Fastenaktion "Sieben Wochen ohne", in denen man freiwillig auf etwas verzichtet, einige Aufmerksamkeit. Besonders zu erwähnen ist die protestantische Wiederentdeckung der Osternacht, die in vielen Gemeinden einen neuen gottesdienstlichen Schwerpunkt bildet.
Die zunächst äußerlichen Veränderungen bewirken tatsächlich bei vielen eine neue Aufmerksamkeit für das Kirchenjahr und seine Inhalte und eine tiefergehende Berührung durch das Evangelium. Sie bereichern so, zunehmend ab den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, bei etlichen den gelebten Glauben. Zugleich ist eine Verlagerung der Gewichtungen erkennbar: Während im 19. Jahrhundert der Karfreitag mit seiner Thematisierung der Sündenvergebung durch Christi Kreuz der wichtigste und bestbesuchte Gottesdienst war, sind es nun - von Weihnachten einmal abgesehen - Osternacht und Ostersonntag. Dieser Verlagerung korrespondiert eine immer größere Distanz gegenüber dem Thema der "Sünde".