Für uns gestorben
Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015
I. Zu diesem Text
In der klassischen Sprache der christlichen Tradition wird die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi immer wieder so beschrieben, dass Christus »mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst« hat (Heidelberger Katechismus, Frage 1). So glauben Christenmenschen seit vielen Jahrhunderten. Seit jeher gab es gegen diesen Glauben aber auch Widerstand. Heute wird er von vielen schroff formuliert: »Will man mir ernsthaft zumuten, an einen Gott zu glauben, der seinen eigenen Sohn tötet — und noch dazu für mich?« Gleichwohl finden sich selbst bei Menschen, die dem Christentum fernstehen, überraschende Bezüge auf das Leiden am Kreuz, beispielsweise bei dem Rapper Thomas D in dessen Song »Vergebung hier ist sie« aus dem Album »Kennzeichen D« von 2008: »Sieh diese Narben, sieh diese Tränen, / Sieh diese Arme, die sich nicht wehren ... / Hör diese Worte in Deinen Ohren / Für Dich gestorben, für Dich geboren / Für Dich gelitten, für Dich am Leben / Um Dich zu bitten, Dir zu vergeben / Vergebung hier ist sie.«
Jesus Christus ist den schmachvollen Tod eines Verbrechers am Kreuz gestorben. Das war und ist anstößig, eine Zumutung für den Glauben. Von Anfang an hat man gefragt, was das bedeutet. Von Anfang an war das Wort vom Kreuz für manche eine Torheit, für andere ein Ärgernis. Wie gehen wir heute damit um? Einige beharren darauf, dass die Botschaft auch heute noch in derjenigen Sprache weitergegeben werden muss, in der sie uns überliefert ist. Andere versuchen neue Deutungen. Manche verstummen.
Die Frage nach der Bedeutung der Passion Jesu Christi ist bis zum heutigen Tage nicht verstummt und sie wird auch in Zukunft nicht verstummen. Das ist gut. Denn diese Frage verhindert, dass sein Kreuz zu einer Selbstverständlichkeit wird, zu einem bloßen Symbol andächtiger Erinnerung oder gar zu einem Schmuckstück, bei dessen Anblick wir die Schmerzensschreie des Gekreuzigten nicht mehr hören und die Liebe Gottes, die sich in besonderer Weise mit diesem Kreuz verbunden hat, übersehen. Wie kein anderes Zeichen macht das Kreuz Jesu Christi deutlich, dass die Liebe Gottes den Weg der tiefsten Erniedrigung geht, damit wir leben können. Erst mit dem »Wort vom Kreuz« (1Kor 1,18) kann man die Liebe Gottes in ihrer ganzen Tiefe verstehen.
Die Frage nach der Liebe Gottes und die Frage nach der Bedeutung des Kreuzes Jesu Christi bedingen sich. Die eine Frage lässt sich nicht ohne die andere klären. Was heißt es, dass Gott uns liebt? Und was heißt es, dass er sich in Jesus Christus für uns ans Kreuz schlagen ließ? Diese Fragen haben die Kammer für Theologie der Evangelischen Kirche in Deutschland in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigt und schließlich zu der vorliegenden Ausarbeitung geführt.
Die Ausarbeitung hat den Charakter einer Orientierungshilfe; sie ist ganz bewusst für breitere Kreise geschrieben worden. Ein theologisches Memorandum für Expertinnen und Experten möchte sie nicht sein. Wenn dieser Text bei den Passionsandachten und der Predigt für den Karfreitag, beim Bibelgespräch oder im Glaubenskurs, beim Nachdenken über die theologische Botschaft von Bachs Matthäus- und Johannespassion oder Mel Gibsons »The Passion of the Christ« zum Nach- und Weiterdenken anregt, hat er das geleistet, was seinen Autorinnen und Autoren bei seiner Entstehung vor Augen stand.
Von tragendem Gewicht für alles Verstehen des Kreuzesgeschehens sind die Aussagen des Neuen Testaments und ihre innerbiblischen Voraussetzungen (zweites Kapitel). Deshalb steht die Beschäftigung mit ihnen am Anfang. Die Betrachtung des Kreuzestodes Jesu im Horizont der biblischen Texte kann den Verdacht ausräumen, es sei auf Golgatha um die Vollstreckung eines göttlichen Strafbedürfnisses gegangen. Vielmehr wird deutlich, dass hinter allen Stationen des Wirkens und Leidens Jesu das leidenschaftliche Drängen Gottes auf Versöhnung des Menschen mit Gott, aber auch zwischen Mensch und Mensch steht. Nach Jahrzehnten engagierter Beschäftigung mit biblischen Texten, die in der Heiligen Schrift des Judentums und dem Alten Testament des Christentums gemeinsam enthalten sind, insbesondere im Rahmen des jüdisch-christlichen Dialoges, sollte es nicht verwundern, wenn im vorliegenden Text ausführlich der Hintergrund neutestamentlicher Vorstellungen im jüdischen Tempelkult sowie seiner theologischen Reflexion entfaltet wird; die Mitglieder der ersten christlichen Gemeinden besuchten, wie die Apostelgeschichte zeigt, diesen Tempel und lebten in seiner Vorstellungswelt. Wer die neutestamentlichen Reflexionen über Jesu Leiden und Sterben verstehen will, muss sich mit dieser Welt beschäftigen, auch wenn diese Beschäftigung Erkundungsgänge in heute recht fremde Welten zumutet.
Die beiden sich anschließenden Kapitel sind geschichtlich orientiert, aber gleichwohl keine historischen Abhandlungen. Immer wieder kommen unsere Fragen und Probleme zum Vorschein. Das dritte Kapitel bietet Einblicke in wichtige Weichenstellungen der Kreuzestheologie in der Geschichte des christlichen Denkens. Das geschieht zunächst aus der Perspektive der reformatorischen Theologie, sowohl der Theologie Martin Luthers mit ihren zentralen kreuzestheologischen Einsichten als auch der reformierten Einsichten, die vor allem am Heidelberger Katechismus, der am weitesten verbreiteten reformierten Bekenntnisschrift, entfaltet werden. Auch die mittelalterlichen Voraussetzungen der reformatorischen Theologie werden ausführlich entfaltet, ohne die der reformatorische Neuansatz weder in seiner Neuheit noch in seiner Traditionskonformität richtig verstanden werden kann. Sodann richtet sich die Aufmerksamkeit auf die neuzeitlichen Deutungen des Kreuzestodes Jesu. Mit Immanuel Kant und Friedrich Schleiermacher rücken zwei Denker in den Blick, die sich kompromisslos den modernen Verstehensschwierigkeiten stellen und unter diesen Bedingungen das Motiv der Stellvertretung neu zu würdigen versuchen. Die Dogmatik des 20. Jahrhunderts von Karl Barth bis zu Eberhard Jüngel wird durch eine neue, vertiefte Aufmerksamkeit für den theologischen Gehalt von Bibel und reformatorischer Theologie in Anspruch genommen, indem sie das Kreuz als Inbegriff von Gnade und Gericht und als Ort der tödlichen Gottverlassenheit thematisiert, in die hinein Gott selbst geht.
Das vierte Kapitel geht den Deutungen des Kreuzes in der jüngeren und jüngsten Geschichte der evangelischen Frömmigkeit nach. Dabei werden neben bewegenden Zeugnissen des Vertrauens auf den Gekreuzigten ebenso die Schwierigkeiten und Missverständnisse sichtbar, die sein Tod am Kreuz ausgelöst hat und auslöst. Auch dieses Kapitel ist umfangreich ausgefallen, weil die Frage nach dem Sinn von Christi Leiden und Tod für die allermeisten Menschen nicht von den gottesdienstlichen und sonstigen Frömmigkeits-Kontexten abgelöst werden kann, in denen sie thematisiert wird. Kreuzestheologie Martin Luthers begegnet nun einmal den allermeisten Menschen gegenwärtig in Gestalt der Passionen Bachs und nicht bei der Lektüre von Texten einer Luther-Ausgabe. In der evangelischen Passionsfrömmigkeit ist aber besonders viel Traditionsgut aufbewahrt, das erklärt werden will, wenn nicht fern von der Lebenswelt der Menschen über Christi Leiden und Tod gesprochen werden soll.
Der heutigen Situation gilt das fünfte Kapitel. Hier zeigen sich Ambivalenzen und Widersprüche. Einerseits haben sich die Verlegenheiten gegenüber dem Kreuz Christi zugespitzt. Andererseits fasziniert die Betrachtung seines Leidens und übt eine erstaunliche Anziehungskraft aus, der sich viele nur schwer entziehen können. Kann man gar von einer Wiederentdeckung des Kreuzes sprechen?
Unmittelbar als Impulsgeber für das eigene Nachdenken und für das Gespräch können die Fragen gelten, die im abschließenden sechsten Kapitel gestellt und beantwortet werden. Es handelt sich um Fragen, die den Mitgliedern der Theologischen Kammer in verschiedensten Situationen teilweise schon gestellt wurden, aber auch um solche Fragen, von denen man sich wünschen würde, dass sie gelegentlich gestellt werden. Die einzelnen Antworten orientieren sich am kreuzestheologischen Gehalt des Christusbekenntnisses der Kirche und entfalten, präzisieren und pointieren ihn in der Perspektive der konkret gestellten Frage. Man kann sich allerdings mit den Fragen auch beschäftigen, ohne gleich die dazugehörigen Antworten zu lesen. Man kann im Rahmen einer Lektüre dieses Textes oder seiner Besprechung auch eigene Antworten zu geben versuchen und dann die so entwickelten Antworten mit denen des vorliegenden Textes vergleichen. Wenn dann noch der Fall einträte, dass eine so entstandene Antwort die Erklärungskraft der ihr entsprechenden Antwort im Text überträfe, wäre das für die Weiterarbeit am Thema ein Glücksfall.
Auf den ersten Blick ist es ein Wagnis, den inhaltlichen Kern der Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Christi Leiden und Sterben in einem Katalog von Fragen und Antworten zu geben. Aber zum einen hat schon die theologische Tradition gewusst, dass die Form von knappen Fragen und Antworten besonders geeignet ist, schwierige Sachverhalte auf den Punkt zu bringen. Zum anderen aber finden sich auch in den Abschnitten, die den biblischen, theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Befund darstellen, nach wie vor gültige und überzeugende Antworten auf die grundlegenden Fragen, denen sich dieser Text widmet.