Für uns gestorben
Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015
III. »Für uns gestorben« – Theologiegeschichtliche Erkundungen
1. »Für uns gestorben« — Wie ist das zu verstehen?
Die Frage nach dem Sinn des Leidens und Sterbens Jesu wurde schon im Neuen Testament mit sehr unterschiedlichen Bildern, Begriffen und inhaltlichen Schwerpunkten beantwortet. Die allermeisten dieser Interpretationen setzen bestimmte biblische Texte oder bestimmte zeitgenössische Vorstellungen und Institutionen voraus, die im Laufe einer längeren historischen Entwicklung in jedem Fall transformiert, neu interpretiert, gelegentlich aber auch aufgegeben und vergessen wurden.
Im Folgenden wird diese Geschichte des Umgangs mit den biblischen Deutungen in der Entwicklung christlicher Theologie und Frömmigkeit paradigmatisch entfaltet. Sie wird freilich nicht mit dem Interesse einer lückenlosen historischen Darstellung geboten, sondern mit Blick auf gegenwärtige Fragen und Probleme. Zu diesem Zweck müssen wenigstens kurz diese gegenwärtigen Fragen und Probleme in den Blick genommen werden; ausführlicher werden sie im fünften Kapitel thematisiert (s. u. S. 147).
1.1 Fragen im Kontext der Gegenwart
Nicht wenige traditionsreiche biblische und nachbiblische Texte, die maßgebliche Antworten auf die Fragen nach dem Sinn des Leidens und Sterbens Jesu Christi enthalten, bereiten heute vor allem Menschen, die nicht spezifisch in christlichen Zusammenhängen sozialisiert sind, erhebliche Verständnisprobleme: »Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. ... Lasst euch versöhnen mit Gott!«, so schreibt Paulus im zweiten Brief an die Korinther (2Kor 5,19f-).Warum eigentlich, so fragen Menschen heute, sollten wir uns mit Gott 58 versöhnen lassen? Hat derjenige, von dem man uns gepredigt hat »Gott ist Liebe«, plötzlich etwas gegen uns? Dabei sind wir uns im Allgemeinen doch keiner Schuld bewusst, die Gott derart gegen uns hätte aufbringen können, dass ein großer Versöhnungsakt notwendig würde. Schon gar nicht scheint uns das blutige Opfer seines eigenen Sohnes, Jesus Christus, für unsere vermeintliche Schuld und zur Besänftigung etwaiger göttlicher Ansprüche gerechtfertigt und plausibel.
Aber auch ein aufgeschlossener Umgang mit der Opfervorstellung ist gegen Missverständnisse nicht geschützt. Wenn Menschen sich in Liebe für eine gute Sache aufopfern und das Leben einsetzen für andere, dann ist ihnen Jesus Christus zum Vorbild geworden und wird als Vorbild für christliches Verhalten unter den Menschen präsent gehalten. Diese Formen der zwischenmenschlichen Aufopferung und Selbsthingabe können allerdings auch eine destruktive Seite haben, vor allem dann, wenn sie als Zwang erfahren werden. Besonders die feministische Theologie hat solche Verzerrungen und Missdeutungen des theologischen Opferbegriffs aufgedeckt. Im Hintergrund ihrer Kritik standen viele biografische Erfahrungen und ganze Lebensgeschichten: Wenn Männern von Frauen forderten, dem Opfer Christi mit dem Opfer des eigenen Lebens zu entsprechen und es für andere hinzugeben, wurde nur theologisch der Anspruch verbrämt, dass Frauen eigene Interessen und Lebenspläne zurückzustellen hatten. Nicht zufälligerweise waren vor allem Frauen von solchen gesellschaftlich dominanten Erwartungen betroffen.
An solchen Fehldeutungen zeigt sich, wie anspruchsvoll sich die biblischen Aussagen von der Versöhnung des Menschen mit Gott darstellen und mit welchen Schwierigkeiten man hier heute rechnen muss. Verstehen und Missverstehen der Bibel, Auslegung und Predigt ihrer Inhalte sind in Geschichte und Gegenwart des Christentums stets von eigenen Vorverständnissen beeinflusst. Und so sind auch theologische Aussagen von der Versöhnung des Menschen mit Gott bzw. von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott bis heute zutiefst geprägt durch die jeweiligen historischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, aus denen heraus sie gesprochen und für die sie formuliert wurden. Ob und wie sie verstanden werden, hängt nicht zuletzt davon ab, in welche Lebenssituationen der Mensch, der sie hört, eingebunden ist.
Aus diesen Gründen muss bei einem Durchgang durch die Geschichte christlicher Kreuzestheologie und Passionsfrömmigkeit deutlich werden, welche der existenziellen Fragen, die damals angesprochen wurden, auch heute von Bedeutung sind und wo Deutungen im Spiel sind, die sich bei vertiefter Betrachtung als folgenschwere Missverständnisse herausstellen.
1.2 Grundlegende Schwierigkeiten
Zu den spezifischen Verständnisschwierigkeiten mit einzelnen Bildern, Begriffen und Vorstellungen biblischer Texte und ihrer Auslegungen in Theologie wie Frömmigkeit kommen zwei grundlegende Veränderungen, die im Laufe der Neuzeit im deutschen Sprachraum und anderen Gegenden Mitteleuropas die religiöse Mentalität breiter Bevölkerungsschichten stark umgeprägt haben und zu zwei grundlegenden Schwierigkeiten im Umgang mit traditionellen Antworten auf die Frage nach dem Sinn von Leiden und Tod Jesu geführt haben:
- Viele Menschen verstehen den Ablauf ihres Lebens nicht mehr als etwas, was sie vor einem Gott zu verantworten haben. Dass menschliches Leben gelingt und überhaupt sinnhaft ist, erwarten sie nicht mehr von einem Gott und einer auf ihn bezogenen Religiosität. Und sie erfahren sich nicht unmittelbar als erlösungsbedürftig. Sünde ist kaum noch ein Begriff, der etwas klärt, und der Gedanke, dass Gott Erwartungen an seine Geschöpfe haben könnte, denen sie womöglich in keiner Weise genügen, bleibt fremd. Wenn die Rede auf Schuld kommt, fällt der Blick auf die anderen, nicht auf Gott.
- Menschen, für die Gott eine ihr Leben bestimmende Wirklichkeit ist, machen ihn teilweise zu schnell zu einer Bestätigung des eigenen Selbst — nach dem Motto »Gott liebt dich so, wie du bist«. Sie neigen dazu, Gott auf ein unpersönliches Prinzip zu reduzieren, nämlich das nicht näher definierte Prinzip »Liebe«. Der Gott der jüdischen wie christlichen Bibel büßt dadurch seine unverkennbaren Konturen ein. Er ist kein personales Gegenüber mehr, das sich dem Verstehen offenbaren oder verschließen kann. Der liebende und zugleich gerechte Gott mit seinen uns irritierenden Seiten gerät aus dem Blick. Das hat zur Folge, dass vielen Menschen die theologische Wiederentdeckung des Evangeliums durch die Reformation und der Kern reformatorischer Theologie ebenso fremd geworden sind wie die klassischen Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Sterbens Jesu. Was die Lehre von der Rechtfertigung des Menschen durch die Gnade Gottes mit dem je eigenen Leben zu tun haben könnte, ist ebenso unklar wie die existenzielle Bedeutung der damit einhergehenden Befreiung des Einzelnen von einem stets nur um sich selbst kreisenden Bemühen um gelingendes Leben. Nicht nur die Aussagen der Bibel, sondern vor allem die Vermittlung von deren theologischem Gehalt durch die Reformation des 16. Jahrhunderts bedürfen im Vorfeld des fünfhundertjährigen Jubiläums der Reformation erneuter Bemühungen um ihre Erschließung.
Um aber reformatorische Aussagen zu verstehen, ist zunächst ein Blick auf vorreformatorische Lehrtraditionen und ihre existenziellen Hintergründe notwendig. Luther wählte einen in manchen Punkten erneuerten Zugang zu der Frage der Erlösung des Menschen. Damit unterschied er sich von der theologischen Tradition, auch wenn er Anklänge daran bewahrte und es ihm fern lag, sie in Gänze auslöschen zu wollen.