Für uns gestorben
Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015
II.3. Entfaltungen
3.1 Unbegreifliches auf den Begriff bringen, Unbekanntes bekennen
Was historisch nach Jesu Kreuz und Auferstehung innerhalb von wenigen Jahren folgte, war die gedankliche Durchdringung und begriffliche Entfaltung des Kreuzesgeschehens mithilfe von vielfältigen Traditionen und Motiven — speziell aus dem alttestamentlich-jüdischen Umfeld. Womit sollte man Unvergleichliches vergleichen und wie sollte man Unbegreifliches auf den Begriff bringen? Keine der bestehenden Überlieferungen reichte für sich genommen und allein aus, um das Einmalige und Neue umfassend zur Geltung zu bringen. Aber mithilfe vielfacher Motive und verschiedenartiger vorgegebener Begriffe und Vorstellungen gewann das Wort vom Kreuz in kürzester Zeit seine Sprachgestalt. Schon die neutestamentlichen Schriften setzen dabei fest geprägte Formulierungen und Bekenntnisse in den frühen christlichen Gemeinden von Jerusalem über Antiochien bis hin nach Griechenland und Rom voraus, die sich bereits in den ersten zwanzig Jahren nach dem Christusgeschehen ausgebreitet haben müssen.
So zitieren schon die ältesten frühchristlichen Schriften gottesdienstlich gebrauchte Bekenntnisse zu dem Kreuzestod Jesu Christi, »der dahingegeben wurde um unserer Übertretungen willen und auferweckt wurde um unserer Rechtfertigung willen« (Röm 4,25), »der sich selbst für unsre Sünden dahingegeben hat, dass er uns errette von dieser gegenwärtigen, bösen Welt« (Gal 1,4). Unübertroffen ist dabei das vorpaulinische, bereits viergliedrig ausgeführte Bekenntnis von 1Kor 15,3-5, in dem Jesu Sterben »für unsere Sünden« und sein Begrabenwerden, seine Auferstehung am dritten Tage und sein Erscheinen vor den Zeugen als der Schrift entsprechend und verbindlich überliefert bezeugt wird: »Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift ...« (1Kor 15,3).
3.2 Befreiungserfahrungen
Vielfältig wird das Kreuzesgeschehen als Befreiungs- und Erlösungserfahrung beschrieben: als »Freikauf« und »Befreiung« aus der Sklaverei (1Kor 6,20; 7,23) oder als Jesu stellvertretendes Eintreten in die Sklaverei zugunsten der Erlösten: »Christus aber hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er zum Fluch wurde für uns« (Gal 3,13; vgl. 4,4f.). Dabei kann die »Rechtskraft«, die Gültigkeit und Verbindlichkeit der Befreiung sogar mit Begriffen der Geschäftssprache veranschaulicht werden: »Ihr seid teuer / gegen Barzahlung / rechtskräftig erkauft ...« (1Kor 6,20). Die Gläubigen erkennen im Kreuz ihre »Erlösung« zudem in Analogie und Überbietung der Erlösung Israels aus der Sklaverei Ägyptens und aus dem babylonischen Exil: »wir werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist« (Röm 3,24; vgl. Eph 1,7; Kol 1,14; Hebr 9,15). Die Freude darüber, dass Christus als der Sohn Gottes wurde, was die Menschen sind, damit diese teilhaben können an dem, was er ist, kommen eindrücklich in Beschreibungen des »süßen Tauschs« und »seligen Wechsels« zum Ausdruck, wie die Menschwerdung und die Lebenshingabe Jesu zugunsten der Menschen seit dem Diognetbrief 9,5 (2. o. 3. Jh. n. Chr.) genannt werden kann. »Denn ihr kennet die Gnade unsres Herrn Jesus Christus, dass er, obwohl er reich war, arm wurde um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet« (2Kor 8,9). »Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, damit wir die Sohnschaft erlangen« (Gal 4,4f.; vgl. 3,13). »Den, der Sünde nicht kannte, hat er für uns zur Sünde gemacht, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm« (2Kor 5,21).
3.3 »Siehe, das ist Gottes Lamm
Ob Jesus selbst die Passanacht noch mit seinen Jüngern gefeiert hat und dann gefangengenommen und gekreuzigt wurde oder ob er gleichzeitig mit den Passalämmern starb, wird in den Evangelien unterschiedlich überliefert. Nach dem Markusevangelium (Mk 14,12ff.) und den anderen synoptischen Evangelien (vgl. Lk 22,15) hält Jesus mit seinen Jüngern in der Nacht vom 14. auf den 15. Nisan noch gemeinsam das Passamahl und wird am darauffolgenden Tag, dem 15. Nisan, gekreuzigt. Nach der Darstellung des Johannesevangeliums stirbt Jesus hingegen am Rüsttag zum Passa in der Stunde, in der die Passalämmer geschlachtet werden (am 14. Nisan »gegen Abend«; vgl. 2Mose 12,6; 4Mose 9,2f.). Dabei ist die Verbindung des Kreuzesgeschehens mit der Erlösungserfahrung der Passanacht so naheliegend wie früh bezeugt: »Denn auch wir haben ein Passalamm, das ist Christus, der geopfert ist« (1Kor 5,7). Wie einst Israel in Ägypten durch Gottes Bewahrung errettet wurde, so wissen sich die frühen Christen durch die selbstlose Lebenshingabe Christi von dem drohenden Tod befreit und zum Leben erlöst. Das vierte Evangelium ist dann voll von Hinweisen auf die Erlösungserfahrung auf dem Hintergrund der Passatradition — angefangen schon bei dem Zeugnis Johannes des Täufers: »Siehe, das ist Gottes Lamm, das die Sünde der Welt wegnimmt!« (Joh 1,29; vgl. 1,36; 2,13; 6,4; 11,55; 12,1; 18,28; 19,14.33-36). Die Bezeichnung des Gekreuzigten als »Lamm« — mit vielfachen möglichen Rückbezügen auf die alttestamentliche Überlieferung — findet sich häufig im Neuen Testament (z.B. Apg 8,32; 1Petr 1,19; Offb 5,6-14; 21,22ff).
3.4 Der Lebenseinsatz für die Seinen
Eine besondere Vielfalt von Perspektiven des Kreuzestodes Jesu findet sich im Johannesevangelium: So kann die Lebenshingabe Jesu im Gleichnis vom sterbenden und gerade darin Frucht bringenden Weizenkorn verdeutlicht werden (Joh 12,24) oder mit dem Lebenseinsatz des guten Hirten für seine Schafe: »Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben für die Schafe« (Joh 10,11; s. 10,15.17.18; vgl. Hebr 13,20). Besonders herausgestellt wird dabei der Aspekt der Hingabebereitschaft Jesu zugunsten der Seinen als des äußersten Liebeserweises: »Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde« (Joh 15,13). An seinem Leben und Sterben »für« die Menschen und den Menschen »zugute« (Joh 6,51; 10,11-15; 15,13) wird sowohl die leidenschaftliche Zuwendung und Hingabe Jesu erkennbar (Joh 13,1.34; 15,9.12; 1Joh 3,16) wie auch die Liebe seines Vaters, der ihn gesandt hat (Joh 3,16; 17,23; 1Joh 4,9f-): »Wie er die Seinen geliebt hatte, die in der Welt waren, so liebte er sie bis ans Ende« (Joh 13,1).
3.5 »Von wem redet der Prophet?«
Das zunächst unverständlich erscheinende Leiden Jesu als eines Gerechten und im Namen Gottes Sprechenden konnte im Licht des Schicksals der Propheten, die nach dem Zeugnis der jüdischen wie christlichen Bibel zu Israel gesandt waren, leichter nachvollzogen werden: »Denn es geht nicht an, dass ein Prophet umkomme außerhalb von Jerusalem« (Lk35 13,33f.; vgl. Lk 7,16.39; 24,19). Die Aufnahme der Tradition der Propheten oder des »leidenden Gerechten« dient hier nicht etwa der Reduktion des christologischen Bekenntnisses auf eine nur menschliche Gestalt. Vielmehr half die Vergegenwärtigung des Wirkens und Schicksals der Propheten, die Zusammenhänge gründlicher zu verstehen und das in jeder Hinsicht unerwartete Geschehen nachvollziehen zu können.
Dieser besseren Verstehbarkeit des zunächst Schockierenden dienen - für die mit der Heiligen Schrift vertrauten frühchristlichen Gemeinden — auch die zahlreichen Hinweise auf die Schriftgemäßheit und die Vorankündigung des Geschehens durch Gottes Verheißungen (Röm 1,2; 3,21; 1Kor 15,3f.). Damit wird für die Verunsicherten festgehalten, dass die verstörenden Ereignisse der Tötung Jesu Christi nicht Ausdruck des Wahnsinns und des Chaos sind, sondern dass die menschliche Ablehnung und Feindschaft vorausgesehen und angekündigt worden sind — das bedeutet, dass Gott somit Herr des Geschehens bleibt: »Christus ist gestorben für unsere Sünden nach der Schrift« (1Kor 15,3). So berichtet auch Lukas davon, dass der Auferstandene selbst seine zunächst unverständigen Jünger auf dem österlichen Weg nach Emmaus eingehend über die Notwendigkeit seines Leidensweges auf der Grundlage des Schriftzeugnisses orientierte: »O ihr Toren, zu trägen Herzens, all dem zu glauben, was die Propheten geredet haben! ... Und er fing an bei Mose und allen Propheten und legte ihnen aus, was in der ganzen Schrift von ihm gesagt war« (Lk 24,25-27; vgl. 24,32.44-45).
Als besonders erhellend erwies sich dabei die Wahrnehmung des unschuldigen und zunächst verkannten Leidens Jesu im Licht des vierten der »Gottesknechtslieder« im Buch des Propheten Jesaja (Jes 52,13-53,12), die nicht nur für Lukas in seiner Darstellung der Belehrung des äthiopischen Kämmerers durch Philippus (Apg 8,26-39), sondern auch für die frühen Bekenntnisformeln (Röm 4,25; 1Kor 15,3-5) und die Evangelien als alttestamentliche Kerntexte dienten (s. Mt 8,16f.; 12,17-21; Mk 1,11; 9,31; 10,45; 14,22-24 parr.; Apg 8,2639; vgl. Hebr 9,28; 1Petr 2,21-25; 3,18). Der an unserer Stelle Verworfene erweist sich schon hier als der in Wahrheit von Gott Angenommene und Bestätigte: »Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen« (Jes 53,4.5).
3.6 Sinn statt Sinnlosigkeit, Weisheit statt Torheit
Wer Menschen in einer Krise des Leidens, des Verlustes oder der Vergänglichkeit begleitet hat, weiß, dass für Trauernde und Leidende nicht nur der Sinn und Zusammenhang einer einzelnen Erfahrung in Frage steht, sondern darüber hinaus der Sinnzusammenhang und das Gesamtgefüge der Geschichte und Welt als Ganzes. Was in einschneidenden Krisen erschüttert, ist die Ausweglosigkeit und Bedrohung durch Wahnsinn und Chaos. Der zunehmende Verlust von Orientierung und Kontrolle droht den Boden unter den Füßen wegzuziehen.
In diesem Zusammenhang war es für die Frauen und Männer, die Jesus von Galiläa an bis hin zu seinem Leiden in Jerusalem begleitet hatten, von größter Bedeutung, dass sie durch die Auferstehungserscheinungen die tiefere Sinnhaftigkeit des als unsinnig erscheinenden Geschehens erkennen durften. Aus der Retrospektive der Auferweckung Jesu durch Gott erahnten sie eine »Not-Wendigkeit« aus der höheren Perspektive Gottes, eben weil das Gesamtgeschehen die Not wenden konnte. Mit der Erkenntnis des »Es musste sein!« und des »Es war notwendig!« erwies sich eine höhere Weisheit statt einer Torheit, ein tieferer Sinn statt Widersinn und eine höhere Ordnung statt Chaos: »Der Menschensohn muss viel leiden und verworfen werden von den Ältesten und Hohepriestern und Schriftgelehrten und getötet werden und nach drei Tagen auferstehen ...« (Mk 8,31). »Musste nicht Christus dies erleiden und in seine Herrlichkeit eingehen?« (Lk 24,26; vgl. Lk 9,22; 17,25; 22,37; 24,6f.; 24,25-27; 24,44; Apg 2,23). Die Antwort auf das »Warum« des Sterbens Jesu ließ die verzweifelt Fragenden also nicht mit dem Wahnsinn der menschlichen Schuld allein. Sie offenbarte vielmehr im Licht der Auferweckung des Gekreuzigten durch Gott einen tieferen Sinn, der sich nur aus dem göttlichen Erbarmen und versöhnenden Handeln erklären lässt. In dem menschlich gesehen anstößigen und sinnlosen Geschehen, das aller menschlichen Weisheit widersprach, offenbarte sich für die Gläubigen in Wahrheit eine höhere göttliche Weisheit und größere heilvolle Wirklichkeit: »Wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. Denn die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind, und die Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind« (1Kor 1,23-25; vgl. 1,18-31).
3.7 Was meint Sühne?
Bei der Vielzahl der Facetten des »Wortes vom Kreuz« ergeben sich auch für das Verstehen des geheimnisvollen Sterbens Jesu vielfältige Zugänge. Fragen wir aber nach dem tiefsten Sinn und der unausweichlichen »Notwendigkeit« des neutestamentlichen Grundbekenntnisses: »Christus ist für uns gestorben!« (Röm 5,6.8; 2Kor 5,14; 1Thess 5,10), dann kommen wir um eine letzte Vertiefung nicht herum. Dies gilt vor allem für die bei Paulus überlieferten, teilweise wohl schon traditionell vorgeprägten Aussagen zu Jesu Lebenshingabe »für uns«, »zu unseren Gunsten« (Röm 5,8; 14,15; 1Kor 1,13; 8,11; 11,23-26; 2Kor 5,14f.21; 3,13; 1Thess 5,9f.) — speziell in Verbindung mit »Dahingabe-Aussagen« (Röm 8,32; Gal 2,19f. [1. Pers. Sg.]): Gott, »der auch seines eigenen Sohnes nicht verschont hat, sondern ihn für uns alle dahingegeben hat; wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken?« Das umfassendste Verständnis des Kreuzesgeschehens ist in der Tradition zu sehen, die in der heutigen Debatte am umstrittensten ist: der Beschreibung des Sterbens Jesu als Sühnegeschehen. Dabei liegt das Hauptproblem in unserer heutigen Verwendung des Begriffs »Sühne«, bei dem wir vorrangig an Wiedergutmachung im Sinne von »Ausgleichsleistung«, »Strafe« und »Buße« denken. Die biblische — d.h. auch die alttestamentliche — Rede von der »Sühne« meint im Gegensatz dazu das Ereignis der Vergebung und Versöhnung, der Heiligung und Neuschöpfung des Menschen durch Gott selbst. Sühne bezeichnet die heilvolle Wiederherstellung der Gemeinschaft und die Neueröffnung der Gottesbeziehung. Sühne ist so verstanden nicht Strafleiden, sondern die Gabe des neuen Lebens jenseits der todbringenden Trennung. In Christus, d.h. aufgrund seiner Stellvertretung und in seiner Gemeinschaft, können die an ihn Glaubenden gewiss sein, dass sie nichts und niemand mehr von Gottes Liebe trennen kann (Röm 8,31-39).
Auch erklärt sich die für viele irritierende Rede vom »Blut« Christi nicht etwa von der Todesart der Kreuzigung her, sondern auf dem Hintergrund der alttestamentlichen kultischen Sühnetradition, wie sie in der Darstellung des großen Versöhnungstages von 3Mose 16 entfaltet wird. In Überbietung, universaler Ausweitung und ein für alle Mal gültiger Wirksamkeit hat Gott ausgerechnet durch das von Menschen herbeigeführte Sterben seines Sohnes deren Versöhnung herbeigeführt: »Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühneort in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt« (Röm 3,25).
»Blut« steht hier für das hingegebene Leben, weil — schon nach dem Verständnis alttestamentlicher Anthropologie — das Leben im Blut enthalten ist. Dies wird in den zentralen Aussagen zum Blut Christi in Röm 3,25; 5,9; Eph 1,7; 1Joh 1,7 in Aufnahme der alttestamentlichen Tradition jeweils vorausgesetzt (s. 2Mose 25,22; 3Mose 10,17; 17,11.14). Wenn die ersten Christen beim Abendmahl des »Leibes« und des »Blutes« Jesu gedachten und mit Brot und Wein seinen Leib und sein Blut, d.h. ihn selbst in ihr Leben aufnahmen, dann waren sie nicht von düsteren Gedanken bestimmt, sondern von der Freude über Gottes leibhaftige Zuwendung und Hingabe — im Leben wie im Sterben. Denn bei dem gemeinschaftlichen »Brotbrechen« und sonntäglichen »Mahl des Herrn« vergegenwärtigten sie sich in dankbarer Erinnerung, zuversichtlicher Gewissheit und freudiger Erwartung die Zusage ihres für sie gestorbenen und auferstandenen Herrn: »Der Herr Jesus, in der Nacht, da er dahingegeben wurde, nahm er das Brot, dankte und brach’s und sprach: >Das ist mein Leib, der für euch gegeben wird; das tut zu meinem Gedenken.< Desgleichen nahm er auch den Kelch nach dem Mahl und sprach: >Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut; das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedenken.< Denn sooft ihr von diesem Brot esst und aus dem Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des Herrn, bis er kommt« (1Kor 11,23-26).
3.8 Sühne als Gabe des Lebens
Die Tradition, die die Gabeworte des Abendmahls und die Kreuzestheologie des Paulus bei ihren mit der biblischen Tradition vertrauten Hörern voraussetzt, ist somit der Zusammenhang der alttestamentlichen kultischen Sühne, wie er zentrale Passagen der Heiligen Schrift des Judentums, des christlichen Alten Testamentes, prägt. Dort ist zwar nur von der Vergebung der versehentlich begangenen Sünden die Rede (4Mose 15,22—31); und beim »großen Versöhnungstag« (3Mose 16) kommt die Sühne allein dem Volk Israel — und noch nicht der ganzen Welt — zugute. Dennoch veranschaulicht das Opferverständnis dieser Texte, dass es sich bei dem Wort vom Kreuz um eine »erfreuliche Nachricht« — ein »Evangelium« — handelt. Im Gegensatz zu vielen heidnischen Opfervorstellungen wird nämlich hier für das Darbringen des »Sündopfers« vorausgesetzt, dass es Gott selbst ist, der in seiner Vergebungsbereitschaft Israel das Opfer gegeben hat (3Mose 10,17; 17,11). Nicht also der Mensch ergreift hier die Initiative, um Gott umzustimmen und ihn wieder zu versöhnen, sondern Gott schenkt dem Menschen in der Situation des selbstverschuldeten Elends die Möglichkeit des neuen Lebens und der neuen Gemeinschaft, indem er, Gott, durch die Priester die Sühnung in seinem Namen vollziehen lässt und dem Schuldigen vergibt. Nun könnte man den zentralen und wesentlichen Gedanken des Vergebungsgeschehens darin suchen, dass der Mensch von seiner Sünde getrennt wird, indem seine Schuld und der damit verbundene Schaden beseitigt werden. So sollen ja einmal im Jahr alle Verschuldungen des Volkes Israel über dem »Sündenbock« ausgesprochen und somit gleichsam auf seinen Kopf gelegt werden, sodass das Tier die ganze Last der Sünde aus der Gemeinschaft fortträgt — hinaus in die von Menschen unbewohnte Wüste (3Mose 16,20—22). Doch geht es bei der Vergebung durch Gott um viel mehr als nur darum, ein Übel zu beseitigen und von einer Last zu trennen. Dementsprechend ist auch dieses »In-die-Wüste-Schicken« der Sündenschuld — als ein Ritus von mehreren — eingebettet in das umfassende Gesamtgeschehen des großen Versöhnungstages, zu dem vor allem auch die Sündopfer gehören.
Für die Darbringung des Sündopfers wird als Bestimmungsort aber gerade nicht die Wüste angegeben, sondern der Bereich des Heiligen im Tempel in der Stadt Jerusalem: der Brandopferaltar (3Mose 4,22—31), der Vorhang vor dem Heiligen (4,1-21) und einmal im Jahr sogar der ansonsten unzugängliche »Gnadenthron« bzw. »Gnadenstuhl« — dieser biblische Begriff bezeichnet den Ort der Sühne im Allerheiligsten des Jerusalemer Tempels, einer Fläche über der Bundeslade (und später an deren Stelle) als dem Ort einer besonderen Präsenz Gottes (I6,1ff.). Indem der Hohepriester das Blut des Tieres an dieses »Sühnmal« sprengt, wird es in Kontakt zu dem Platz gebracht, an dem Gott selbst erscheinen will (16,2), um Israel in seinem Repräsentanten zu begegnen und mit ihm zu reden (2Mose 25,22). In Gestalt des Blutes aber kommt das Leben des Tieres mit dem Ort der Gegenwart und Offenbarung Gottes in Berührung. Der tiefe Sinn dieser uneingeschränkten Berührung mit dem Heiligen und dieser Lebenshingabe an Gott wird erkennbar, wenn wir das andere Element der Opferhandlung beachten. Bevor nämlich das Tier geschlachtet wird, legt derjenige, der wegen seiner Sünde das Opfer darbringt, seine Hand auf den Kopf des Tieres (3Mose 4,22—31). Durch dieses Handauflegen wird nicht nur — wie beim Sündenbock — etwas auf das Tier abgeladen, sondern der Opfernde überträgt sich selbst. Denn was an dem Tier stellvertretend — d.h. zugunsten des Menschen und an seiner Stelle — vollzogen wird, betrifft nicht nur einzelne Aspekte seiner Person, sondern ihn selbst in seinem ganzen Sein. Es soll nicht nur etwas an seiner Situation verändert werden, sondern er selbst soll durch die Sühne wesentlich erneuert werden. So ist es schon im Rahmen der alttestamentlichen Tradition das Geheimnis der von Gott geschenkten Sühne, dass sich der schuldig gewordene Mensch mit dem Tier und seinem Geschick identifizieren darf, damit das Sterben des Tieres als sein Sterben gilt und die Hingabe des Lebens an das Heilige ihn selbst mit Gott in »Berührung« bringt.
In dem Geheimnis des »Sündopfers« vollzieht sich also, was eigentlich als unmöglich erscheint: Derjenige, der durch seine Trennung von dem Leben und der Liebe sein eigenes Leben verspielt hat und sich selbst aus der lebendigen Gemeinschaft mit Gott und mit anderen Menschen ausgeschlossen hat, wird durch »seinen« Tod hindurch hineingenommen in ein neues Leben, er wird »entsündigt« und versöhnt mit Gott.
3.9 Mit Christus gekreuzigt?
Erkennen wir, dass die frühen Christen die Bedeutung des Kreuzesgeschehens auf dem Hintergrund dieser besonderen Sühnevorstellung ihrer Heiligen Schrift, unseres Alten Testaments, erkannt haben, dann werden die Zusammenhänge der neutestamentlichen Kreuzestheologie auch für uns leichter verständlich und ihre Folgerungen verstehbar. »In Christus« hat Gott die endgültige Sühne vollzogen, indem er nicht nur sein Volk, sondern die ganze Welt (2Kor 5,19; Röm 1,16; 3,30; Gal 3,28), nicht nur die versehentlichen Übertreter des Gesetzes, sondern alle Menschen als »Gottlose« (Röm 4,5; 5,6), d. h. als willentliche »Sünder« (Röm 3,9.19.23; 5,8), mit sich versöhnt hat.
Lange bevor sich die Gläubigen mit ihrem Stellvertreter »identifizieren« konnten, d.h., lange bevor sie Christus durch den Glauben als ihren Stellvertreter erkannt und als Herrn anerkannt haben, hat Jesus Christus seinerseits schon seine Hand auf diese Welt gelegt, um so mit ihnen in allem ganz eins zu werden — genauso wie das Opfer und der Opfernde im Sühnekult identisch werden. Aufgrund dieser Identifikation wurde er den Sündern am Kreuz gleich — er wurde für sie »zur Sünde« (2Kor 5,21), »zum Fluch« (Gal 3,13). Er starb für sie den Tod, der Folge ihrer Trennung vom Leben war. Damit aber ist auch sein Geschick zu dem ihren geworden, denn was an dem Opfer stellvertretend vollzogen wird, gilt ja entsprechend für den zu versöhnenden Menschen. In diesem Sinne sind sie, als Christus für sie und an ihrer Stelle starb, alle zugleich »mit ihm gestorben« (2Kor 5,14) und an seinem Kreuz »mit ihm gekreuzigt worden« (Gal 2,19 f.; Röm 6,1 ff.).
Aber im Kreuzesgeschehen ereignete sich noch wesentlich mehr. Schon bei der kultischen Sühne war der Opfervorgang mit dem stellvertretenden Sterben ja keineswegs beendet und abgeschlossen. Vielmehr wurde die eigentliche Sühne dadurch vollzogen, dass das Blut — als das stellvertretend dahingegebene Leben — mit dem Bereich des Heiligen in Berührung kam und somit der Mensch selbst — jenseits »seines« Sterbens — zu einem neuen Leben in Gottes Gegenwart gelangte. Wie es aber schon bei der kultischen Sühne nicht nur um die Beseitigung einzelner Sünden, sondern um die Überwindung der Sünde — nämlich der Trennung von Gott — ging, so sollte auch die stellvertretende Lebenshingabe Christi nicht im Tod als der endgültigen Trennung vom Leben enden.
Entsprechend ist gerade dies die entscheidende Grundlage des christlichen Glaubens, dass Gott diesen »für uns« gekreuzigten Jesus durch »unseren« Tod hindurch hineingenommen hat in die Gemeinschaft seines Lebens (Röm 4,24; 10,9). Denn Christus ist nicht nur »um unserer Sünden willen dahingegeben«, sondern auch »um unserer Rechtfertigung willen auferweckt« (Röm 4,25); er ist für uns gestorben und auferstanden, damit wir »nicht mehr uns selbst leben«, sondern dem, der uns durch seine Liebe gewonnen hat für sich und die Gemeinschaft mit dem Vater (2Kor 5,14f.; Gal 2,20; Röm 7,4; 14,7-9). »In Christus« — durch seine Stellvertretung und in seiner Gemeinschaft — haben die Gläubigen jetzt schon teil an seinem Leben (Röm 6,4ff.; Gal 2,20) und sind in ihm schon jetzt ein Teil der »neuen Schöpfung« (2Kor 5,17). In Christus werden sie auch durch ihr leibliches Sterben die von ihm eröffnete Gemeinschaft nicht verlieren, sondern in ihrer Auferstehung wie er teilhaben an Gottes ewigem Leben (lThess 4,14; Röm 8,11; 14,7-9).
3.10 Nicht denknotwendig, aber heilsnotwendig »für uns gestorben «?
Um auf die anfängliche Unterscheidung zurückzukommen: Beansprucht die christliche Kreuzestheologie für sich, entsprechend menschlicher Vernunft und allgemeiner historischer Plausibilität »denknotwendig« zu sein? Es fällt heute gewiss schwer, die Not-Wendigkeit des Sterbens und der Auferstehung Jesu zu erklären. Man muss nicht erst das kultische Geschehen und die alttestamentlichen Opferriten als fremd empfinden, um dem »Wort vom Kreuz« mit Fragen und Zweifeln zu begegnen. Der Gedanke, dass Gott selbst in seinem Sohn in diese Welt gekommen ist, um stellvertretend »für uns« den Tod zu erleiden, hat von Anfang an auch Anstoß erregt (1Kor 1,18.23).
Der Anspruch des Evangeliums ist nicht, dass es etwas verkündet, was »selbstverständlich« ist, sondern vielmehr, dass es etwas »Unerhörtes« mitteilt: »was kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat ...« (1Kor 2,9). So sehr das Wort von der Versöhnung auch mit Hilfe ursprünglich ganz selbstverständlicher jüdischer, alttestamentlicher Traditionen und Verheißungen entfaltet und erklärt werden kann, so wenig wird es von den ersten Christen selbst als das Ergebnis rein logischen Denkens und als das Produkt menschlicher Weisheit beschrieben (1Kor 1,18-2,16). Im Gegenteil, es ist das von Gott selbst aufgerichtete (2Kor 5,19), von ihm offenbarte Wort (Gal 1,1.11f.; 2Kor 4,6), das nach menschlichen Kriterien durchaus als »Torheit« erscheint (1Kor 1,18ff.). Grundlegend für den Glauben ist also, dass das Kreuz Christi als heilsnotwendig erkannt wird — nicht als denknotwendig.
Nach Gottes Weisheit hat das menschlich gesehen sinnlose, ja widersinnige Ereignis der Hinrichtung des Gottessohnes durch Menschen einen Sinn, den Menschen ihm weder geben noch von sich aus in ihm erkennen können. Auf Seiten der Menschen offenbart das Kreuzesgeschehen eine gewaltige Feindseligkeit und große Schuld, auf Seiten Gottes aber eine noch größere Versöhnungsbereitschaft und überwältigende Liebe. Man kann die Frage bedenken, ob es denn für Gott keinen anderen Weg hätte geben können, die Welt zu versöhnen, als ausgerechnet durch seine eigene Menschwerdung und Lebenshingabe bis ans Kreuz. Sie bleibt aber zwangsläufig spekulativ. Die ersten Kreuzestheologen verstanden sich nicht als Vor-denker des Gekreuzigten — sie dachten den Worten des Auferstandenen nach. Das Wort vom »für uns gestorbenen« und von Gott auferweckten Gekreuzigten macht nämlich »nachdenklich«!