Für uns gestorben
Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015
Geleitwort
Das Kreuz steht für das Christentum. Es ist Symbol für alles, was christlicher Glaube und christliche Kirche bedeuten. Schon der Apostel Paulus wollte nichts anderes verkündigen als das »Wort vom Kreuz« (1Kor 1,18), wohl wissend um das Ärgernis und die Torheit dieses Wortes. Von allem Anfang an sorgte es für Diskussion und Streit — durch Kritiker von außen, aber auch oft in der Kirche selbst. Der Streit führt zurück auf die Frage nach dem, worum es beim Kreuz geht: den Glauben, dass in Kreuz und Auferstehung Jesu Gott selbst dem Menschen auf heilvolle Weise nahegekommen ist.
Viele Kritiker innerhalb und außerhalb der Kirche nehmen an der Vorstellung von der Heilsbedeutung des Kreuzes Anstoß, weil es dabei um Gewalt geht. Sie fordern eine Selbstreinigung der Kirche und Abkehr von diesem Glauben. Dass Gott seinen Sohn hat sterben lassen, um unsere Sünden zu vergeben, erscheint ihnen als Akt der Willkür und Brutalität. Die Kritik richtet sich besonders gegen die alte, in der Geschichte der Kirche so wirksam gewordene Satisfaktionslehre des mittelalterlichen Theologen Anselm von Canterbury, die gern so zusammengefasst wird, als habe Christus sterben müssen, um Gottes Zorn zu besänftigen und ihm Genugtuung zu verschaffen. Bis in die Gegenwart hinein bezieht sich die Ablehnung des Kreuzes vor allem auf diese Vorstellung, auch wenn sie so kaum mehr vertreten wird. Sie erscheint unvereinbar mit einem friedensfähigen Christentum und dem Glauben an einen liebenden Gott.
Neuere Untersuchungen zu Anselm zeichnen demgegenüber ein differenzierteres Bild seiner Theologie. Vor allem aber übersieht die Kritik am Opfertod Jesu einen entscheidenden Punkt. Denn Gott opfert im Kreuzestod Jesu nicht einen anderen, um seine Rachesucht zu befriedigen, sondern in Jesus Christus gibt er sich selbst hin, um die Menschen zu versöhnen. Die Gewalt geht nicht von Gott aus. Gott wird vielmehr selbst zum Opfer und liefert sich menschlicher Feindschaft und menschlichem Hass aus. Nicht die Legitimierung der Gewalt, sondern ihre Überwindung durch Liebe und Vergebung ist das Ziel.
Gleichzeitig eröffnet die Vorstellung vom Sühnopfertod Jesu Christi eine neue Perspektive auf ein Problem, das eigentlich unlösbar scheint: Es geht um die Spannung zwischen Liebe und Gerechtigkeit Gottes. Die von ihren biblischen Quellen her verstandene Sühnopfervorstellung ermöglicht eine — wie ich finde — faszinierende Antwort, wie ich sie nirgendwo anders finde: Gott lässt die Sünde der Menschen, all das Unrecht, das damit verbunden ist, nicht ungesühnt. Aber er sagt: ich nehme die Strafe selbst auf mich. So mündet seine Gerechtigkeit in unermessliche Liebe, die uns frei macht von Unrecht und Schuld.
Christliche Theologie steht vor der Aufgabe, das Verständnis der Liebe Gottes im Kreuz immer wieder neu zu erklären und zu entfalten. Der vorliegende Text »Für uns gestorben« tut dies in vorbildlicher Weise und schlägt einen weiten Bogen. Er hilft den Reichtum christlicher Tradition im Blick auf den Kerngehalt evangelischen Glaubens zu entdecken. Biblische Besinnung, theologisches Nachdenken, Passionsfrömmigkeit im Wandel der Zeit, Deutungen der Kunstgeschichte und Rezeptionsspuren in der Gegenwartskultur ermöglichen eine mehrdimensionale Betrachtungsweise. Vor allem aber wird die zu Recht kritisierte Deutungsfigur eines zornigen, seinen Sohn opfernden Gottes überwunden durch eine klare Interpretation der Sühnopfertheologie, die die Liebe und Vergebungsbereitschaft Gottes ins Zentrum stellt. Jede Kritik, die den Anspruch erhebt, auf der Höhe aktueller theologischer Deutungen zu stehen, muss sich mit diesem Verständnis auseinandersetzen, statt sich gegen Zerrbilder der anselmschen Satisfaktionslehre zu richten, die das Bild eines rachesüchtigen und gewalttätigen Gottes zeichnen.
Im vorliegenden Text kommt der reformatorischen Theologie und Frömmigkeit eine zentrale Bedeutung zu. Das soll mit Blick auf das bevorstehende Jubiläum »500 Jahre Reformation 2017« eigens hervorgehoben werden. Auf dem Weg zu diesem Datum erscheint mit »Für uns gestorben« ein weiterer Grundlagentext theologischer Orientierung und Besinnung. Dieses Buch ist nicht nur an Christinnen und Christen in der Evangelischen Kirche adressiert, sondern ist ein Gesprächsangebot an alle, die nach Bedeutung und Sinngehalt des christlichen Glaubens fragen, auch dann, wenn sie diesen nicht teilen oder ihm sogar ablehnend gegenüberstehen.
Der Text wurde im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland von der Kammer für Theologie der EKD unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Dres. h.c. Christoph Markschies erarbeitet. Der Rat dankt der Kammer herzlich für ihre Arbeit.
»Für uns gestorben« erscheint in der Passionszeit — einer Zeit, in der Christinnen und Christen traditionell des Leidens und Sterbens Jesu Christi gedenken. Das Kreuz ist das christliche Zeichen der Menschenfreundlichkeit Gottes und der Versöhnung der Welt. Das macht seine Aktualität aus und hat politische Sprengkraft. Es darf aus christlicher Sicht keinen Zweifel geben, dass jegliche Menschenfeindlichkeit — sei es im Namen wiedererwachender Nationalismen oder auch im Zuge wachsender Konflikte zwischen den Religionen — inakzeptabel und unvereinbar mit dem christlichen Glauben ist. Man muss dazu nur die Worte im Philipperbrief des Apostels Paulus lesen, die auf den berühmten Hymnus über die Selbstentäußerung Jesu Christi am Kreuz hinführen.
»Ist nun bei euch Ermahnung in Christus, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit, so macht meine Freude dadurch vollkommen, dass ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmütig und einträchtig seid. Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus entspricht. Er, der in göttlicher Gestalt war... erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz« (Phil 2,1-8)
In diesem Sinn wünscht der Rat der EKD dem Text eine intensive Aufnahme und weite Verbreitung.
Hannover, im März 2015
Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm
Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland