Das syrische Christentum
Eine Konfession – viele Traditionen
Für die meisten irakischen Christen liegen die Wurzeln ihres Glaubens im syrischen Christentum.
Nach allen Krisen und Kriegen grenzt es an ein Wunder, dass das syrische Christentum mit all seinen unterschiedlichen Traditionen überlebt hat. Dafür gibt es neben der Gottesvorsehung zwei Gründe: Vorbilder im Glauben und die in Handschriften reich überlieferte Glaubensliteratur.
Zur Entstehung des syrischen Christentums
Die Apostelgeschichte erzählt: Als die Jünger Christi aus Jerusalem weggingen, um den
neuen Glauben zu verkünden, war Antiochien, die damalige Hauptstadt Syriens, einer der
wichtigsten und ersten Missionsorte. In Antiochien nannte man die Jünger zum ersten Mal
„Christen", heißt es in der Apostelgeschichte (Apg 11,26).
Der Großraum Syrien umfasste damals die heutigen Staaten Israel und Palästina, Jordanien, Libanon, Syrien, Teile der Türkei und des Irak. Er reichte von der Mittelmeerküste bis zum Tigris, vom Persischen Golf bis nach Nord-Mesopotamien. Hier entstanden wichtige Zentren der syrischen Kirche und bischöfliche Strukturen. Missionarisch waren die ersten Christen von Ägypten bis ins Persische Reich tätig, sogar bis nach Afghanistan, Indien und China gingen sie.
Das Mönchtum hatte seinen Ursprung zwar in Ägypten, das organisierte Mönchtum formierte sich aber im antiken Syrien. Klöster waren nicht nur Orte der Anbetung, sondern auch Lehrstätten. Die Wissbegierigen suchten sie auf, um ihren Wissensdurst zu stillen. Für das Studium der Theologie, Philosophie und andere Wissenschaften lernten sie die griechische und syrisch-aramäische Sprache. Die Bibel wurde sehr früh übersetzt.
Liturgie wird zu einem Fest der Sinne
In den syrischen Klöstern entstanden umfangreiche liturgische Werke. Die Kirchenväter legten die Bibel in Dichtung, Gebet, Melodie und Exegese aus, was seinen Niederschlag in Gebetsschriften fand wie im Stundengebet der Wochentage, in den großen Stundengebetsbüchern für alle Sonntage und Feiertage, sowie in Gebetsbüchern für sämtliche sakramentale liturgische Anlässe. So kommt die gesamte Heilsgeschichte das ganze Jahr hindurch zur Entfaltung.
Dieses liturgische Gerüst war eine Zuflucht in Zeiten der Bedrängnis und Verfolgung. Nicht nur die gesungenen und gebeteten Texte vermitteln den Glauben, auch die Zeichen und die Symbolik in der Liturgie geben ihm einen lebendigen Ausdruck. Es ist ein Fest der Sinne.
Eine Geschichte von Verfolgung und Martyrium
Der zweite Aspekt, der tief im Gedächtnis der syrischen Kirche verankert ist, sind Verfolgung und Martyrium. Fast während ihrer ganzen Geschichte lebte sie unter fremder Herrschaft, zunächst unter der Herrschaft der Griechen und dann der muslimischen Araber, die ihre Sprache nach und nach im syrischen Raum durch das Arabische verdrängten. Dennoch war sie lange eine starke Kirche. Erst als am Ende des 13. Jahrhunderts aus Zentralasien die Mongolen eindrangen, die sich zum Islam bekehrten und ihn weniger tolerant als die Araber auslegten, wurde sie stark geschwächt. Der Mongolenführer Timur Lenk wurde um 1400 zum Todfeind des Christentums. Die Syrisch-Orthodoxe Kirche schrumpfte zu einer kleinen Glaubensgemeinschaft zusammen.
Das Osmanische Reich und der Genozid von 1915
Auch die 400 Jahre Osmanische Herrschaft verlangte den orientalischen Christen viel ab. Zum Teil waren sie den lokalen Feudalherrschern ausgeliefert und mussten viele zusätzliche Abgaben leisten. Als das Osmanische Reich zerfiel, verübten die Jungtürken 1915 einen brutalen Genozid an den indigenen Christen. Dabei wurden viele Diözesen der armenisch-apostolischen und syrisch-orthodoxen Christen ausgelöscht. Die Schutzgebiete, in denen sie unbehelligt weiterleben konnten, wurden kleiner. Viele verließen ihre Heimat, um sich anderswo eine Zukunft aufzubauen.
Nach dem Niedergang des Osmanischen Reiches konnten die Christen in den neu entstandenen Ländern Syrien und Irak zwar Schulen aufbauen, die sie für Menschen aller Religionen öffneten. So spielten sie eine wesentliche Rolle innerhalb der Gesellschaften. Bei der freien Meinungsäußerung waren ihnen aber enge Grenzen gesetzt, nicht nur gegenüber den Funktionären des jeweiligen Regimes, sondern auch gegenüber der muslimischen Mehrheitsgesellschaft. Ein offener Dialog über Fragen des Glaubens oder über Weltansichten war schwierig. Ihr Leben beschränkte sich auf das stumme Zeugnis.
Irakische Christen im 21. Jahrhundert
Obwohl die Christen seit 2000 Jahren tief verwurzelt im Irak sind und ihre verbliebenen Klöster, Kirchen und Handschriften ein lebendiges Zeugnis von ihrer Geschichte in dieser Region geben, taucht ihre Geschichte im irakischen Lehrplan nicht auf. Jungen Christinnen und Christen, die sich in der Tradition ihrer Kirche sehen, wird damit signalisiert: Ihr gehört nicht dazu.
Im Juni 2014 eroberte der IS Mossul und forderte die dortigen Christen auf, die Stadt binnen 48 Stunden zu verlassen, ohne etwas mitzunehmen, oder zum Islam zu konvertieren. Ansonsten drohte ihnen die Exekution. Knapp 50.000 christliche Bürger verließen Mossul. In Erbil, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, kamen sie anfangs in notdürftigen Flüchtlingslagern unter. Diese Erfahrung der Vertreibung und des Verlusts allen Besitzes hat sie für immer gezeichnet.
Als wäre man nackt im Niemandsland
Noch viel schlimmer wog aber der Verlust ihres geistlichen Erbes. Kirchen waren entweiht und zerstört worden, alte Handschriften für immer verloren gegangen. Für die Christen war es, als würden sie nackt im Niemandsland stehen, ohne eigene Identität. Viele begannen ihre Auswanderung zu planen, koste es, was es wolle.
In Deutschland zeigte mir ein christlicher Flüchtling Bilder seines Hofes in der Niniveh-Ebene, wo er und seine Familie gelebt hatten. Weinstöcke, Oliven- und Granatapfelbäume gab es dort. Das Haus hatte mehrere Zimmer. In Berlin bewohnte er mit seiner Frau und drei Kindern anderthalb Zimmer. Trotzdem sagte er, er sei hier glücklicher, als wenn er geblieben wäre. Er fühle sich sicher, habe keine Angst um sich und um die Zukunft seiner Kinder.
Die politische Lage für Christen und andere Minderheiten im Irak ist alles andere als beruhigend. Das gilt für den ganzen Nahen und Mittleren Osten. Und der Verlust religiöser und ethnischer Vielfalt schmerzt nicht nur die Christen. Auch die Liberalen unter den Muslimen geraten zunehmend unter Druck der Radikalen.
Lassen Sie uns beten und uns dafür einsetzen, dass die Christen in der Heimat ihrer Vorfahren ausharren und als stumme Zeugen ihren Glauben weiter in ihrer Gesellschaft leben können.
Amill Gorgis,
Ökumene-Beauftragter der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Berlin