Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel Europa - Informationen Nr. 154

EuGH urteilt über humanitäre Visa

Rebecca Laubach

Am 7. März 2017 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Vorabentscheidungsverfahren C-638/16 entschieden, dass ein EU-Mitgliedsstaat nicht verpflichtet ist, ein Visum aus humanitären Gründen an Schutzsuchende nach Art. 25 Abs. 1 a) Visakodex zu gewähren.


Geklagt hatte eine fünf-köpfige syrische Familie aus Aleppo, die am 12. Oktober 2016 im Libanon an der belgischen Botschaft Anträge auf ein solches humanitäres Visum gestellt hatte, um für die Asylantragsstellung legal nach Europa reisen zu können. An Folgetag kehrten sie wieder nach Syrien zurück. Am 18. Oktober 2016 wurden die Anträge mit der Begründung, die Antragsteller hätten offensichtlich nicht vor, Belgien innerhalb der 90-tätigen Gültigkeit des Visums wieder zu verlassen, abgelehnt. Art. 25 Abs. 1 a) Visakodex räumt den Mitgliedsstaaten das Recht ein, Visa, die auf einen Mitgliedsstaat territorial-begrenzt sind, unter anderem aus humanitären Gründen zu erteilen. Der EuGH musste nun klären, ob ein Mitgliedsstaat verpflichtet ist, ein solches Visum zu erteilen, wenn sonst die Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 4 (Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung) oder 18 (Asylrecht) EU-Grundrechtecharta droht.
Dem Verfahren war von verschiedenen Seiten eine hohe Bedeutung zugeschrieben worden, hätte doch eine Entscheidung zugunsten der Kläger, einen legalen Weg zur Einreise nach Europa eröffnet, um hier einen Asylantrag zu stellen. Insgesamt 14 Mitgliedsstaaten, darunter Deutschland, äußerten sich ebenso wie die Europäische Kommission gegen eine solche Auslegung. Dementsprechend kam den Schlussanträgen des Generalanwalts M. Paolo Mengozzi vom 7. Februar 2017 hohe Aufmerksamkeit zu. Dieser argumentierte, dass der Visakodex in Verbindung mit der Grundrechtecharta zu einer Verpflichtung des Mitgliedsstaates zur Erteilung eines solchen Visums führe. Die Natur des Visums ändere sich nicht dadurch, dass es begründete Zweifel an der Absicht der Antragsteller gebe, das Land wieder zu verlassen. Die Kläger hätten auch nicht einen Antrag auf ein Visum für einen längeren Zeitraum als drei Monate stellen müssen, da ihr Aufenthaltsrecht sich ab dem Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags aus ihrem Status als Asylantragssteller ergebe. Das Merkmal "humanitäre Gründe" des Art. 25 Visakodex erfasse auch eindeutig die Notwendigkeit dem bewaffneten Konflikt und der blinden Gewalt in Syrien, gerade in Aleppo, zu entfliehen. Sonst wäre das Merkmal jeglichen Sinns beraubt. Da im vorliegenden Fall offensichtlich sei, dass den Klägern in Syrien Folter und unmenschliche Behandlung nach Art. 4 Grundrechtecharta drohten, hätte Belgien in diesem Fall bei der Erteilung der Visa auch kein Ermessen.


Während die Mitgliedsstaaten und die EU-Kommission über die Schlussanträge den Kopf schüttelten, begrüßten NGOs wie Pro Asyl sowie Kirchenvertreter die Anträge. So sagte die Leiterin des Brüsseler EKD-Büros Katrin Hatzinger dem Evangelischen Pressedienst (epd), "Im Asylbereich wäre es ein wegweisendes Urteil, wenn auch die Richter des EuGH sich dem Gutachten anschlössen." Während von der EU derzeit viel dafür getan werde, Menschen abzuschrecken, nehme Generalanwalt Paolo Mengozzi "die EU-Grundrechtecharta beim Wort".


Doch das Urteil fiel ernüchternd aus. Der EuGH befand, dass der Visakodex vorliegend nicht anwendbar sei. Der Visakodex sei auf Grundlage von Art. 62 Nr. 2 a) und b) ii.  des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft erlassen worden, der es dem Ministerrat erlaube, Maßnahmen über Visa für geplante Aufenthalte von höchstens drei Monaten zu beschließen. Entsprechend definiere auch Art. 1 Visakodex "Visum" unter anderem als eine von einem Mitgliedsstaat erteilte Genehmigung für einen geplanten Aufenthalt in dessen Gebiet von höchstens 90 Tagen je Zeitraum von 180 Tagen. Die Kläger im Ausgangsverfahren hätten jedoch die Absicht, in Belgien Anträge auf Asyl zu stellen und dort dauerhaft zu bleiben. Auch wenn ihre Anträge formal auf Grundlage von Art. 25 Visakodex gestellt worden seien, fielen diese wegen Art. 1 Visakodex nicht in dessen Anwendungsbereich. Die belgischen Behörden hätten die Anträge somit fälschlicher Weise als Anträge auf Visa nach Art. 25 Visakodex eingestuft. Die Anträge unterfielen somit nicht dem Unionsrecht, sodass auch die Grundrechtecharta nicht anwendbar sei. Maßgeblich in diesem Verfahren sei mithin allein das nationale Recht.
Der EuGH unterfütterte seine Entscheidung darüber hinaus damit, dass humanitäre Visa der Systematik des Dublin-Systems widersprechen würden. Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass auch die politische Sprengkraft, die ein anderes Urteil gehabt hätte, den EuGH zu diesem Urteil bewegt hat. Aus menschlich-rechtlicher und christlicher Sicht wäre es zu begrüßen gewesen, wenn über humanitäre Visa ein legaler Weg zur Einreise in die EU und damit ein sicherer Zugang zum Asylverfahren geschaffen worden wäre. Doch auch die vom EuGH getroffene Entscheidung hat politische Auswirkungen. Die Debatte rund um die Verstärkung des humanitären Visums im Rahmen des europäischen Gesetzgebungsprozesses rund um den Visakodex (EKD Europa-Informationen Nr. 150) erfährt durch die Begründung des EuGH nun einen abrupten Abbruch.

 

Das Urteil des EuGH finden Sie hier:

http://ekd.be/2ppa1uU

 

Die Schlussanträge des Generalanwalts finden Sie hier:

http://ekd.be/2oMwuhx

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