Vom Aussterben bedroht
Minderheiten im Irak
Früher haben im Irak Menschen aus verschiedenen Völkern und Religionen gelebt. Von dem Miteinander der Völker und Religionen ist heute nicht mehr viel übrig.
Der Irak hat eine Jahrtausende lange Geschichte, in der Menschen aus verschiedenen Völkern und Religionen neben- und miteinander gelebt haben. Sie haben sich gegenseitig beeinflusst und geprägt. Und langfristig hat eben diese Vielfalt zu einem kulturellen Reichtum geführt, auf den das Land zu Recht stolz sein kann.
Heute ist von diesem fruchtbaren Miteinander der Völker und Religionen nicht mehr viel übrig. Die Vielfalt ist bedrohter denn je. Zwar gab es auch in früheren Zeiten Verfolgungen, Pogrome und Massaker an Angehörigen von Minderheiten. So stark vom vollständigen Verschwinden bedroht wie heute waren kleine Glaubensgemeinschaften im Irak aber noch nie.
Alle Jüdinnen und Juden sind ausgewandert
Seit der Mitte des letzten Jahrhunderts sind alle Jüdinnen und Juden im Land verschwunden. Dabei war das irakische Judentum lange Zeit die älteste und religionsgeschichtlich bedeutsamste jüdische Gemeinschaft der Welt. Ihre Wurzeln und Zeugnisse reichten bis in die babylonische Gefangenschaft im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Noch in den 1940er Jahren bildeten sie mit 135.000 Gläubigen etwa drei Prozent der damaligen Gesamtbevölkerung. Heute sind alle ausgewandert, die meisten nach Israel.
Auch andere religiöse Minderheiten sind im Laufe der letzten Jahrzehnte immer kleiner geworden. So hatte das Mandäertum, eine der ältesten, monotheistischen Religionen der Welt, in der Johannes der Täufer und die rituelle Reinigung in fließendem Wasser zentrale Rollen spielen, 2003 noch 60.000 Mitglieder im Irak. Heute sind es noch 5.000.
Immer wieder Verfolgung ausgesetzt
Hierzulande sind der Genozid an den Jesiden im Sindschar und die Vertreibung der Christen aus der Niniveh-Ebene durch den Islamischen Staat 2014 noch in Erinnerung. Im Gegensatz zu den Christen hatten die Jesiden nicht einmal die Wahl, zum Islam zu konvertieren oder zu fliehen. 10.000 Menschen wurden in wenigen Tagen getötet, einfach nur, weil sie Jesiden waren. Das ist ein Prozent aller Jesiden weltweit. (Hochgerechnet auf das weltweite Christentum wären dies mehr als 20 Millionen Christinnen und Christen.) Für das Jesidentum war der Genozid von 2014 nicht der erste. Die jesidische Glaubensgemeinschaft zählt ihn als 74. Genozid in ihrer Geschichte.
Auch die assyrisch-aramäischen Christen haben in ihrer Geschichte immer wieder Pogrome und Verfolgungen erlitten. So waren sie vom Genozid an den Christen im Osmanischen Reich 1915 bis 1918 betroffen. Wer überlebte, wurde aus der Südosttürkei vertrieben und floh in den Nordirak, wo sie mitnichten mit offenen Armen empfangen wurden. 1933 wurden Tausende von ihnen bei dem Massaker von Semile, einem Dorf im Nordirak, ermordet. Wer fliehen konnte, ging nach Syrien ins Khabour-Tal. Dort wurden ihre Nachfahren 2014 vom Islamischen Staat drangsaliert und vertrieben.
Unter Saddam Hussein (1979-2003) wurden assyrisch-aramäische Christen im Irak nur geduldet, wenn sie ihre ethnische Zugehörigkeit verleugneten und sich als Araber bezeichneten. Nach der US-Invasion 2003 wurden sie der Kollaboration mit den Amerikanern beschuldigt, nur weil sie der gleichen Religion angehörten wie die Invasoren. Und 2014 brachte der Islamische Staat Angst und Schrecken über die christliche Minderheit im Irak.
Zwar leiden unter Krisen und Kriegen in der Regel alle gleichermaßen, entschließt sich aber eine Familie aus einer Minderheit zur Auswanderung, so reißt sie innerhalb ihrer kleinen Glaubensgemeinschaft ein größeres Loch, als wenn eine Familie aus der großen Mehrheitsbevölkerung die Koffer packt.
Sind Minderheiten erst einmal ausgestorben, geraten sie gerne in Vergessenheit. Dann erinnern nur noch ihre Kultstätten an ihre einstige Präsenz. Einen Einfluss auf die Fortentwicklung der Gesellschaft können sie aber nicht mehr nehmen.
Katja Dorothea Buck