Europa - Informationen Nr. 158
Im Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und dem Arbeitnehmerschutz: Die Schlussanträge des EuGH im Chefarzt-Fall
Damian Patting
In der Rechtssache C-68/17 (hierzu bereits EKD-Europa-Informationen Nr. 157) hat der belgische Generalanwalt Melchior Wathelet seine Schlussanträge vorgelegt. Er hatte dafür − wie in der mündlichen Verhandlung bereits angekündigt − den Ausgang der Rechtssache C-414/16 („Egenberger“) abgewartet. Es galt die Frage zu klären, wie sich der durch Rechtsakte und Rechtsprechung der Union umfassend flankierte Diskriminierungsschutz mit dem deutschen kirchlichen Arbeitsrecht als Bestandteil des Staatskirchenrechts auf Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Kirchen in Art. 140 des Grundgesetzes (GG) i. V. m. Art. 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) vereinbaren lässt.
In tatsächlicher Hinsicht dreht sich der Rechtsstreit um die Frage, ob die Kündigung eines katholischen Chefarztes nach Wiederheirat gegen das unionsrechtliche Diskriminierungsverbot verstößt. Ausgangspunkt ist die Beschäftigungsrahmen-Richtlinie (2000/78/EG) (im Folgenden: RL). Diese sieht in Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL vor, dass eine Diskriminierung wegen Religion dann ausscheidet, wenn die Religion eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. In diesem Falle kann den Beschäftigten als besondere Pflicht auferlegt werden, sich „loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation“ zu verhalten.
Mit der EuGH-Vorlage wollte das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Kern wissen: Ist Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL dahin auszulegen, dass die katholische Kirche bestimmen kann, bei einem an einen leitenden Arbeitnehmer gerichteten Verlangen nach loyalem und aufrichtigem Verhalten zwischen Beschäftigten zu unterscheiden, die der jeweils entsprechenden Kirche, einer anderen Kirche oder keiner Kirche angehören?
Dafür sind in einem ersten Schritt Zweck und Reichweite der Bereichsausnahme von Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL und der Umfang des Anwendungsbereiches von Art. 17 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) zu klären. Bejahendenfalls stellt sich erst in einem zweiten Schritt dann die Frage, ob hier eine Diskriminierung vorliegt.
Im Hinblick auf die Frage des Anwendungsbereiches vertritt die Bundesregierung in dem Verfahren die Ansicht, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bilde als Umsetzungsakt der Richtlinie den alleinigen Maßstab. Art. 4 Abs. 2 RL beinhalte nach Wortlaut und Zweck eine Klarstellung, dass nationales Recht nicht beeinträchtigt werden dürfe. Zu dem Ergebnis komme auch die historische Auslegung: Der zweite Unterabs. im Art. 4 Abs. 2 RL sei nachträglich mit der Intention eingefügt worden, eine umfassende Ausnahme der Kirchen vom Diskriminierungsschutz zu erreichen. Demnach könne ein kirchlicher Arbeitgeber schon deshalb nicht in Konflikt mit dieser Vorschrift geraten, da sie seinen Handlungsspielraum nicht einschränke, sondern erweitere. Dieses Ergebnis werde auch durch das Primärrecht gestützt, indem Art. 17 Abs. 1 AEUV den Kirchen eine umfassende Freistellung der Kirchen beinhalte.
Der Generalanwalt teilt diese Auffassung aus wenig nachvollziehbaren Gründen nicht: Die Richtlinie enthalte lediglich ein Neutralitätsgebot gegenüber religiösen Vereinigungen. Dies folge aus dem Wortlaut, der das Recht der Kirche, Loyalität einzufordern, ausdrücklich von der Einhaltung der Bestimmungen der Kirchen abhängig mache („sofern die Bestimmungen der Richtlinie eingehalten werden“). Zudem habe der EuGH kürzlich bereits in der Rechtssache Egenberger (C-414/16) klargestellt, dass Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 2 RL nicht zur Konsequenz haben könne, die Einhaltung der Kriterien einer Kontrolle durch staatliche Gerichte zu entziehen. Daneben sehe zwar das Primärrecht in Art. 17 Abs. 1 AEUV ein Neutralitätsgebot vor. Dieses begründe aber gerade nicht eine völlige Freistellung kirchlicher Angelegenheiten von der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht.
Die erst in einem zweiten Schritt (aus Sicht der Bundesregierung nur noch hilfsweise) zu beantwortende Frage, ob eine Abstufung der Loyalitätsobliegenheit zulässig ist und eine Diskriminierung ausscheidet, hängt davon ab, ob man subjektiv an die Konfession anknüpft (so die Bundesregierung) oder objektiv die berufliche Tätigkeit für maßgeblich erachtet (so der Generalanwalt).
Nach der Argumentation der Bundesregierung seien katholische, evangelische, konfessionslose oder andersgläubige Arbeitnehmer keine vergleichbaren Normadressaten. Eine Diskriminierung scheide aus, weil unter subjektivem Blickwinkel zulässig an die Konfession angeknüpft werde. Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL zwinge hier zur alleinigen Einstellung von Katholiken. Wäre eine Abstufung der Loyalitätsanforderungen entsprechend der Glaubenszugehörigkeit verboten, dann müssten in der Konsequenz an sämtliche Beschäftigte die höchsten Loyalitätsanforderungen gestellt werden. Ein solches Ergebnis könne aber nicht richtig sein. Ungeachtet des schon fehlenden Anwendungsbereiches auf müsse also jedenfalls eine Diskriminierung verneint werden.
Der Generalanwalt bejaht dagegen eine Diskriminierung, da unter objektivem Blickwinkel die Anknüpfung an berufliche Tätigkeit keine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung darstelle. Aus Sicht der Patienten zähle nicht das Eheverständnis des Arztes, sondern allein dessen medizinische Fähigkeiten und seine Managementqualitäten. Im Hinblick auf die erste Vorlagefrage kommt der Generalanwalt also zu dem Ergebnis, dass den staatlichen Gerichten uneingeschränkte Prüfungskompetenz zustehe und vorliegend eine verbotene Diskriminierung im Hinblick auf die Religion gegeben sei.
Daher befasst sich der Generalanwalt auch mit der zweiten Vorlagefrage: Muss § 9 Abs. 2 AGG unangewendet bleiben? Er schlägt eine Ergänzung um die weitere Frage vor, ob § 9 Abs. 1 AGG unangewendet gelassen werden muss, wenn die vorgeschriebene Anforderung nicht mit Art. 4 Abs. 2 Unterabs. 1 RL vereinbar ist. Dazu nimmt er Bezug auf die Rechtssache „Egenberger“ (C-414/16) (hierzu bereits EKD-Europa-Informationen Nr. 157). Dort hätten sich die Luxemburger Richter eindeutig dazu bekannt, dass Rechtsschutz nach Art. 21 und 47 Grundrechte-Charta (GRC) zu gewähren sei. Die Grundsätze aus den Rechtssachen zur Altersdiskriminierung (insbesondere „Mangold“ (C-144/04) und „Kücükdeveci“ (C-555/07)) seien ungeachtet fehlender zeitlicher Anwendbarkeit – der Sachverhalt betrifft einen Zeitpunkt, zu welchem die EU-GRC noch keine Anwendung fand − hier übertragbar. Der Generalanwalt sieht keinen Anlass dafür, die Kriterien Religion und Alter unterschiedlich zu behandeln. Ein aus dem Verbot der Alters-Diskriminierung herzuleitende allgemeiner Rechtsgrundsatz zwinge nationale Gerichte auch in Streitfällen um die Religion, entgegenstehendes nationales Recht (hier § 9 AGG) unangewendet zu lassen. Damit geht der Generalanwalt von einer unmittelbaren Drittwirkung von Art. 21 und 47 der GRC zwischen Privaten aus und erklärt diese kurzerhand zu einem allgemeinen Grundsatz des Unionsrechts. Das ist dogmatisch mehr als fragwürdig.
Kritiker bemängeln zudem, die Schlussanträge des belgischen Generalanwalts ließen ein hinreichendes Verständnis des deutschen Staatskirchenrechts vermissen. Die Grundentscheidung, das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen aus 137 Abs. 3 WRV zum vollgültigen Verfassungsrecht zu erklären, habe in den Schlussanträgen keine hinreichende Berücksichtigung gefunden. Auch verkenne die vom Generalanwalt gewählte objektive Sichtweise, die an die berufliche Tätigkeit anknüpft, dass es denkbar sei, dass Patienten die Klinik gerade deshalb aufsuchten, weil sie vom leitenden Personal glaubenskonformes Verhalten erwarten. Auch sei eine Auseinandersetzung mit der Reichweite von Art. 17 Abs. 1 AEUV unterblieben. Weshalb dessen Schutzgehalt nur den institutionellen Status der Kirchen erfasse und hinter dem umfassenderen Regime der Weimarer Reichsverfassung zurückbleibe, hätte zumindest der Erörterung bedurft. Das davon ausgehende Signal, die Prüfung der Verkündungsnähe und von Loyalitätspflichten in die Hände staatlicher Gerichte zu legen, bedeute eine Zäsur für das kirchliche Arbeitsrecht.
Es dürfte spannend werden, zu beobachten, wie sich das Verhältnis zwischen EuGH und Bundesverfassungsgericht entwickelt, insbesondere soweit die Luxemburger Richter der Linie des Generalanwaltes folgen und damit in einen Konflikt mit dem Staatskirchenrecht nach Maßgabe des Grundgesetzes und der Weimarer Reichverfassung treten. Es ist nicht auszuschließen, dass es dann erneut zum Machtkampf zwischen Karlsruhe und Luxemburg im Ringen um Rechtshoheit und Verfassungsidentität kommen könnte. Am 11. September 2018 wissen wir mehr, dann wir der Richterspruch in Luxemburg gefällt.
Die Schlussanträge des Gene-ralanwalts finden Sie hier:
http://bit.ly/ekd-NL-158_SuB-1