Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel Europa -Informationen Nr. 156
Solidarität in der Flüchtlingsfrage – Ups, he did it again
Julia Maria Eichler
Er hat es wieder getan: Donald Tusk, Präsident des Europäischen Rates, hat erneut die verpflichtende Quotenverteilung von Asylbewerbern als gescheitert erklärt. Diesmal in dem Entwurf einer Note an die Mitgliedstaaten, die die Diskussion der europäischen Staats- und Regierungschefs am 14./15. Dezember 2017 zur Migration vorbereiten sollte. Die verpflichtende Quote habe sich als höchst spaltend und ineffektiv erwiesen, so Tusk.
„Inakzeptabel“ und „anti-europäisch“ nannte Dimitris Avramopoulos, Kommissar für Migration, Inneres und Bürgerschaft, Tusks Schreiben. Es ignoriere die gemeinsame, europäische Arbeit der letzten Jahre. Die Rolle des EU-Ratspräsidenten sei es, die europäische Einheit und die europäischen Prinzipien zu schützen. Mit seiner Note unterminiere Tusk eine der Hauptsäulen des Europäischen Projektes – das Prinzip der Solidarität, machte der griechische Kommissar seinem Ärger Luft. Europa könne ohne Solidarität nicht existieren. Es gebe keine Rosinenpickerei bei Solidarität oder Solidarität à la carte. Europa habe die rechtliche und moralische Pflicht, Flüchtlinge zu schützen.
Doch nicht nur in der Kommission hatte Tusk Irritationen hervorgerufen; auch unter den Mitgliedstaaten soll er nur von Polen, Ungarn und Tschechien Unterstützung erhalten haben. Die Niederlande wunderten sich, wie die EU das Rechtsstaatsprinzip aufrechterhalten wolle, wenn der EU-Ratspräsident durch den EuGH bestätigte Mehrheitsentscheidungen des Rates nicht respektiere (siehe vorhergender Artikel). Man kann sich vorstellen, was Italien und Griechenland als die Begünstigten der Umsiedlung und Länder wie Deutschland, Schweden und Finnland als Aufnahmestaaten von diesen Aussagen halten.
Cecilia Wikström (ALDE), liberale Abgeordnete aus Schweden im Europäischen Parlament und Berichterstatterin für die Dublin-IV-Verordnung, fragte sich laut, ob Donald Tusk im Hinblick auf die Dublin-Reform als Präsident der Visegard–Staaten oder als Präsident des Europäischen Rates agiere.
Tusk ist Wiederholungstäter. Zuletzt hatte er im Oktober 2017 die Zukunft der automatischen Umverteilung bezweifelt, obwohl der Kommissionsvorschlag zur Dublin-IV-Verordnung samt Notfallumverteilung nach wie vor auf dem Tisch beider europäischer Gesetzgeber liegt (siehe EKD Europa-Informationen Nr. 154).
Der Ausschuss für Bürgerliche Freiheit, Justiz und Inneres (LIBE) des Europäischen Parlaments gab unmittelbar am 19. Oktober 2017 seine Antwort und stimmte mit seiner Position für eine deutliche Neuordnung der Dublin-Verordnung samt automatischer Umverteilung.
Das Europäische Parlament geht dabei noch einen Schritt weiter als die Kommission und möchte zukünftig Asylbewerber unter allen EU-Ländern schnell und automatisch den neuen Vorschriften entsprechend umsiedeln. Das Land, in dem ein Asylbewerber erstmals eintrifft, soll nicht mehr automatisch für die Bearbeitung seines Asylantrags zuständig sein. Das Kriterium der illegalen Einreise entfällt somit komplett.
Verbindungen mit einem bestimmten Mitgliedstaat wie dortige Familienangehörige, frühere legale Aufenthalte in oder Bildungsabschlüsse aus einem Mitgliedstaat sollen die Zuständigkeit des Mitgliedstaats begründen. Liegen keinerlei solche Verbindungen vor, wird der Antragssteller automatisch dem Mitgliedstaat zugewiesen, der das verhältnismäßig geringste Asylbewerberaufkommen aufweist. Zudem soll ein vereinfachtes Verfahren die Familienzusammenführung beschleunigen. Beim Vorhandensein von entfernteren Verwandten, kulturellen oder sozialen Bezügen oder Sprachkenntnissen können Mitgliedstaaten die Zuständigkeit freiwillig übernehmen.
Das Parlament hat sich zudem gegen Sanktionen für Asylbewerber bei Weiterwanderung in einen anderen Mitgliedstaat ausgesprochen. So soll die Prüfung eines Asylantrags im beschleunigten Verfahren nicht länger als Sanktion für Asylbewerber angewandt werden, die nicht im ersten Mitgliedstaat einen Asylantrag stellen. Auch die Beschränkung der Aufnahmebedingungen auf den zuständigen Mitgliedstaat entfällt in der Parlamentsposition.
Stattdessen setzt das Parlament auf positive Anreize. So soll der Asylbewerber, der sich im Mitgliedsstaat der ersten Einreise erfassen lässt und keinerlei zuständigkeitsbegründende Bindungen zu einem bestimmten Mitgliedstaat hat, die Wahl zwischen den vier Mitgliedstaaten mit den geringsten Asylbewerberzahlen haben.
Um möglichen auf der Flucht entstandenen Beziehungen gerecht zu werden, soll es Asylbewerbern zudem ermöglicht werden, sich als Gruppe von bis zu 30 Personen registrieren zu lassen. Beide Maßnahmen sollen auch die Gefahr der Sekundärmigration verringern.
Die Kosten, die von der Erfassung des Asylantrages bis zur Überstellung/Übernahme der Zuständigkeit entstehen, sollen aus dem EU-Haushalt finanziert werden. Zudem soll die neue Europäische Asylagentur, über die derzeit noch verhandelt wird, die Zuständigkeit für die Dublin-Überstellungen übernehmen.
Das Parlament schlägt auch eine dreijährige Übergangszeit vor, während der sich diejenigen Mitgliedstaaten, die bisher wenig Erfahrung bei der Aufnahme von Asylbewerbern haben, auf die neue Verantwortung einstellen können.
Um die Beteiligung aller Mitgliedstaaten zu gewährleisten, sieht das Parlament zwei zusätzliche Sanktionsmechanismen vor. Einerseits soll die Umsiedlung aus einem Mitgliedstaat mit EU-Außengrenze gestoppt werden, wenn diese Antragssteller nicht ordnungsgemäß erfassen. Andererseits sollen u.a. EU-Mittel zur Rückführung von abgelehnten Antragsstellern nicht verwendet werden dürfen, wenn sich der Mitgliedstaat der Aufnahme von Asylbewerbern verweigert.
Komplett entfallen ist das Vorverfahren, dass noch vor Zuständigkeitsbestimmung u.a. vorsah, systematisch zu prüfen, ob ein Asylbewerber aus einem sicheren Drittstaat oder ersten Asylstaat kommt und daher der Asylantrag als unzulässig abgelehnt werden könne. Auf Drängen der Europäischen Volkspartei soll allerdings, soweit keine zuständigkeitsbegründeten familiären Verbindungen vorliegen, geprüft werden, ob der Asylbewerber lediglich Umstände vorgetragen hat, die für die Prüfung des Anspruchs auf internationalen Schutz nicht von Belang gewesen sind. Ist die Gewährung von Schutz dementsprechend offensichtlich unwahrscheinlich, soll der Asylbewerber nicht umgesiedelt werden, sondern das Asylverfahren im Erstaufnahmestaat durchlaufen.
In der Position werden die Informationspflichten zugunsten des Asylbewerbers ebenso deutlich ausgebaut wie die Garantien für Minderjährige. Zudem wurden die von der Kommission vorgesehenen Beschränkungen von Rechtsmitteln zurückgenommen. Auch andere u.a. vom EKD-Büro erhobene Forderungen, wie der vollständige Erhalt des Selbsteintrittsrechts der Mitgliedstaaten konnten sich durchsetzen. Die u.a. von kirchlichen Organisationen geforderte Beibehaltung des automatischen Zuständigkeitsübergangs beim Fehlschlagen der Überstellung innerhalb einer bestimmten Frist, konnte im Parlament jedoch keine Mehrheit finden.
Die Mitgliedstaaten stehen nun unter Zugzwang. Denn im Rat sind die Beratungen über die Dublin-Verordnung seit Monaten durch den Streit um Solidarität blockiert.
Den neuesten Vorschlag macht die estnische Ratspräsidentschaft und legte zu der Frage nach Solidarität und Verantwortung Ende November 2017 ein informelles sog. „Non-Paper“ vor. Zuvor hatte die Ratspräsidentschaft hierzu Gespräche mit den Mitgliedstaaten geführt und dabei einzelne Aspekte, wie den Schwellenwert zur Auslösung der Umverteilung, eine Obergrenze für die Umverteilung und die Voraussetzungen für die Teilnahme an der Umverteilung, in den Fokus genommen. Die Esten betonen in ihrem Papier, dass der interne und der externe Kontext von Migration berücksichtigt werden müsse, um einen Massenzustrom von Drittstaatsangehörigen zu verhindern. Asylverfahren und Rückführungen müssten beide schnell und effektiv durchgeführt werden. Einigkeit scheint dabei zu bestehen, dass ein zukünftiges Dublin-System dreiphasig aufgebaut sein müsse:
Der Normalzustand ist danach davon gekennzeichnet, dass die Anzahl der Asylbewerber dem Anteil entspricht, für den ein Mitgliedstaat nach einem Verteilungsschlüssel zuständig ist oder darunter liegt. Wie von der Kommission vorgeschlagen, würde sich dieser Verteilungsschlüssel aus der Bevölkerungsanzahl und dem Bruttoinlandsprodukt ergeben. Die Anwendung des EU-Asyl-Aquis und die Migrationsströme würden in dieser Phase durch die europäischen Agenturen und die Europäische Kommission überwacht, um gegebenenfalls Defizite rechtzeitig festzustellen und das Entstehen von Krisen zu verhindern. Unterstützung könnte auf Anfrage der Mitgliedstaaten oder nach Unionsrecht gewährt werden.
Die zweite Phase wäre durch „herausfordernde Bedingungen“ gekennzeichnet. Diese Bedingungen seien erreicht, wenn ein Mitgliedstaat 90 % seiner Asylbewerber-Quote erreicht und gleichzeitig eine „De-minimis-Schwelle“ überschritten habe. Diese wäre u.a. dann erreicht, wenn die Zahl der aufgenommenen Asylbewerber 0,05% der Gesamtbevölkerung des betreffenden Mitgliedstaates übersteige. In dieser Situation sollten dann Unterstützungsmaßnahmen zur Entschärfung der Situation durch die Mitgliedstaaten getroffen werden.
Hierfür soll die Kommission eine Bewertung der Situation innerhalb von zwei Wochen vornehmen. Diese soll u.a. die Zusammensetzung der Ankunftsströme und Anerkennungsquote der betroffenen Nationalitäten enthalten, ebenso wie Maßnahmen, die der betroffene Mitgliedstaat vornehmen sollte und Solidaritätsmaßnahmen, die durch Ratsentscheidungen getroffen werden könnten. Maßnahmen wie zusätzliche Finanzmittel, technische Unterstützung oder freiwillige Umverteilung könnte die Kommission auch bereits vor einer Ratsentscheidung vorschlagen. Sollte sich die Situation trotz bereits getroffener Maßnahmen weiter zuspitzen, sollte der Rat über Maßnahmen (z.B. Neuansiedlung, Umsiedlung, Gelder, Experten) entschieden. Vor der Annahme hätten die Mitgliedstaaten drei Wochen, um für alle von der Kommission vorgeschlagene Maßnahmen freiwillig Zusagen zu geben. Die maximale Anzahl an Umsiedlungen innerhalb eines Zweijahreszeitraums wäre auf 200.000 Personen begrenzt.
Herrscht eine schwere Krise (3. Phase), in der das Asylsystem eines Mitgliedstaates, trotz bereits beschlossener Maßnahmen, extremen Druck ausgesetzt ist und die Umsiedlungsobergrenze erschöpft ist, sollte der Europäische Rat weitere notwendige Maßnahmen bestimmen. Zudem sollte die Kooperation mit Drittstaaten genutzt werden, um eine weitere Zuspitzung zu vermeiden.
Die estnische Präsidentschaft sucht damit die Zukunft des europäischen Asylsystems in der freiwilligen Solidarität einzelner Mitgliedstaaten und Drittstaatskooperation. Wie weit damit die beiden europäischen Gesetzgeber auseinander liegen, zeigt die Reaktion von Cecilia Wikström. Diese bezeichnete das Papier als eine Nullnummer und weit entfernt von einer für das Parlament akzeptablen Lösung.
Das Non-paper wird beim Europäischen Rat keine Rolle spielen. Dort will Tusk eine offene Diskussion zwischen den Staats- und Regierungschefs einläuten. Eine Einigung ist nicht zu erwarten. Es wurde bereits verlautbart, dass man sich bis Juni 2018 Zeit nehmen will, die strittigen Fragen rund um Solidarität und Verantwortung zu lösen.
Die Parlamentsposition zur Dublin-IV-Verordnung finden Sie hier: http://www.ekd.eu/156-AuM-SF-Link1
Den Notenentwurf von Donald Tusk finden Sie in Englisch hier: http://www.ekd.eu/156-AuM-SF-Link2