Europa - Informationen Nr. 159
Zukunft der EU: Der EuGH zeigt die Zähne: Eilbeschluss gegen Polen
Damian Patting (Juristischer Referent)
Paukenschlag aus Luxemburg: Polen muss seine umstrittenen Bestimmungen zur Richterabsetzung (EKD-Europa-Informationen Nr. 158) rückwirkend außer Kraft setzen, entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 19. Oktober 2018 in einem Eilbeschluss. Im Vorfeld der Anrufung des EuGH durch die Europäische Kommission gab man sich in der Polnischen Republik noch recht selbstbewusst und siegessicher: „Es ist vielleicht der geeignete Weg, diese Angelegenheit dem EuGH zu übergeben“, bemerkte noch im Sommer 2018 Polens Außenminister Jacek Czaputowicz. Zwar kann sich Polen auch nach der Eilentscheidung Kritik nicht verkneifen. Diese ist aber weniger inhaltlicher Natur. Staatschef Andrzej Duda mahnte vielmehr die äußeren Umstände an (die jedoch Wesensmerkmale einer Eilentscheidung sein dürften): Die Entscheidung sei von einer einzelnen Richterin zu einem Zeitpunkt getroffen worden, in welchem Polen seine Sicht der Dinge noch nicht habe vorbringen können.
Während sich also das Rechtsstaatsverfahren nach Art. 7 EUV in Bezug auf die umstrittenen Justizreformen wegen des Erfordernisses der (schwerlich erreichbaren) Einstimmigkeit im Europäischen Rat für die Feststellung einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung nach Art. 7 Abs. 2 EUV bislang als wirkungsschwach im Hinblick auf eine Disziplinierung Polens erwiesen hat, scheint die Kommission mit dem im August 2018 eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren nun endlich einen effektiveren Weg gefunden zu haben, Polen zur Achtung rechtsstaatlicher Verhältnisse zu bewegen.
Das Vertragsverletzungsverfahren hatte die Kommission bereits am 2. Juli 2018 eingeleitet. Klagegegenstand ist das Gesetz über den Obersten Gerichtshof vom 03. April 2018 zur Senkung des Ruhestandsalters, welches nach Ansicht der Kommission gegen das Unionsrecht (Art. 19 Abs. 1 UA 2 EUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union) verstößt (hierzu EKD-Europa-Informationen Nr. 158). Polen hatte die Vorwürfe im Spätsommer 2018 pauschal als substanzlos zurückgewiesen und den Beanstandungen der Kommission nicht abgeholfen.
Deshalb hat die Kommission am 2. Oktober 2018 gegen Polen bei dem EuGH – wie in Art. 258 Abs. 2 AEUV vorgesehen – eine Vertragsverletzungsklage eingereicht. Auch davon zeigte sich die polnische Republik jedoch unbeeindruckt. Ungeachtet des laufenden Klageverfahrens hatte Polen in Anwendung der umstrittenen Bestimmungen bereits damit begonnen, Richter abzusetzen und neue oberste Richter zu berufen.
Angesichts dieser Entwicklungen erachtete es die Kommission als notwendig, das Klageverfahren durch einen Eilbeschluss in Form einer einstweiligen Anordnung zu flankieren, um zu verhindern, dass durch die von polnischen Behörden gar beschleunigten Richterabsetzungen und Nachbesetzungen vollendete Tatsachen geschaffen werden.
Das Vorgehen im Wege einer einstweiligen Anordnung ist in Art. 279 AEUV vorgesehen und setzt eine dreischrittige Prüfung voraus: Erstens muss die Notwendigkeit eines solchen Beschlusses in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht glaubhaft gemacht werden. Das Vorbringen der Kommission im Hinblick auf die Notwendigkeit der Anordnung sei nicht offensichtlich unzulässig gewesen, was für dieses herabgesetzte Beweismaß genügt. Zweitens muss Dringlichkeit, also die tatsächliche Gefahr eines schweren und irreparablen Schadens für die Interessen der Union vorliegen, die eine vorläufige Entscheidung im Vorfeld der endgültigen Hauptsache-Entscheidung erforderlich macht. Hier seien die umstrittenen polnischen Bestimmungen bereits zur Anwendung gekommen und hätten dazu geführt, dass zahlreiche Richter in den Ruhestand versetzt worden seien, so der EuGH. Die zum Wesensgehalt fairer und rechtsstaatlicher Verfahren gehörende richterliche Unabhängigkeit, die hier durch die Anwendung der polnischen Regelungen beeinträchtigt sei, betreffe Kerninteressen der Union, vgl. Art. 2 EUV. Die Entscheidungen des Obersten polnischen Gerichtshofes ergingen zudem in letzter Instanz und mit Rechtskraft zumindest bis zum Erlass der endgültigen Entscheidung. Damit liege auch eine tatsächliche Gefahr vor. Eine einstweilige Anordnung setzt drittens voraus, dass eine Folgenabwägung im Wege einer Doppelhypothese zu dem Ergebnis der Notwendigkeit des Erlasses der Anordnung kommt. Hier kam die Richterin am EuGH zu dem Ergebnis: Hätte die Vertragsverletzungsklage bei erlassener Anordnung keinen Erfolg, so würde die Anwendung nationaler Bestimmungen lediglich aufgeschoben. Hätte aber die Vertragsverletzungsklage Erfolg, so würde bei Absehen von der Anordnung durch die sofortige Anwendung der nationalen Bestimmungen das Grundrecht auf Zugang zu unabhängigem Gericht in nicht wiedergutzumachender Weise beeinträchtigt.
Der rechtsnationalen Regierung in Warschau blieb also nach Maßgabe des Beschlusses nichts anderes übrig, als die Senkung des Ruhestandsalters auszusetzen, bereits pensionierte Richter wieder mit ihren ursprünglichen Aufgaben zu betrauen, keine neuen Juristen als Nachfolger zu benennen und über die Einhaltung dieser Vorgaben der EU-Kommission regelmäßig Bericht zu erstatten. Am 21. November 2018 legte die Regierungspartei „Recht und Ordnung“ (PiS) im Warschauer Parlament dann tatsächlich kleinlaut einen Gesetzesentwurf vor, der den rechtlichen Status zwangspensionierter Richter ändert und deren Dienst wieder erlaubt. Dem waren die polnischen Richter zuvorgekommen: Sie waren bereits unmittelbar nach dem EuGH-Beschluss vom 19. Oktober 2018 wieder zum Dienst erschienen.
Der EuGH hat mit seiner Entscheidung die Zähne gezeigt. Es ist zu hoffen, dass sich Polen mit dem Einlenken in letzter Sekunde nicht nur dem mit den Vorgaben aus Luxemburg verbundenen politischen Druck gebeugt hat, sondern dass das erfolgte Rückrudern auch auf die Einsicht zurückgeht, dass die Unabhängigkeit der Justiz einen Grundpfeiler des Rechtsstaats darstellt. Die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus.
Den Eilbeschluss des EuGH finden Sie hier: