Europa-Informationen, Ausgabe 153, Dezember 2016
Europäische Sonntagsallianz: Work-Life-Balance 4.0 in Zeiten der digitalen Revolution
Damian Patting / Madeleine Bammel (Praktikantin)
Am 15. November 2016 hat im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) die dritte Konferenz der Europäischen Sonntagsallianz (ESA) zu dem Thema "Work-Life-Balance 4.0 - Challenges in a time of digitalisation" stattgefunden. Bei der Konferenz, an welcher über hundert Vertreter aus Politik, Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbänden, Kirchen sowie der Zivilgesellschaft teilnahmen, wurde deutlich, welche spezifischen Herausforderungen die Digitalisierungsprozesse für den Sonntagsschutz und eine gesunde "Work-Life-Balance" bereithalten.
Nach Eröffnung der Konferenz durch Luca Jahier, Präsident der Gruppe III des EWSA (welche die gesellschaftlichen Interessengruppen jenseits von Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertritt z.B. Verbraucherschutzorganisationen), sowie durch die Parlamentsabgeordneten Evelyn Regner (S&D) und Thomas Mann (EVP) führte der EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft, Günther Oettinger, die Konferenzteilnehmer in die Thematik ein. Er wies auf die Irreversibilität der digitalen Evolution hin und forderte trotz der Chancen für Flexibilisierung der Arbeitszeiten ein Recht auf Unerreichbarkeit. Die Digitalisierung betreffe nicht nur die Industrie, sondern verändere auch die Gesellschaft. Der deutsche Begriff "Industrie 4.0" greife daher zu kurz. Es gehe auch um Buchhandel 4.0 oder Arbeit 4.0. Es müsse ein Recht geben, das Handy auszuschalten, aber auch eine Pflicht. Es bedürfe eines Rechts auf Feierabend. Der EU-Kommissar warnte vor den Gefahren einer zunehmenden digitaler Spaltung, die nicht nur zwischen verschiedenen Altersschichten und zwischen Nord- und Südeuropa bestünden, sondern insbesondere den ungleichen Zugang verschiedener Bevölkerungsgruppen - so etwa in Afrika und Europa - zu Informations- und Kommunikations-Technologien betreffen. Unabdingbar sei mit Blick auf diese Herausforderungen die Vermittlung digitaler Kompetenzen. Es müsse zudem überprüft werden, ob nationale Regelungen noch ausreichen oder ob die Digitalisierungsprozesse nicht vielmehr einen legislativen Rahmen für das Arbeitsrecht auf EU-Ebene benötigen. Schließlich richtete Kommissar Oettinger angesichts des Umstandes, dass etwa 80 bis 90 Prozent der Arbeitsplätze digitalisiert werden, den Appell an die Kirchen, sich an der Vermittlung von digitaler Grundkompetenz zu beteiligen und die Transformation auszugestalten.
Im ersten Panel widmeten sich die Podiumsteilnehmer sodann den Konsequenzen von Flexibilisierung der Arbeitszeiten durch die Digitalisierung.
Irene Mandl von "Eurofound ", der Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, erklärte, dass sich die Prozesse der Digitalisierung strukturell auf die Arbeitswelt auswirkten und ambivalente Folgen hätten: "Homeoffice"-Arbeit beinhalte Chancen für die Arbeitsmarktintegration, aber auch Risiken wie etwa soziale Isolation.
Philip von Eberhardt, Berater für digitale Transformation in Belgien, wies auf die Notwendigkeit hin, dass Unternehmen die Chancen der Digitalisierung und der damit einhergehenden Flexibilisierung wahrnehmen, da die bisherigen Wirtschaftsmodelle nicht zukunftsfähig seien.
Delphine Latawiec von der belgischen Gewerkschaft "Centrale nationale des employés", vertrat die Ansicht, dass Flexibilisierung in der Arbeitswelt nur für die privilegierten, insbesondere höher qualifizierten Arbeitnehmer eine Chance darstelle. Demgegenüber müsse im Hinblick auf schwach qualifizierte Arbeitskräfte den digitalen Transformationsprozessen in der Arbeitswelt mit wirkungsvollen Schutzmechanismen begegnet werden. Nicht jeder sei flexibel. Nicht jeder könne sich seinen Arbeitgeber aussuchen. Eine Verkäuferin könne weder ihre Arbeitszeit noch ihren Arbeitsplatz frei bestimmen. Jobs mit einem geringen Qualifikationsniveau seien aber immer auch eine Einstiegschance in den Arbeitsmarkt gewesen. Was machen wir, wenn diese wegfallen?
Baudouin Baudru, Mitglied im Kabinett von der Beschäftigungskommissarin Marianne Thyssen, versicherte, dass seine Institution einen politischen und rechtlichen Rahmen im Hinblick auf die besonderen Herausforderungen der Digitalisierung entwickele, der seine konkrete Ausgestaltung der "Europäischen Säule sozialer Rechte" (s. voranstehender Artikel) erhalten solle. Man müsse hier auch die unterschiedlichen Sektoren beachten, denn nicht jeder Sektor sei gleich stark durch die Digitalisierung betroffen. Neben Vorschlägen zur Ausgestaltung der "Säule sozialer Rechte" werde es im März 2017 auch konkrete Vorschläge zum Thema "Work-Life-Balance" geben.
Im zweiten Panel ging es um den Einfluss von Digitalisierung auf das Leben jenseits der Arbeit und die Notwendigkeit eines Rechts auf Unerreichbarkeit. Die Abgeordnete Evelyn Regner betonte die Bedeutung von Pausen für Produktivität und Kreativität von Unternehmen.
Dr. Bruno Feillet, Bischof von Reims, begegnet den Digitalisierungsentwicklungen mit Ambivalenz: auch wenn er selbst die Vorzüge der Technik bei der Arbeit in der Kirche - etwa durch den Einsatz von Tablets - schätze und Chancen für Kommunikation erkenne, so sehe er doch die Gefahr einer Vernachlässigung unmittelbarer sozialer Interaktion. Zwar würde der digitale Fortschritt Menschen und Familien etwa durch Programme wie "Skype" zusammenbringen. Andererseits sei aber heute jeder mit seinem Handy beschäftigt und abgelenkt.
Hector Saz vermittelte seine Eindrücke von der digitalen Arbeitswelt. Als sogenannter "Crowd Worker" sei er in der Funktion eines freien, externen "Zuarbeiters" für verschiedenste online ausgeschriebene und zeitlich beschränkte Projekte tätig. Charakteristisch für diese Branche seien atypische Arbeitsverhältnisse mit Teilzeitbeschäftigung nicht ausgebildeter junger Arbeitnehmer sowie eine schlechte Bezahlung und ungewöhnliche Arbeitszeiten. So arbeite er regelmäßig 11 Tage am Stück ohne Ruhetag. Man bräuchte mehr als einen Job, um ausreichend zu verdienen. Das mache einen Ausgleich von Arbeit und Privatleben fast unmöglich.
Hannes Kreller von der Deutschen Sonntagsallianz wies darauf hin, dass die Zeitgewinne, die man durch die Digitalisierung erreicht habe, durch die Arbeitsverdichtung aufgezehrt würden. Jeder mache Yoga oder Fitness, um individuell aus dem Hamsterrad auszubrechen. Aber man bräuchte gemeinsame Auszeiten. Er plädierte für die Notwendigkeit des arbeitsfreien Sonntags zum Erhalt gemeinsamer Freizeit, die unabdingbar für soziale Partizipation sei. Denn auch ehrenamtliches Engagement sei Arbeit. Auch für die Demokratieentwicklung sei gemeinsame Zeit unabdingbar.
Ingo Dachwitz, Jugenddelegierter in der EKD-Synode und Redakteur beim Blog netzpolitik.org, vermisst bislang nicht nur einen eingehenden sozialen und politischen Diskurs zu den Fragen der Digitalisierung, sondern auch einen Rahmen für digitale Ausbildung jüngerer Generationen, um das Potential der Digitalisierung auszuschöpfen. Niemand mache sich heute Gedanken darüber, wie Digitalisierung unser Leben beeinflusse. Es bedürfe aber einer ethischen Reflexion darüber, welche Werte wir in der digitalen Technologie verkörpert haben möchten. Digitale Bildung sei dabei entscheidend. Denn "Smartphones" isolierten nicht per se und auch die Kirche würde nicht wegen der Digitalisierung leer bleiben. Feststellbar sei, dass sich Engagement verändere: es gebe neue Formen des "Aktivismus". Klassische Institutionen hätten aber Schwierigkeiten, Zugang zu diesen neuen Formen zu finden.
Anlässlich der Konferenz wurde zudem eine Resolution für eine verbesserte "Work-Life-Balance und synchronisierte Freizeit im Zeitalter der Digitalisierung" veröffentlicht, welche die Sensibilität in Politik und Zivilgesellschaft für die Chancen und Risiken der Digitalisierung erhöhen soll.
Der Abgeordnete Thomas Mann schloss die Konferenz mit dem Appell, dass die Technik zwar nicht aufzuhalten, jedoch einer Gestaltung zugänglich sei. Man müsse der totalen Verfügbarkeit Einhalt gebieten und der EU ein soziales Gesicht geben.
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