Europa-Informationen, Ausgabe 153, Dezember 2016
Free Interrail: Freie Fahrt für junge Menschen durch Europa. Eine gute Idee?
Doris Klingenhagen
Am 4. Oktober 2016 wurde im Europäischen Parlament eine eher ungewöhnliche Idee diskutiert, die von zwei Studierenden, Vincent-Immanuel Heer und Martin Speer, stammt: Nämlich die Idee, dass die EU-Kommission jedem Europäer zum 18. Geburtstag einen Brief schreiben und ein Interrail-Ticket schenken könnte, mit dem er oder sie einen Monat lang gratis Europa bereisen könnten. Der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei EVP und CSU-Mitglied, Manfred Weber, griff diese Idee auf und brachte sie ins EU-Parlament. Er warb persönlich für dieses Geschenk, das jungen Menschen ermöglichen könnte, "die Schönheit Europas kennenzulernen, den Nachbarn im anderen Land nicht als Nachbar zu erleben sondern als Freund, als Freundin zu erleben; schlicht und einfach zu spüren, was es bedeutet Europäer zu sein." Die Idee zündete auch bei anderen Abgeordneten über Länder- und Parteigrenzen hinweg. Die Co-Vorsitzende der Grünen-Fraktion, Rebecca Harms, hob hervor: "Ich glaube, dass das eine gute Idee ist. Man kann mit relativ wenig Aufwand viel europäisches Zusammenwachsen und Verständigung erreichen." Auch die EU-Verkehrskommissarin Violetta Bulc bezeichnete den Vorschlag als "exzellente Idee" und versprach die Prüfung der Umsetzung. Mittlerweile ist die Idee bereits Gegenstand der EU-Haushaltsberatungen für 2017 geworden und eine Experimentierphase ab März 2017 geplant. Mit einem Interrail-Ticket können junge Europäer unter 25 Jahren durch Europa reisen. Sie entscheiden selbst über die Reiseroute und können das europäische Schienennetz für einen gegebenen Zeitraum so oft nutzen wie sie möchten. Ein Ticket kostet für einen Monatspass bis zu 473 Euro. Rechnet man das Free Interrailticket für alle 18-Jährigen Europäer um, würde dies den EU-Haushalt zwischen 1,9 und 2.1 Milliarden pro Jahr kosten. Aus Untersuchungen der Internationalen Jugendarbeit ergibt sich, dass der grenzüberschreitende Austausch junger Menschen einen Zuwachs an Fremdsprachenkenntnissen, kulturellen, aber auch persönlichen Kompetenzen für die Teilnehmer mit sich bringt. Außerdem trägt er zum Abbau von Vorurteilen gegen andere Länder und Kulturen bei. Internationale Begegnungen zeichnen sich durch ein pädagogisches Begleitprogramm, durch Begegnungsstätten und Netzwerke zwischen Europäern aus, die sich bei der Erkundung des Kontinents gegenseitig unterstützen. Diese Art von Begegnung und Austausch wird z.B. durch das Programm "Erasmus+JUGEND IN AKTION" gefördert. So gibt es aus dem Kreis der jugendpolitischen Akteure, die diese Maßnahmen anbieten, wie auch von Vertretern der Evangelischen Jugend deutliche Kritik und viele Fragezeichen an dieses neue Mobilitätsangebot für junge Menschen. Zu begrüßen ist, dass europäische Jugendpolitik auf originelle Weise erneut auf die Agenda der politischen Entscheider kommt. Aber so leicht sind die Probleme der jungen Menschen nicht zu lösen. Denn aus über 50 Jahren Erfahrung bei Austauschprojekten ist bekannt, dass der bloße Kontakt mit Menschen einer anderen Kultur oder eine Auslandsreise nicht notwendig zu Verständigung, Respekt und gegenseitigem Verständnis führt. Im Gegenteil: Ohne gut geschulte Begleitung findet häufig eine Verstärkung bereits vorhandener Vorurteile statt. Auch die Vorstellung, durch ein kostenloses Bahnticket die Lösung für Ungerechtigkeiten im Bildungssystem ausgleichen zu können, ist unrealisitsch. Die Hürden des "durch Europa Reisens" sind größer als man denkt. Ein paar Wochen Zeit haben viele Jugendliche, die sich zwischen Schule und Beruf, in der Ausbildung oder in SGB-gestützten Maßnahmen befinden, oft gar nicht, ganz zu schweigen von Finanzmitteln für Unterkunft und Verpflegung. Auch die Neugier zählt zu einem kulturellen Kapital, das viele Jugendliche nicht besitzen, welches sie allerdings in pädagogisch begleiteten Maßnahmen lernen können. Schwierig wird es für die Jugendorganisationen dann, wenn die Grenzen zwischen Tourismus und Jugendaustausch verschwimmen und das Bildungs- und Jugendaustauschprogramm "Erasmus+" für die Kosten herangezogen bzw. bei anderen jugendbezogenen Förderprogrammen gespart wird. Viele Vertreter sehen die Milliarden deutlich besser in "Erasmus+" eingesetzt. Damit könnten Teilnehmende unterstützt werden, die sich Teilnahmegebühren nicht leisten können oder für eine bessere Vor- und Nachbereitung bzw. Sprachförderung gesorgt werden. Auch die hohen Ablehnungsquoten im Programm könnten gesenkt werden und hochwertige Projekte und Maßnahmen zum Zuge kommen. Dafür steht auch die SPD-Europaabgeordente Petra Kammerevert, Expertin für "Erasmus+" und langjähriges Mitglied im Ausschuss für Bildung und Kultur. "1,5 Milliarden Euro jährlich sind mehr als die Hälfte des Jahresbudgets für Erasmus+ in 2017. Dort wäre es besser aufgehoben und dringender benötigt. Ich bin nicht bereit Initiativen zu unterstützen, weil sie sexy klingen und damit denjenigen einen Schlag ins Gesicht zu verpassen, die sich seit langem, größtenteils ehrenamtlich, um die Mobilität junger Menschen bemühen und dabei um jeden Cent ein endloses Ringen veranstalten müssen."
Weitere Diskussionsbeiträge unter: http://ekd.be/Free_Interrail