Europa-Informationen, Ausgabe 153, Dezember 2016
"Triple A" oder Mogelpackung? - Kirchen und Wohlfahrtsverbände nehmen Stellung zur Idee einer europäischen Säule sozialer Rechte
OKR'in Katrin Hatzinger
Am 17. Oktober 2016 haben das Katholische Büro in Berlin, die EKD-Vertretung Brüssel sowie die Brüsseler Büros von Caritas und Diakonie Deutschland ihre gemeinsame Stellungnahme zur Konsultation der Europäische Kommission über eine "europäische Säule sozialer Rechte" abgegeben (EKD-Europa-Informationen Nr. 151). Mit der Säule soll "eine Reihe wesentlicher Grundsätze zur Unterstützung gut funktionierender und fairer Arbeitsmärkte und Wohlfahrtssysteme" festgelegt werden. Die fertige Säule soll als Bezugsrahmen für "das Leistungsscreening der teilnehmenden Mitgliedstaaten im Beschäftigungs- und Sozialbereich fungieren, sie soll Reformen auf nationaler Ebene vorantreiben und insbesondere als Kompass für eine erneute Konvergenz innerhalb des Euro-Raums dienen." Es geht letztlich darum, gemäß dem Leitbild der sozialen Marktwirtschaft, die soziale Dimension der EU sichtbarer zu machen. Nach Abschluss des Konsultationsverfahrens (Fristende ist der 31. Dezember 2016) will die Europäische Kommission im März 2017 einen "endgültigen Kommissionsvorschlag" für die Säule unterbreiten.
Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte die Säule in seiner Rede zur Lage der Union im September 2015 angekündigt und das Vorhaben ins Arbeitsprogramm 2016 aufgenommen. Zum sog. "social pillar" sollten nach Meinung der Kommission z.B. der Anspruch auf einen Mindestlohn, die Arbeitnehmervertretung, die Festlegung von Rechten der Arbeitnehmer in der Probezeit, der Kündigungsschutz, der Anspruch auf Gleichbehandlung, die Arbeitszeitregelung oder der Anspruch auf lebenslanges Lernen zählen. In dem online-Fragebogen werden Einschätzungen zum bisherigen EU-Acquis im Sozialbereich, Fragen zur Zukunft der Arbeit und der Sozialsysteme sowie die Meinungen zu den Vorstellungen der EU-Kommission abgefragt.
In guter Tradition haben sich die Kirchen und ihre Wohlfahrtsverbände gemeinsam an der Konsultation beteiligt. Das Ziel der Europäischen Kommission, mit der "europäischen Säule sozialer Rechte" eine soziale Aufwärtskonvergenz im Sinne des verbesserten wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts in der EU zu erreichen, sei zu begrüßen. Dies könne gelingen, indem z.B. das Mindesteinkommen im Sinne einer Grund- bzw. Existenzsicherung gestärkt und der Ausbau der Sozialschutzsysteme in der EU gefördert werden. Regionale und kommunalen Akteure sowie die Akteure der Zivilgesellschaft, wie z.B. die Freie Wohlfahrtspflege, und die Kirchen sollten im Rahmen des Prozesses der Aufwärtskonvergenz umfassend eingebunden werden.
Besondere Herausforderungen im Bereich Beschäftigung und Soziales werden nach Auffassung der Unterzeichner künftig neben dem globalen Wettbewerb und der Integration von Migrantinnen und Migranten in den Arbeitsmarkt, die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt darstellen. Daneben blieben die Bekämpfung von Armut in all ihren Facetten sowie gute und gerechte Arbeitsbedingungen eine dauernde Herausforderung in der EU. Die Armutsbekämpfungsziele der Strategie Europa 2020 für nachhaltigen, intelligenten und integrativen Wachstum seien bislang nicht erreicht worden. So sei beispielsweise 2014 ein Viertel der EU-Bevölkerung (24,4%) von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht gewesen. Die EU-Jugendarbeitslosigkeit und die Bedingungen des Einstiegs in die Arbeitswelt blieben trotz der Jugendgarantie für junge Menschen eines der größten Probleme. Schließlich müssten auch die nationalen Sozialschutzsysteme EU-weit ausgebaut und gestärkt werden. Dazu gehöre, die Finanzierung von Sozialschutz als Investition anzuerkennen und die Einführung von Mindestlöhnen zu befördern. Solidarische und gemeinnützig organisierte Rechtsformen sollten im sozialen Sektor besonders gefördert werden.
Dabei sei es allerdings wichtig im Blick zu behalten, dass die EU über eine Vielzahl unterschiedlicher Sozialmodelle verfüge und die Handlungsmöglichkeiten der Mitgliedstaaten im sozialpolitischen Bereich unterschiedlich ausgestaltet seien. Deshalb wäre eine umfassende Vereinheitlichung von Sozialstandards auf EU-Ebene nicht zielführend. Stattdessen sollten bei der Gestaltung der Politiken der EU verstärkt sozialpolitische Zielsetzungen berücksichtigt und sozialpolitische Ziele und (Mindest-) Standards formuliert werden, die von der EU und den Mitgliedstaaten im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen verfolgt werden.
Deshalb sprechen sich die Kirchen und die Wohlfahrtsverbände in ihrer Stellungnahme dafür aus, die sozialen Indikatoren der Europa-2020-Strategie in das Europäische Semester einzubeziehen, um die Mitgliedstaaten anzuhalten, ihre sozialpolitische Verantwortung und Pflicht zur Armutsbekämpfung wahrzunehmen. Dabei sollten diese die gleiche Relevanz haben wie die wirtschaftspolitischen Vorgaben. Darüber hinaus komme es darauf an, dass die bereits geltenden europäischen Standards auch umgesetzt werden. Die EU-Kommission sei daher gefordert, ihrer Rolle als Hüterin der Verträge nachzukommen und die Um- und Durchsetzung stärker als bisher zu überwachen.
Es wäre zu begrüßen, wenn die europäische Säule sozialer Rechte zu einer Selbstvergewisserung führt, wo das "soziale Europa" steht. Gleichzeitig ist zu prüfen, in welchen Bereichen eine Modernisierung der Vorschriften angemessen wäre und wie unter Berücksichtigung nationaler Kompetenzen und bestehender Strukturen Regelungslücken geschlossen werden können. Die europäische Säule sozialer Rechte normiert dabei keine neuen Rechte, sondern leistet einen Beitrag zur Umsetzung der bestehenden.
Angesichts der in den letzten Jahren zunehmenden Jugendarbeitslosigkeit und steigenden Zahl von in Armut lebender oder von Armut bedrohter Menschen könnte diese Initiative für soziale Rechte einen Beitrag zur Annäherung und Koordinierung der jeweiligen Sozialpolitiken und der sozialen Rechte in den Mitgliedstaaten leisten. Eine stärkere sozialpolitische Prioritätensetzung und gemeinsame europäische Grundsätze für Sozialleistungssysteme bieten dem Einzelnen eine grundlegende Versorgung und können dazu beitragen, dass Akzeptanz für die Europäische Union zurückgewonnen wird.